Immanuel Kant im Gespräch: »Entschuldigung, da verstecken wir uns hinter einer billigen Ausrede«
Sehr geehrter Herr Kant, alles Gute zu Ihrem 300. Geburtstag! Auch heute noch sind Sie einer der einflussreichsten Philosophen. Ein Grund dafür ist Ihr kategorischer Imperativ: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« Ist Ihre Forderung immer noch aktuell?
Der kategorische Imperativ fordert, die eigenen Motive und Gründe am Kriterium der Allgemeingültigkeit zu messen. Er ist also keine inhaltliche Forderung: »Tue dieses, aber jenes nicht!«, sondern ein formales, universell gültiges Kontrollinstrument. Und damit auch zeitlos. Die Herausforderungen haben sich in den letzten Jahrhunderten nicht wesentlich geändert. Wenn ich wissen will, ob eine meiner moralischen Intuitionen auch moralischen Wert hat, dann muss ich mich fragen: Kann jeder Mensch zu allen Zeiten denken und wollen, dass die fragliche Maxime die gesamte Gattung alternativlos beherrscht?
Halten Sie mich bitte nicht für naiv. Mir ist klar, aus welch krummem Holz der Mensch geschaffen ist. Wir sind vernunftbegabt, aber leider nicht vernunftaffin. Unsere Triebe und Neigungen sind mächtig und setzen sich in der Regel durch. Gleichwohl können wir alle wissen, was moralisch geboten ist. Nur die Umsetzung ist schwer. Das ist heute so, das war sie damals aber übrigens auch.
Der Hintergrund meiner Frage war folgender: Heutzutage sind viele Handlungen notwendig oder zumindest schwer zu vermeiden, schaden aber anderen. Fast jedes T-Shirt, das ich kaufe, könnte unter schlechten Arbeitsbedingungen entstanden sein, die Bananen im Supermarkt stammen aus Monokultur und meine Gasheizung trägt zur Klimakrise bei, genau wie der Verbrenner, den ich fahren muss, weil es in meinem Dorf keine Busverbindung gibt. Kann man den kategorischen Imperativ heutzutage wirklich noch befolgen?
Bitte entschuldigen Sie, aber ich befürchte, da verstecken wir uns hinter einer billigen Ausrede. Natürlich existieren zahlreiche Handlungen, die anderen Menschen schaden und die dennoch aktuell alternativlos sind. Das ist sehr bedauerlich, macht den kategorischen Imperativ jedoch nicht unbrauchbar.
Im Gegenteil: Wir sollten ihn mit all seiner Strenge anwenden und uns fragen, welche unserer Handlungen wirklich alternativlos sind. Unfaire Löhne im globalen Süden, Massenkonsum, Fast Fashion, Flugreisen, Fleischkonsum, SUVs, Kreuzfahrten: All dies gehört gewiss nicht dazu. Es handelt sich um moralisch verwerfliche Dinge, für die wir persönlich verantwortlich sind.
Und wer bereits persönlich seine moralische Pflicht erfüllt, muss dennoch darum ringen, ein falsches System zu überwinden. Wer jedoch meint, selbst keine Veränderungen vornehmen zu müssen, weil ja das System schon falsch sei, stiehlt sich mit einer billigen Ausrede aus der moralischen Verantwortung.
Klimaaktivisten von »Ende Gelände« haben in den vergangenen Jahren mehrmals Tagebaue besetzt. Mitglieder der »Letzten Generation« klebten sich häufig auf die Straße, blockierten so den Verkehr und behinderten damit andere Menschen. Was halten Sie von solchen Aktionen des zivilen Ungehorsams?
Ich denke, wir sollten zwei Ebenen unterscheiden. Moralisch ist die Intention vieler Klimaaktivisten nicht zu kritisieren. Das können wir mit dem kategorischen Imperativ überprüfen: Können wir denken und wollen, dass Personen zu allen Zeiten danach trachten, ihre Mitmenschen vor einer Katastrophe zu bewahren? Ja!
Gleichzeitig existiert die rechtsphilosophische Ebene. Auch sie hat ein ethisches Fundament. Kann ich denken und wollen, dass Menschen in einem Rechtsstaat leben? Ja! Ist Rechtsstaat denkbar, wenn Bürgerinnen und Bürger nach eigenem Ermessen darüber entscheiden, wann sie Gesetze befolgen und wann nicht? Nein! In meiner Rechtslehre habe ich daraus die Konsequenz gezogen, dass Widerstand in einem republikanischen Rechtsstaat unter keinen Umständen zu dulden ist.
