Moore: Die Rückkehr des Wassers
»Man zerdrückt ein hühnereigroßes Stück feuchten Torf in der Hand und schaut sich an, was zwischen den Fingern hervorquillt«, erklärt Marvin Gabriel. »So kann man feststellen, wie kaputt der Boden ist.« Gabriel, der als Moorforscher beim Naturschutzbund Deutschland (NABU) arbeitet, führt das sogleich mit einer Hand voll Torf vor. Aus seiner geballten Faust tritt ein breiiges Sediment hervor, in dem keinerlei Pflanzenstrukturen erkennbar sind. »Zersetzungsgrad zehn, höchste Stufe«, folgert der Forscher. »Hier wurde intakter Moorboden durch menschliche Aktivität zerstört.«
Etwa vier Prozent der weltweiten Landfläche sind von Mooren bedeckt. Rund ein Zehntel davon ist bereits zerstört, jährlich gehen 500 000 weitere Hektar verloren. Das ist nicht nur für etliche Tiere und Pflanzen ein Problem, die dadurch ihren Lebensraum verloren haben, sondern auch für den Klimaschutz: Degradierte Moore setzen riesige Mengen Kohlenstoffdioxid (CO2) frei.
Das Ergebnis von Gabriels Quetschprobe verwundert nicht. Der Torf, den er kraft seiner Finger zerdrückt hat, entstammt einer 30 Zentimeter tiefen Kuhle. Die hat er mit dem Spaten ins Häsener Luch gestochen – ein Moor, das als solches kaum noch zu erkennen ist. Es liegt in einem landwirtschaftlich genutzten Gebiet im Löwenberger Land in Brandenburg, 60 Kilometer nördlich von Berlin. Rinder weiden auf artenarmem Grasland, in Heuwiesen zirpen Grillen. Es dominieren wenige Süßgrasarten, während die für Moore typischen Sauergräser fehlen.
Das Häsener Luch ist ein 120 Hektar großer Teil eines Niedermoors. Anders als Hochmoore, die ihre Feuchtigkeit aus Niederschlägen erhalten, speisen sich Niedermoore vor allem übers Grundwasser. Wie alle Moore in Mitteleuropa begann das Häsener Luch nach der letzten eiszeitlichen Kaltzeit zu wachsen, die vor rund 11 700 Jahren endete. Als die Gletscher mit steigenden Temperaturen zurückwichen, formte sich das heutige Relief: An manchen Stellen blieben große Eisblöcke zurück, die langsam schmolzen. Dort vertiefte sich das Gelände, Wasser sammelte sich, und feuchtigkeitsliebende Pflanzen breiteten sich aus. Tausende Jahre lang versanken abgestorbene Gewächse im Matsch und deponierten Kohlenstoff im Untergrund, der fortan nicht mehr in der Atmosphäre zirkulierte.
Nur wenige intakte Moore in Deutschland
Das änderte sich im 17. Jahrhundert, als man begann, dem Häsener Luch und anderen Mooren das Wasser zu entziehen. Vorbild dafür waren die Niederlande, wo zahlreiche Trockenlegungen zum wirtschaftlichen Aufschwung in der frühen Neuzeit beigetragen hatten. Unter König Friedrich II. engagierte Preußen namhafte Entwässerungsexperten, um Moorflächen in bebaubare Areale zu verwandeln. Nahe dem Häsener Luch ließen sich Neusiedler nieder, die den Ort Klevesche Häuser gründeten. Heute sind 94 Prozent aller Moore in Deutschland entwässert.
Tier- und Pflanzenarten, die sich im Moor wohlfühlen, wurden im Zuge dieser Trockenlegungen zurückgedrängt. Dem »Handbuch der Naturschutzgebiete der Deutschen Demokratischen Republik« von 1973 zufolge lebten im Häsener Luch damals noch die Rotbauchunke, Moorschmetterlinge wie der Große Feuerfalter und Wiesenbrüter wie Kiebitz, Sumpfschnepfe, Rotschenkel und Großer Brachvogel. Boreale (in kaltgemäßigtem Klima wachsende) Pflanzenarten wie etwa die Gelbe Segge oder die Gelbe Wiesenraute kamen ebenfalls vor. Doch das blieb nicht lange so. »Klimaschutz war damals kein Thema. Riesige Systeme von Gräben, Röhren und Pumpen wurden angelegt«, sagt Gabriel und deutet auf eine vor ihm liegende Rinne, den so genannten Welsengraben. »Sie leiten das Wasser in die Havel.«
Fehlt die Feuchtigkeit, setzt das einen folgenschweren Prozess in Gang: Die Bodenporen füllen sich mit Luft, und unter Anwesenheit von Sauerstoff beginnen Mikroorganismen, den Torf zu zersetzen. Den darin massenhaft gespeicherten Kohlenstoff wandeln sie in CO2 um, das in die Atmosphäre entweicht und die globale Erwärmung vorantreibt.
