Monte Testaccio: Roms größte Müllhalde
Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, wohl aber auf sieben Hügeln. Ob Kapitol, Palatin oder Aventin – auf den Erhebungen standen Tempel, Häuser sowie Kaiserpaläste, und auf ihnen wuchs aus einer bescheidenen Siedlung die Hauptstadt eines Weltreichs. Streng genommen hat Rom jedoch noch einen achten Hügel: den Monte Testaccio. Er liegt zwischen dem Aventin und dem Tiberufer. Auf dieser Erhebung errichteten die Römer keine Bauten; von Bedeutung ist vielmehr, was in seinem Inneren steckt: Der fast 50 Meter hohe Hügel besteht aus Abermillionen Amphorenscherben. Es war die größte Müllhalde des antiken Rom.
Monte Testaccio – Scherbenberg – lautet der moderne Name, der vom lateinischen »testa« (Tonscherbe) abgeleitet ist. Die unzähligen Keramikfragmente stammen nahezu ausschließlich von Amphoren, also hohen Tongefäßen mit zwei Henkeln. In der Antike legte man üppig verzierte Amphoren als Beigabe ins Grab oder sie wurden, mit kostbarem Öl gefüllt, den Siegern sportlicher Wettkämpfe überreicht. Unbemalt und schmucklos dienten sie jedoch als wichtigster Transportbehälter in der antiken Welt – für Massengüter wie Getreide, Wein, Olivenöl, Früchte und Würzsoßen.
Meist waren Amphoren Einwegverpackungen. Leergut zurückzuschicken, lohnte sich schlicht nicht. Die Menschen konnten Getreide- und Weinamphoren zwar als Vorratsgefäß wiederverwenden, aber Ölamphoren ließen sich nach dem Gebrauch nicht vollständig reinigen. Das Olivenöl blieb an der Innenwand haften, sickerte in den Ton und verdarb. Unbrauchbar gewordene Amphoren zerschlug und entsorgte man. Die Folge: In Rom wuchs im Lauf von drei Jahrhunderten ein Scherbenhügel in die Höhe.
Auf der Suche nach Kritzeleien
Im Jahr 1872 kam der Epigrafiker Heinrich Dressel (1845–1920) nach Rom, um für ein Sammelwerk lateinischer Inschriften, das »Corpus Inscriptionum Latinarum«, nach Kritzeleien auf Gegenständen des täglichen Gebrauchs zu suchen. Dabei stieß er auf die Scherben des Monte Testaccio. Zunächst sammelte Dressel Fragmente von der Oberfläche, dann ließ er graben. Auf vielen Amphoren fand er längliche Inschriftenstempel oder mehrzeilige Aufschriften aus schwarzer Tinte, so genannte »tituli picti«.
Dressel erstellte Typentafeln mit den Stempeln und fasste die Aufschriften in langen Listen zusammen, entzifferte sie und versuchte die Bedeutung der Wortfetzen zu erschließen. Er erkannte, dass das Leergewicht einer Amphore, die Menge des transportierten Olivenöls und der Eigentümer des Öls notiert waren. Die Inschriften waren im Grunde antike Frachtbriefe. Und da sie auch den amtierenden Konsul nannten, konnte Dressel das genaue Jahr der Nutzung erschließen: Er schlussfolgerte, dass der Hügel vom 1. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. aufgeschüttet worden war.
Dem Epigrafiker gelang es, die bekannten Amphoren ihrer Form nach zu ordnen und zu zeigen, wie die Töpfer sie im Lauf der Zeit gestalteten. Viele Amphorentypen tragen seitdem seinen Namen. So auch der Typ »Dressel 20«, eine 70 bis 80 Zentimeter hohe, bauchige Amphora. Sie kann ungefähr 70 Liter Öl fassen und wiegt selbst zirka 30 Kilogramm. Die allermeisten Funde vom Monte Testaccio sind Tonbehälter jenes Typs.