Das ist ein hartes Urteil über die »Klimakleber« …
Es kommt darauf an, ob man solche Aktionen als Widerstand deutet. Das muss man nicht. Ziviler Ungehorsam unterscheidet sich vom Widerstand durch seine Gewaltlosigkeit, durch seinen symbolischen Charakter und durch die Akzeptanz von Strafe. All dies ist bei der »Letzten Generation« gegeben.
»Die Bevölkerung des globalen Nordens hat nicht den Wunsch, dem Klima zu schaden, aber sie ist über die Konsequenzen ihres Handelns informiert. Daraus folgt der Anspruch auf Kompensation«
Die globale Erderwärmung wurde hauptsächlich vom globalen Norden verursacht. Hauptleidtragender ist allerdings der globale Süden. Kann sich der globale Norden durch Reparationszahlungen sozusagen von dieser Klimaschuld freikaufen? Sollte er das tun?
»Klimaschuld« und »freikaufen« sind starke Ausdrücke. Ich will dennoch auf Ihre Frage antworten. Wie Sie wissen, ist es mir wichtig, die Absichten zu betrachten, die einer Handlung zu Grunde liegen. Ausbeutung und Unterdrückung wurden im Kolonialismus bewusst eingesetzt. Die Auswirkungen auf das Klima durch die industrielle Revolution waren aber nicht beabsichtigt, die entsprechenden Gefahren waren nicht einmal bekannt.
Eine Klimaschuld entspringt daher vor allem den Handlungen heute lebender Personen. Zwar hat die Bevölkerung des globalen Nordens auch heute nicht den Wunsch, dem Klima zu schaden, aber sie ist genau über die Konsequenzen ihres Handelns informiert. Nach dem Verursacherprinzip folgt der Anspruch der Geschädigten auf Kompensation. Ein »Freikaufen« kann es allerdings nicht geben: Selbst wer Entschädigung zahlt, darf mit seiner Schädigung nicht fortfahren.
Ist es eine Pflicht derjenigen Staaten, die den Klimawandel verursacht haben, für alle so genannten Klimaflüchtenden zu sorgen?
Es besteht in jedem Fall die Pflicht, jenen Anteil an Klimaflüchtenden zu versorgen, der dem Prozentsatz der Klimaschäden entspricht, die der jeweilige Staat seit Bekanntwerden der wissenschaftlichen Zusammenhänge verursacht hat.
In Ihrem 1795 erschienen Traktat »Zum ewigen Frieden« schreiben Sie auch etwas über die Bewegungsfreiheit von Menschen: Ein »Fremdling« dürfe ausschließlich dann abgewiesen werden, »wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann«. Das klingt, als hätten Sie schon damals die Idee eines Asylrechts skizziert. Welche Migrationspolitik halten Sie für moralisch vertretbar?
Aus der Würde des Menschen folgt das Anrecht auf einen gerechten, gesetzesmäßigen Zustand. Das passiert in drei Schritten: Zuerst braucht es Rechtsstaaten, in denen Bürgerinnen und Bürger einander wechselseitige Rechte zugestehen. Darauf folgt das Völkerrecht. Der letzte und schwierigste Schritt ist das Weltbürgerrecht. Diese Idee besagt, dass jeder Mensch auch außerhalb seines Herkunftslandes gewisse Ansprüche gegenüber Mitmenschen und fremden Staaten hat. Das Asylrecht ist hierfür ein gutes Beispiel: Niemand darf abgewiesen werden, wenn dies seinen Untergang bedeutet.
Hilfe in der Not ist das eine. Aber würde zu den »gewissen Ansprüchen« eines Weltbürgers dann nicht auch das Recht zählen, sich überall nach Belieben niederzulassen?
In einer idealen Welt wäre das so, ja. Schließlich war der Ort unserer Geburt ein reiner Zufall. Allerdings darf man in diesem Zusammenhang historische Entwicklungen nicht ausblenden: Es haben sich bereits an zahlreichen Orten Volksgruppen niedergelassen und diese haben durch Gewohnheit, aber auch durch die Arbeit von Generationen ein Anrecht auf gewisse Landstriche erworben.