Schützenswerte Feuchtgebiete
Je mehr der menschengemachte Klimawandel ins öffentliche Bewusstsein trat, umso mehr wurden die Moore zum Gegenstand des politischen Diskurses. Die Moorschutzstrategie des Bundesumweltministeriums von 2022 sieht vor, Treibhausgasemissionen aus Moorböden bis 2030 um zehn Prozent zu reduzieren, das entspricht fünf Millionen Tonnen jährlich. Die enorme Bedeutung der Moore für das globale Klima belegen Daten des Greifswald Moor Centrums, in dem Fachleute der Universität Greifswald, des Umweltschutzvereins DUENE und der Michael Succow Stiftung zusammenarbeiten.
Das Greifswald Moor Centrum spielt eine bedeutende Rolle beim Schutz von Feuchtgebieten: Es koordiniert die weltweit größte Datenbank zu Mooren, die »Global Peatland Database«. Deren Daten zufolge emittieren entwässerte Moore überproportional große Mengen an CO2, obgleich sie nur 0,3 Prozent der weltweiten Landfläche ausmachen. Von den etwa 40 Milliarden Tonnen Kohlenstoffdioxid, die die Menschheit jährlich freisetzt, gehen fünf Prozent auf ihr Konto – also rund zwei Milliarden Tonnen. Das ist mehr, als der globale Flugverkehr verursacht. Am meisten emittieren entwässerte Moore in Indonesien, der EU, Russland, China und den USA.
In Deutschland sieht es ähnlich aus. Aus degradierten Mooren entweichen jährlich rund 53 Millionen Tonnen Treibhausgase, das sind fast acht Prozent des jährlichen Treibhausgasausstoßes der Bundesrepublik. »Hotspots« der Moor-Emissionen liegen in Brandenburg (7,2 Millionen Tonnen) und Mecklenburg-Vorpommern (8,4 Millionen Tonnen), wo besonders viele Feuchtgebiete trockengelegt wurden. Nachschlagen lassen sich diese Daten im »Mooratlas«, herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung und der Michael Succow Stiftung.
50 Prozent weniger Treibhausgase an fünf Standorten
Der NABU will den Wasserstand in Teilen des Häsener Luchs erhöhen, denn aus nassen Böden entweicht weniger CO2 als aus trockenen. Das Niedermoor dient dabei als deutsche Demonstrationsfläche des internationalen Projekts »LIFE Multi Peat«, das der NABU leitet. Das Projekt ist 2021 angelaufen und wird von der Europäischen Kommission unterstützt. In Deutschland, Belgien, Irland, Polen und den Niederlanden sollen insgesamt 689 Hektar Moor wiederhergestellt werden. »Wir wollen zeigen, dass das gelingen kann, und das Treibhausgaspotenzial an allen fünf Standorten um bis zu 50 Prozent verringern, was etwa 3600 Tonnen CO2-Äquivalenten jährlich entspricht«, sagt Gabriel. Er ist der wissenschaftliche Koordinator des Vorhabens; bei ihm fließen die im Häsener Luch gewonnenen Daten zusammen. Gabriel verfolgt, wie sich Wasserstände, Vegetation und Treibhausgasemissionen in dem Niedermoor infolge der Maßnahmen verändern.