Heinrich Dressel konnte nachweisen, dass dieser Gefäßtyp und damit auch das darin transportierte Öl aus der römischen Provinz Baetica kamen, dem heutigen Andalusien. Als der Gelehrte 1899 die Stempel und Aufschriften publizierte, machte er aus der Müllhalde ein historisches Archiv. Seine langjährigen Forschungen zeigten, wie aufschlussreich die Tonbehälter für die Wirtschaftsgeschichte des Römischen Reichs sein konnten. Dennoch geriet der Hügel nach Dressel wieder in Vergessenheit.
400 bis 500 Tonnen Fracht pro Schiff
Wie aber kam es dazu, dass an dieser Stelle im Tiberbogen ein Scherbenberg entstand? Grund war die Wirtschaftsweise Roms. Die Großstadt konnte die Versorgung ihrer Einwohner nicht aus eigener Landwirtschaft sicherstellen. Schon zur Zeit der Republik war Rom daher von der Einfuhr von Nahrungsmitteln abhängig, der so genannten »annona« (Jahresertrag). Den dafür zuständigen Beamten oblag es, Getreide, Wein und Olivenöl zu beschaffen. Das Öl war dabei nicht nur als Lebensmittel wichtig, sondern auch als Brennstoff für Lampen, als Heilmittel und als Bestandteil in kosmetischen Stoffen. Die Lieferungen galten den Einwohnern Roms (»annona civica«) und der Armee (»annona militaris«). Dass die »annona« reibungslos lief, war eine politische Angelegenheit ersten Ranges. Sicherte doch das später auch kostenlose Verteilen der Lebensmittel den sozialen Frieden in der Stadt und die Loyalität der Legionen.
Der überwiegende Teil des Fernhandels von den Provinzen in die Hauptstadt erfolgte übers Mittelmeer. Schiffstransporte waren um ein Mehrfaches billiger als jene zu Land. Und: Schiffe konnten große und schwere Warenmengen rascher bewegen. Wie viele Transportamphoren im Bauch der Lastkähne verstaut werden konnten, bezeugen einerseits große Fundmengen in antiken Schiffswracks und andererseits schriftliche Quellen. Denn die Zahl der Amphoren an Bord war namensgebend für den Schiffstyp: »Myriophoros« – er trägt buchstäblich Myriaden – bezeichnete Schiffe mit einer Ladung von zirka 10 000 ineinander- und übereinandergestapelten Amphoren, eine Fracht von etwa 400 bis 500 Tonnen, die für die Annona-Segler nicht ungewöhnlich gewesen sein dürfte.
Erst in den 1970er Jahren beschäftigten sich Forscherinnen und Forscher wieder mit den Arbeiten Dressels am Monte Testaccio. Gleichzeitig begannen Archäologen und Historiker, die Produktion von Olivenöl und Amphoren in Spanien zu untersuchen. Sie wollten wissen, welche Rolle beides in Handel und Wirtschaft im Römischen Reich gespielt hatte. Mit der Gründung des Centro para el Estudio de la Interdependencia Provincial en la Antigüedad Clásica (CEIPAC) 1989 an der Universität Barcelona in Zusammenarbeit mit der Universität La Sapienza in Rom konnten Fachleute um José Remesal Rodríguez ihre Forschungen in der römischen Provinz mit der am Monte Testaccio verbinden.
Baetica, ein Wirtschaftszentrum für Öl – und Amphoren
Antike Historiker wie Strabon oder Plinius der Ältere nennen in den Jahrhunderten um die Zeitenwende Baetica als Herkunftsgebiet von Olivenöl. Die Provinz erlebte seit Kaiser Augustus, der von 27 v. Chr. bis 14 n. Chr. regierte, einen großen wirtschaftlichen Aufschwung. In dem Gebiet zwischen den Städten Hispalis, dem heutigen Sevilla, Corduba (heute Córdoba) und Astigi – heute als Écija bekannt – haben Archäologen inzwischen rund 100 römerzeitliche Töpfereien entdeckt. Sie lagen am schiffbaren Fluss Baetis, dem heutigen Guadalquivir, und dessen Nebenfluss Singilis, dem Genil, an deren Ufern sich auch die für die Herstellung der Amphoren benötigten Tonlager befanden.