Ein konkreter Blick in den Untergrund macht das anschaulich. Gabriel und sein Kollege Jonathan Etzold drücken mit vereinten Kräften eine Moorklappsonde in den Boden, eine Art Stanze mit einem Durchmesser von wenigen Zentimetern. Die Forscher drehen sie tief ins Erdreich und ziehen sie dann wieder heraus, um eine Probe aus dem Substrat zu stechen. Die Bodenschichten darin lassen sich bei Bedarf unter Laborbedingungen analysieren. »In dem Moor legt sich kontinuierlich Sedimentschicht auf Sedimentschicht. Je tiefer man nach unten vorstößt, desto älter wird das Material – deshalb sind solche Untersuchungen eine Reise in die Vergangenheit«, sagt Gabriel. »Wir können die Klappsonde meterweise verlängern und damit theoretisch bis zu zehn Meter tief in den Boden dringen.«
75 Zentimeter genügen, um Torf ans Tageslicht zu befördern, der unzersetzte Biomasse enthält. Gabriel nimmt ein Stück davon in die Hand und deutet auf winzige weiße Einschlüsse. »Das sind Schneckengehäuse«, erläutert er. Auch Rhizome von Schilf sind zu erkennen: unterirdisch wachsende Sprossachsen, von denen Wurzeln abgehen. Schilfrohr hat sich sehr erfolgreich an feuchte Lebensräume angepasst; es besiedelt rasch neue Standorte und kann über seine hohlen Stängel die unter Wasser gelegenen Pflanzenteile mit ausreichend Sauerstoff versorgen.
Modder aus dem Untergrund
Torf aus einem Dreiviertelmeter Tiefe reagiert anders auf die Quetschprobe als solcher von der Oberfläche: Zwischen Gabriels Fingern tritt viel trübes, braunes Wasser aus, aber nur wenig Torfsubstanz. »Zersetzungsgrad fünf, würde ich sagen«, kommentiert der Wissenschaftler. Klares Wasser würde aus seiner Faust rinnen, wäre der Torf völlig unzersetzt. In größeren Bodentiefen geht das Substrat in klebrigen Modder über, die »Mudde«, die fast so viel Kohlenstoff bindet wie Torf und umgangssprachlich auch Seeschlamm genannt wird. Sie ist kalt, als käme sie aus dem Kühlschrank, und ihre Konsistenz erinnert an Gummibärchen. »Vorsicht, sie lässt sich schwer von Kleidern und Händen entfernen«, warnt der Moorforscher.
Gabriel und Etzold sind mittlerweile zwei Meter nach unten gedrungen. Welches Alter die hier befindlichen Schichten haben, können sie nur schätzen. Zwar ist bekannt, dass ein intaktes Moor durchschnittlich einen Millimeter Sediment pro Jahr ablagert. Demnach dauert es rund 1000 Jahre, bis sich eine Torfschicht von einem Meter gebildet hat. Doch das Häsener Luch ist kein intaktes Moor. Das liegt nicht nur an der Entwässerung, sondern auch am Torfabbau im 19. und 20. Jahrhundert. »Die ehemaligen Torfstiche erkennt man an den Grauweiden«, sagt Jonathan Etzold und deutet auf einen Streifen in der Landschaft, der von undurchdringlichem Gebüsch überwuchert ist. »Womöglich haben die Dorfbewohner hier noch nach dem Zweiten Weltkrieg Torf abgebaut, als es an allem mangelte«, sagt er. »Wir wissen es nicht genau.«
Bereits vor über 4000 Jahren nutzten Menschen die organische Substanz als Brennstoff. In Deutschland war Torf im 18. Jahrhundert ein wichtiger Energieträger, da Holz auf Grund der flächendeckenden Entwaldung nur noch begrenzt verfügbar war. In vielen Ländern nutzt man Torf bis heute, um Wärme und Strom zu erzeugen, besonders in Irland, Finnland und Belarus. Hier zu Lande findet er sich wegen seiner Wasserspeicherfähigkeit in manchen Blumenerden wieder, wird dort aber zunehmend durch umweltschonende Alternativen wie Grüngutkompost oder Rindenhumus ersetzt.
Ein Plan für die Restaurierung
Der technische Aufwand, der mit der Wiedervernässung des Häsener Luchs einhergeht, ist überschaubar. Vor allem kommt es auf die produktive Zusammenarbeit aller Beteiligten an. Dafür ist Jonathan Etzold zuständig: Als nationaler Koordinator trifft er Absprachen mit dem Wasser- und Bodenverband Uckermark-Havel. Dort weiß man, wie die Entwässerungsgräben und -rohre sowie die kleinen Stauanlagen zusammenspielen, die zu DDR-Zeiten der Nutzbarmachung des Moors dienten. »Bevor der Wasserstand angehoben werden kann, muss ein Ingenieurbüro den genauen Maßnahmenplan hierfür erarbeiten«, erklärt er. Mit diesem kann er dann Genehmigungen bei der zuständigen Wasserbehörde einholen. In erster Linie aber braucht es die Zustimmung der Landwirte, die das Häsener Luch bewirtschaften. »Wir wollen vermitteln, dass die Wiedervernässung nicht nachteilig für sie sein muss. Das bedarf intensiver Gespräche.«
Die Wasserbehörde schlug vor, zunächst probehalber im kleinen Maßstab zu stauen. An drei alten Stauanlagen aus den 1970er Jahren, ursprünglich zur Entwässerung angelegt, wird seither der Grundwasserspiegel auf einer Testfläche von zirka zehn Hektar langsam angehoben. »Wenn es den Landwirten hier zu nass wird, kann man den Pegel wieder absenken. Das gibt ihnen eine Möglichkeit zur Kontrolle.« Nicht immer läuft alles nach Plan: Eine der Anlagen etwa wurde von einem Biber beschädigt, der ein kleines, hölzernes Stauwehr durchbiss. Nach einem Jahr soll Bilanz gezogen werden: Hat sich die Vegetation durch den Probestau verändert? Wie wirkt er sich auf die Bewirtschaftung aus? Stößt das Moor weniger CO2 aus?
Um Letzteres zu messen, setzen Etzold und Gabriel eine Haube aus Plexiglas über den Boden. Auf der Anzeige des Messgeräts steigen die Werte binnen fünf Minuten an, von 439 auf 456 ppm. Das steht für »parts per million«, die Anzahl der CO2-Moleküle pro Million Teilchen in der Luft. »Das bedeutet, dass der Boden momentan mehr CO2 freisetzt, als die Pflanzen durch Fotosynthese aufnehmen«, erklärt Gabriel.
Aufwändige Messung vom Turm aus
Ein anderer Weg, die Treibhausgasemissionen zu bestimmen, ist die Eddy-Kovarianz-Methode: Auf einem Turm positionierte Instrumente messen kontinuierlich die Konzentrationen verschiedener Moleküle und die Luftbewegungen. Daraus kann man rückschließen, welche Gasmengen große Flächen freisetzen. Man muss hierfür mindestens zwölf Monate lang kontinuierlich messen und jahreszeitliche Schwankungen anschließend herausrechnen. Denn im Sommer nimmt die Vegetation auf der Nordhemisphäre viel CO2 aus der Luft auf, weil sie dann intensiv Fotosynthese betreibt – im Winter hingegen kaum.
Die Wissenschaftler vom NABU verfolgen zudem die über dem Häsener Luch frei werdende Menge an Methan (CH4), einem sehr wirkungsvollen Treibhausgas, das zu etwa 30 Prozent zur Erderwärmung beiträgt. Es entsteht, sobald Pflanzenteile unter Luftabschluss faulen. Anders als Kohlendioxid wird Methan bei der Renaturierung frei. Der entscheidende Vorteil des Gases: Es wird bereits nach rund zehn Jahren abgebaut. Kohlenstoffdioxid hingegen bleibt über Tausende von Jahren in der Atmosphäre. Auch intakte Moore stoßen Methan aus. Doch bei einer Wiedervernässung stellt sich nach einigen Jahren ein Gleichgewicht ein, und dieselbe Menge an Methan, die der Boden ausgast, zerfällt in der Atmosphäre. Da das CO2 langfristig in seiner Klimawirkung viel schlimmer ist, stellen die Methanemissionen keinen Grund dar, auf die Renaturierung zu verzichten.