Seit der Zeit von Kaiser Augustus produzierten diese Töpfereien Ölamphoren vom Typ »Dressel 20«. Die archäologischen Untersuchungen des CEIPAC bestätigten zudem die antiken Schriften. Das fruchtbare Baetis-Tal war ein Herstellungszentrum für Olivenöl, das »oleum Baeticum«. Olivenhaine, Ölpressen und Töpfereien lagen dort dicht beieinander. Auf kleinen Flusskähnen beförderte man die gefüllten Amphoren zur Mündung in den Atlantik. Dort lud man sie auf seetüchtige Schiffe und schickte sie nach Italien – genauer gesagt nach Ostia Antica.
Die Stadt an der Tibermündung diente lange als Haupthafen Roms. Da der Ort jedoch zunehmend versandete, ließ Kaiser Claudius ab dem Jahr 42 n. Chr. weiter nördlich einen neuen Hafen anlegen. Bei Sturm bot das Hafenbecken allerdings wenig Schutz. 64 n. Chr. sanken dort 200 beladene Getreideschiffe. Kaiser Trajan ließ daher unweit davon ab 103 n. Chr. ein riesiges sechseckiges Hafenbecken bauen – dessen Umrisse sind heute noch als Lago di Traiano in der Landschaft sichtbar. Ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. kamen dort die Schiffe mit dem baetischen Öl an, das auf Lastkähne umgeladen und flussaufwärts in die Stadt gebracht wurde. Unterhalb des Aventin neben der heutigen Ponte Sublício war Endstation.
Im dortigen Flusshafen entlud man die Boote und lagerte die Waren in großen Speichergebäuden. Diese zweigeschossigen »horrea« standen dicht an dicht in der Ebene zwischen Tiber und Aventin. Übrig geblieben sind davon nur wenige Ruinen, etwa Bogenelemente der Porticus Aemilia, einer einst 490 auf 60 Meter großen Lagerhalle. Doch die römerzeitliche Bebauung im heutigen Stadtteil Testaccio ist bekannt, weil sie auf mehreren Fragmenten der »Forma Urbis Romae« erhalten ist. Auf diesem großflächigen Stadtplan aus Marmor, der im antiken Rom öffentlich ausgestellt war, sind die »horrea« als aneinandergereihte Bauten abgebildet. Und zwischen ihnen ragte der Monte Testaccio auf.
Wie der Hügel in die Höhe wuchs
Um den inneren Aufbau des Hügels zu verstehen, führten die Experten vom CEIPAC gravimetrische Messungen durch. Ihre Daten zeigten, dass der Amphorenberg aus zwei übereinanderliegenden Abschnitten unterschiedlicher Dichte besteht. Der untere Teil im Inneren war weniger dicht gepackt, weil die Keramikbehälter wohl ungeordnet auf die Halde befördert wurden. Das Material darüber war hingegen viel stärker verdichtet. Die langjährigen Grabungen der Arbeitsgruppe zeigten zudem, dass der Monte Testaccio ähnlich wie eine Stufenpyramide in die Höhe wuchs. Man lud die Amphoren über Rampen ab, bis eine steil geböschte Plattform entstanden war, auf der nach innen gerückt dann eine weitere niedrige Stufe aufgeschichtet wurde. Später füllte man die Absätze auf.
Zunächst türmte man zwei große Plattformen in dieser Art auf, später entstanden noch zwei kleinere Aufschüttungen daneben. Ungefähr vom 1. bis 3. Jahrhundert n. Chr. landeten so Amphoren auf Roms Müllberg.