Bedrohte Feuchtgebiete
Moore gibt es fast überall auf der Welt. Dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen von 2022 zufolge bedecken sie rund vier Prozent der Landfläche. Das klingt erst einmal nach nicht viel. Doch diese Feuchtgebiete – insgesamt rund 500 Millionen Hektar – speichern doppelt so viel Kohlenstoff wie alle Bäume der Welt zusammengenommen: zwischen 450 und 650 Gigatonnen (Milliarden Tonnen). Etwa 50 Millionen Hektar Moore sind weltweit zerstört, die meisten davon in dicht besiedelten Gegenden wie Ost- und Mitteleuropa oder Südostasien. In schwer erschließbaren Regionen wie Kanada, Sibirien, Alaska, dem Kongo- und dem Amazonasbecken sind hingegen noch zahlreiche Moore unberührt. In Europa gibt es solche Biotope in weitgehend intakter Form vor allem in Bosnien-Herzegowina, Schweden und Norwegen. Jedes Moor ist ein einzigartiger Lebensraum: In den Tropen etwa treten sie oft als dicht bewachsene Regenwälder in Erscheinung, während sie in den kaltgemäßigten Klimazonen eher baumfrei sind.
Die größten tropischen Moore finden sich in Indonesien: In ihnen sind schätzungsweise mehr als 40 Milliarden Tonnen Kohlenstoff gebunden. Mehr als die Hälfte der indonesischen Moore wurden in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten entwässert und in Akazien- oder Palmölplantagen umgewandelt. Das ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Nasse Moore brennen beispielsweise nicht – trockene schon. Bei Torf- und Waldbränden in dem Inselstaat ging Ende des 20. Jahrhunderts eine Fläche von zehn Millionen Hektar in Flammen auf. Einem Team um Susan Page von der University of Leicester in Großbritannien zufolge wurden dabei Verbrennungsprodukte mit einem Kohlenstoffanteil zwischen 0,81 und 2,57 Gigatonnen Kohlenstoff freigesetzt. Das ist äquivalent zu 13 bis 40 Prozent der damaligen jährlichen CO2-Emissionen Indonesiens aus fossilen Quellen. Infolge des voranschreitenden Klimawandels steigt die Gefahr weiterer Moorbrände. Weil der Inselstaat zunehmend erkennt, mit welchen Risiken das einhergeht, betreibt er inzwischen einen umfassenden Moorschutz: Mehr als zwei Millionen Hektar wurden dort bereits wiedervernässt.
Ganz anders verhält es sich im »Cuvette Centrale«, einem riesigen tropischen Moorgebiet im Kongobecken, das erst vor wenigen Jahren von einem Team um Greta Dargie und Simon Lewis von der britischen University of Leeds wissenschaftlich beschrieben wurde. Etwa 30 Milliarden Tonnen Kohlenstoff sind dort gebunden. Bislang ist das Areal weitgehend unberührt, doch in den Randgebieten schreitet die Erschließung voran. Schon bald könnten international agierende Konzerne dort mit schwerem Gerät Bäume fällen, nach Erdöl bohren und Palmölplantagen anlegen.
Von der Klimakrise ebenfalls bedroht sind Permafrostböden, die etwa ein Viertel der Landfläche der Nordhalbkugel bedecken. Tauen sie im Zuge der Erderwärmung auf, setzen die dort gelegenen, großteils gefrorenen Moore nach und nach ihren gebundenen Kohlenstoff frei. Laut einer Studie von Richard Fewster von der University of Leeds könnten in zwei bis drei Jahrzehnten die Permafrostmoore Westsibiriens und Skandinaviens unwiderruflich beschädigt oder ganz verschwunden sein.
Ende 2024 dürften Etzolds Verhandlungen mit den Landwirten voraussichtlich ein gutes Stück vorangegangen sein. »Es gibt im Häsener Luch drei Bewirtschafter«, sagt er. »Deren Lebensunterhalt muss langfristig gesichert sein.« Einige Flächen hat der NABU den Bewirtschaftern abgekauft, andere werden möglicherweise gegen Areale außerhalb des Häsener Luchs getauscht. »Ziel ist es, dass alle mindestens genauso gut dastehen wie vorher.«
Wirtschaften auf nassem Terrain
Damit Deutschland seine Klimaziele erreicht, müssen so viele Moore wie möglich rasch wiedervernässt werden. Landwirte sind davon aber mitunter wenig begeistert: Wer sieht seine Äcker und Weiden, von vorherigen Generationen mühevoll trockengelegt und nun Gewinn bringend bebaut, schon gern versumpfen? Doch es gibt eine Lösung für dieses Problem: die so genannte Paludikultur – das naturverträgliche Wirtschaften auf nassem Terrain.
Dass das im großen Stil funktionieren kann, zeigt die von der Umweltstiftung Michael Otto sowie von der Michael Succow Stiftung ins Leben gerufene Initiative »toMOORow«. Sie möchte die vielfältigen Eigenschaften von Mooren für den Umwelt- und Naturschutz einsetzen, aber auch ökonomisch nutzen. 2023 hat sie eine Machbarkeitsstudie erstellt, aus der hervorgeht, dass Moorgewächse in zahlreichen Wirtschaftsbranchen nutzbar sind. Im April 2024 haben sich 14 Unternehmen zu einer »Allianz der Pioniere« zusammengefunden, die Produkte aus Paludi-Biomasse herstellen möchte. Dazu gehören bekannte Firmen wie toom Baumarkt und Otto (siehe Interview »Der potenzielle Markt ist riesig« am Ende dieses Artikels).
»Eine Landnutzung soll möglichst auch im Häsener Luch weiterhin stattfinden«, sagt Etzold, »am besten in Kooperation mit den Landwirten.« Die Idee: Wenn die Flächen dem NABU gehören oder die Eigentümer der Vernässung zustimmen, könnten die Areale weiterhin bewirtschaftet werden und die dafür zuständigen Personen die NABU-Förderung »Klima+« erhalten: bis zu 65 Euro jährlich pro Tonne CO2-Ersparnis. Die Förderung steht allen zu, die einer Anhebung des Wasserstands auf von ihnen genutztem Land für mindestens drei Jahre zustimmen. »Die Landwirte haben Interesse bekundet«, sagt Etzold. Doch es werde einige Jahre dauern, bis sich die Vegetation auf die neuen Verhältnisse umgestellt hat. »Daher wissen wir noch nicht, welche Paludikulturen in der Praxis funktionieren werden. Wir hoffen natürlich, dass sich für deren Erzeugnisse viele Abnehmer aus der Industrie finden.«
Unvorhersehbare Natur
Einer der betroffenen Landwirte ist Andreas Paries, Vorstand im Kreisbauernverband Oberhavel. Gemeinsam mit seinem Bruder, seiner Mutter und 18 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bewirtschaftet er den Grüpa-Hof im Ort Klein-Mutz. Milchkuhhaltung sowie 1500 Hektar Acker- und Grünland, auf denen unter anderem Getreide und Mais wachsen, sind die wirtschaftliche Grundlage des Betriebs. Nur etwa 20 Hektar davon liegen im Häsener Luch. Paries bezweifelt, dass die Industrie langfristig auf Produkte aus Paludikultur setzen wird: »Es gibt meines Erachtens noch kein wirtschaftlich tragfähiges Konzept.« Die Unternehmen bräuchten konstante Liefermengen mit gleich bleibender Qualität, und das könnten Moorpflanzen nicht bieten. »Die Natur in Feuchtgebieten ist unvorhersehbar.« Trockenperioden oder starke Regenfälle wirkten sich umgehend auf die Produktqualität aus.
Nichtsdestoweniger sieht Paries gelassen in die Zukunft: »Unsere bewirtschaftete Fläche im Häsener Luch ist klein. Für meine Familie ist es nicht so dramatisch, wenn dort irgendwann keine Rinder mehr weiden können – es gibt genug anderes geeignetes Land.« Doch nicht allen Landwirten gehe es so: »Manche bekommen schon mal Existenzängste.« Dennoch ist es Paries wichtig zu betonen, dass der NABU die Menschen vor Ort erfolgreich mitnehme. Auch für die Wiedervernässung von Mooren hat er prinzipiell Verständnis: »Natürlich ist das eine wichtige Sache.«
Im Häsener Luch setzt die Dämmerung ein, und abertausende Mücken tanzen im Licht der untergehenden Sonne. »Es gibt manchmal Bedenken, nasse Moore könnten zu Brutstätten von Moskitos werden, die Krankheiten wie Malaria übertragen«, sagt Etzold. Wie sich eine Wiedervernässung auf die Ausbreitung diverser Stechmückenarten auswirken wird, ist tatsächlich weitgehend unklar. Fest steht aber: Schreitet der anthropogene Klimawandel weiter ungebremst voran, zusätzlich beschleunigt von ausgetrockneten Mooren, aus denen CO2 ausgast, dann werden mit den höheren Temperaturen auch mehr tropische Krankheiten zu uns kommen. Die gefürchtete Asiatische Tigermücke etwa, die sich hier zu Lande bereits heimisch fühlt, legt ihre Eier an allen möglichen geeigneten Orten ab, beispielsweise in Entwässerungsgräben. »Aus denen kommen auch die Schwärme im Häsener Luch«, sagt Etzold.