Mit Hilfe statistischer Verfahren und ihrer Datenbank, die ungefähr 43 000 Einträge umfasst, konnten die Wissenschaftler auch viel genauer, als es Dressel möglich war, die unzähligen Funde bearbeiten und auswerten. Analysen mit Hilfe der Röntgenfluoreszenz und des Rasterelektronenmikroskops bestätigten überdies, dass die Amphoren »Dressel 20« aus Andalusien und die Gefäße dieses Typs vom Monte Testaccio aus demselben Ton und mit derselben Technik hergestellt worden waren. Das Forschungsteam schätzt, dass rund 25 Millionen Amphoren in dem Hügel liegen.
Die statistische Auswertung ergab, dass rund 80 Prozent aller Amphoren zum Typ »Dressel 20« gehörten, aus der Baetica kamen und baetisches Öl transportierten. Zirka 15 Prozent stammten aus Nordafrika, viele waren einst gefüllt mit Öl aus dem heutigen Tunesien und Libyen. Die restlichen Gefäße, das ergaben die archäometrischen Untersuchungen, dienten zur Einfuhr von Wein aus Gallien und für die fischhaltige Würzsoße »garum« aus Spanien.
Viele Erkenntnisse Dressels zu den Stempeln und Aufschriften konnte die Forschungsgruppe des CEIPAC bestätigen, einige sogar präzisieren. Gesichert ist nun: Die Stempel nennen die Namen der Ölproduzenten und Besitzer der Olivenhaine. Bei ihnen handelt es sich um Männer aus der Bürgerschicht Baeticas oder sogar um einheimische Senatoren, die in Rom lebten. Die aufgemalten Inschriften hingegen bringen Remesal Rodríguez und sein Team mit den Namen von Händlern in Verbindung. Und zuletzt gibt es noch Kontrollvermerke, die beim Transport auf die Amphoren geschrieben wurden – stets in einem ähnlichen Wortlaut: »Geprüft, wie viel einer Ware, an welchem Ort, in welchem Büro, durch welchen Beamten, in welchem Jahr [verladen].«
Anhand der letzten Angabe konnten die Fachleute des CEIPAC auch genau datieren, wann die Amphoren entsorgt wurden. Die jüngsten Daten fallen in die Jahre 255/257 n. Chr. In jener Zeit endet auch die Herstellung der Amphore »Dressel 20« in der Baetica. Zwar führten die Römer weiterhin baetisches Olivenöl ein, bis ins 5. Jahrhundert n. Chr., dafür kam dann aber eine neue, kleinere Amphore zum Einsatz, »Dressel 23«.
Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. war das Römische Reich in eine existenzielle Krise geraten. In der Folge veränderten sich die Wirtschafts- und Handelsstrukturen. Untersuchungen des internationalen CEIPAC-Teams beweisen, dass nun Amphoren und Öl aus der Baetica verstärkt nach Gallien und Germanien verschifft wurden, um die Truppen am Rheinlimes zu versorgen. Es sind die Vorzeichen einer neuen Zeit: Als Teil seiner Reformen am Ende des 3. Jahrhunderts n. Chr. schlug Kaiser Diokletian dann Spanien zur Präfektur Gallien hinzu. Die Provinz Afrika kam zur Präfektur Italien.
Rom kehrte damit nach langer Zeit wieder zu seinen früheren Hauptlieferanten für Olivenöl zurück, die in Nordafrika produzierten. Wo jene Amphoren in Rom dann fortgeworfen wurden, ist nicht ganz sicher. Auf kleinere Scherbenerhebungen stießen Bauarbeiter im 19. Jahrhundert – im Stadtteil Trastevere und unweit der Engelsburg. Doch was dort genau im Boden schlummert, wissen Archäologen nicht. Einzig dem Monte Testaccio entlockten sie bislang seine Geheimnisse.
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