Einige hundert Meter weiter schmatzt es plötzlich unter den Füßen, und das Quaken von Fröschen ertönt in der warmen Abendluft. »Hier erfüllen die Gummistiefel endlich mal ihren Zweck«, freut sich Etzold. Der Probestau hat das Wasser bis zur Bodenoberfläche ansteigen lassen. Die Vegetation hier sieht deutlich mehr nach Feuchtgebiet aus. Etzold greift nach einem Grashalm und sagt: »Das könnte eine Schlank-Segge sein, ein Sauergras.« Womöglich hatte der ausgetrocknete Boden lebensfähige Samen dieser Spezies über Jahrzehnte hinweg konserviert – als er wieder nass wurde, fingen sie an zu keimen. Kollege Marvin Gabriel deutet auf ein anderes Gewächs und sagt: »Hier gedeiht ein Sumpf-Schachtelhalm. Wer weiß, in einigen Jahren kommen vielleicht sogar die Orchideen wieder.«
»Der potenzielle Markt ist riesig«
Ein Bündnis aus 14 Unternehmen möchte sich als »Allianz der Pioniere« daran versuchen, Produkte aus Moorpflanzen wirtschaftlich zu nutzen und entsprechende Wertschöpfungsketten aufbauen. Im Interview erklären die Ökologin Franziska Tanneberger und die Wirtschaftsingenieurin Claudia Bühler, wie »Paludikultur« (die landwirtschaftliche Nutzung von nassen Moorgebieten) wirtschaftlich tragfähig werden kann. Tanneberger leitet das Greifswald Moor Centrum, Bühler steht der Umweltstiftung Michael Otto vor. Beide haben im Rahmen der Initiative »toMOORow« die »Allianz der Pioniere« mit initiiert.
Frau Tanneberger, Frau Bühler: Angenommen, man begänne noch heute mit der Wiedervernässung. Wie lange würde es dauern, bis man die Industrie mit Moorpflanzenerzeugnissen beliefern könnte?
Tanneberger: Die Vegetation braucht einige Jahre, um sich umzustellen. Steigt der Wasserpegel langsam an, etablieren sich in Niedermooren zunächst vor allem Sauergräser. Man kann dort auch Schilf oder Rohrkolben anpflanzen. Das kostet mehr, dafür kann man aber schneller ernten. Bei Hochmooren muss man ebenfalls nachhelfen. Dort wachsen Torfmoose, Sonnentau oder Moltebeeren. Die Moose muss man jedoch ausbringen, bevor man den Wasserstand erhöht.
Was macht solche Pflanzen aus Sicht der Industrie interessant?
Bühler: Eine Machbarkeitsstudie von 2023 hat ergeben, dass man Moorgewächse in sieben Wirtschaftssektoren sehr gut verwenden kann, insbesondere in der Papier- und Verpackungs- sowie Bau- und Dämmstoffbranche. Hier kann man vor allem Schilf, Rohrkolben und Sauergräser nutzen. Der potenzielle Markt ist riesig.
Ganz konkret: Welche Produkte wollen die Unternehmen aus Moorpflanzen herstellen?
Bühler: Zum Beispiel Schallschutzwände, Trockenbauplatten und Systeme zur Wärmedämmung. Hier werden etwa Schilf, Rohrkolben oder Sauergräser beigemischt. Versandkartonagen und Türfüllungen aus Moor-Biomasse sind ebenfalls in Arbeit. Es gibt weitere Möglichkeiten. Gräser aus nasser Landwirtschaft könnten chemische Grundstoffe für biobasierte Lacke, Farben oder Klebstoffe liefern. Auch Erzeugnisse aus dem Hochmoor sind interessant: Torfmoose etwa können als Torfersatz dienen, Sonnentau hilft als Heilpflanze gegen Atemwegserkrankungen und Moltebeeren sind wegen ihres hohen Vitamingehalts beliebt.
Frau Tanneberger, Sie führen viele Gespräche mit Landwirten und kennen zahlreiche Betriebe: Warum tun sich viele Landwirte schwer damit, auf Paludikultur umzustellen?
Tanneberger: Das hat mit den Rahmenbedingungen zu tun. Wiedervernässte Areale sind derzeit noch nicht verlässlich beihilfefähig. Das heißt, dort tätige Landwirte können nicht sicher sein, ob sie Agrarförderung bekommen. Warum sollten sie sich dann mit dem Thema Paludikultur auseinandersetzen? Nicht alle sind Enthusiasten und bereit dazu, ein persönliches Risiko einzugehen. Derzeit kommt hier zwar einiges in Gang, aber es braucht weitere Anpassungen der Agrarpolitik. Viele Regelungen sind schwer zu durchschauen. In Bayern bekommen Landwirte die mit Abstand höchste Förderung für klimaschonende Moornutzung: 2200 Euro pro Hektar und Jahr.
Wie haben Sie 14 teils sehr namhafte Firmen für die »Allianz der Pioniere« gewinnen können?
Bühler: Wir haben gezielt Unternehmen angesprochen, die ernsthaft an nachhaltigen Innovationen interessiert sind und gleichzeitig eine hohe Strahlkraft in ihrer Branche haben. Ebenfalls wichtig war uns eine gesunde finanzielle Basis, denn schnelle Erlöse sind in den jetzt stattfindenden Pilotprojekten zur Paludikultur nicht zu erwarten. Ursprünglich hatten wir uns vorgenommen, acht Unternehmen für die Allianz zu gewinnen. Doch das Interesse war so groß, dass es nun fast doppelt so viele geworden sind.
Benötigt man spezielle Erntetechnik für Schilf und Co.?
Tanneberger: Das hängt vom Wasserstand im Untergrund ab. Der ist in wiedervernässten Mooren nicht konstant, sondern fällt im Sommer bei höheren Temperaturen und steigt im Winter wieder. In der warmen Jahreszeit kann man zum Teil sogar mit konventioneller Technik ernten, wobei man die Maschinen durch etwas breitere Bereifung eventuell leicht anpassen muss. Für die Winterernte braucht man oft umgerüstete Pistenraupen, die nicht so schnell einsinken. Die Betriebe müssen solche Maschinen aber nicht kaufen, sondern können sie bei Bedarf leihen.
Wie lässt sich sicherstellen, dass die Industrie mit genügend Rohstoffen aus der Paludikultur beliefert werden kann?
Bühler: Das ist eine enorme Herausforderung. Unsere Machbarkeitsstudie hat gezeigt, dass eine kontinuierliche Versorgung sehr wichtig ist. Die Biomasse muss außerdem lagerfähig sein und von möglichst konstanter, hoher Qualität. In den Pilotprojekten kann man mal eben einen Lkw zum Betrieb schicken und die Biomasse abholen; doch sobald große Mengen verarbeitet werden, geht das nicht mehr. Deshalb müssen Lager- und Logistikketten aufgebaut werden. Die entsprechende Umstellung in den Unternehmen ist extrem aufwändig. Es braucht spezielle Maschinen, und damit sich die Verarbeitung von Paludi-Biomasse wirtschaftlich rechnet, müssen diese rund um die Uhr laufen. Versorgungslücken sind sehr schlecht – nicht nur für das jeweilige Unternehmen, sondern für die gesamte Branche.
Tanneberger: Aber wir haben gar keine Alternative. Um im Jahr 2045 klimaneutral zu sein, müssen wir ab sofort jährlich 50 000 Hektar Moore wiedervernässen. Die Allianz der Pioniere ist eine große Chance und kann entsprechende soziale Kipppunkte herbeiführen: Wenn einige Unternehmen und Landwirte vormachen, dass es funktioniert, werden sich hoffentlich immer mehr andere anschließen, bis es schließlich zur flächendeckenden Veränderung kommt.
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