Aus diesem Grund folgt aus dem Weltbürgerrecht nur der Anspruch, sich an jedem Ort der Erde als Handelspartner oder neuer Teil der Gesellschaft anzubieten. Bei einer Ablehnung muss man weiterziehen oder in das Herkunftsland zurückkehren. Heute mag dieser Gedanke unsympathisch klingen, aber für mich war es die entscheidende Figur, um den Kolonialismus der Europäer zu verurteilen.
In den letzten Jahren standen Sie dennoch weniger als Kolonialismuskritiker im Rampenlicht. Stattdessen ging es immer wieder um rassistische Äußerungen in Ihren Schriften. In mehreren Texten haben Sie eine Hierarchie der »Rassen« aufgestellt – die Details sollen uns hier erspart bleiben. Können Sie dazu Stellung beziehen?
Die Kurzfassung lautet: Ja, nach heutigen Maßstäben bin ich Rassist gewesen. An vielen meiner Äußerungen gibt es nichts zu beschönigen. Dies gilt für die Abwertung von Völkern ebenso wie für andere bedauerliche Aussagen zum Beispiel über Homosexualität. Meine Person will ich daher gar nicht verteidigen. Verteidigen möchte ich allerdings das System meiner Philosophie: Es ist die wichtigste und belastbarste Begründung von Antirassismus überhaupt.
»Urteilen Sie über mich als Person, wie Sie wollen, aber bitte verwerfen Sie nicht ungeprüft das System meiner Philosophie!«
Dem würden manche Ihrer Kolleginnen und Kollegen widersprechen. Sie sehen durchaus auch in Ihrem philosophischen System rassistische Elemente. Der Vorwurf lautet, dass Sie nur Europäer als Würdeträger ansähen.
In diesem Zusammenhang bitte ich um einen fairen Umgang mit meiner Arbeit. In meinen Hauptwerken findet sich keine einzige Formulierung dieser Art. Vielmehr schreibe ich moralische Kategorien wie Würde, Verantwortung, Bürger- und Weltbürgerrechte explizit der gesamten Menschheit zu, nämlich der »Species vernünftiger Erdwesen«. Kennen Sie eine bessere Begründung universeller Menschenrechte?
Auf dieser Basis habe ich mich in meinen Spätschriften leidenschaftlich gegen Kolonialismus und Sklaverei eingesetzt. Urteilen Sie über mich als Person, wie Sie wollen, aber bitte verwerfen Sie nicht ungeprüft das System meiner Philosophie! Wäre es klug, eine rettende Medizin zu verweigern, nur weil die Erfinderin selbst erkrankt war?
Im Februar 2022 hat Wladimir Putin den russischen Überfall auf die Ukraine angeordnet. Ein eindeutiger Verstoß gegen das Völkerrecht. Die Bundesregierung sieht es als ihre Pflicht, die Ukraine bei der Verteidigung gegen diese Invasion zu schützen, und ist sogar von ihrem Grundsatz abgerückt, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern. Wie bewerten Sie das?
Es ist legitim, wenn die Völkergemeinschaft Aggressoren sanktioniert und Überfallenen militärisch zu Hilfe eilt. Das Völkerrecht ist ein hohes Gut und muss verteidigt werden. Daher unterstütze ich die Waffenlieferung an die Ukraine.
Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen. Allerdings folgt daraus nicht, dass die Ukraine militärisch siegen muss. Wer Waffen liefert, darf auch vom Verteidiger die Bereitschaft zu Verhandlungen erwarten. Ein Waffenstillstand vor der Rückeroberung aller besetzten Gebiete bedeutet keinesfalls die Akzeptanz des Status quo oder einen Triumph des Angreifers. Leider ist die Verhandlungsoption nicht aktuell. Solange ein Aggressor auf die totale Vernichtung des Angegriffenen abzielt, besteht das uneingeschränkte Recht zur Selbstverteidigung und zur Unterstützung.
In Ihrem schon angesprochenen Werk »Zum ewigen Frieden« beschreiben Sie die Bedingungen für einen Weltfrieden. Einiges von dem, was Sie damals gefordert haben, ist inzwischen Realität geworden. Mit der Charta der Vereinten Nationen gibt es eine Verfassung der internationalen Staatengemeinschaft, die wesentlich von Ihrer Schrift inspiriert wurde. Warum gibt es trotzdem noch Kriege auf dieser Welt? Sind Ihre Forderungen nicht ausreichend verwirklicht – oder lagen Sie etwa falsch?
Wie so oft, wenn es um den Menschen geht, haben wir Anlass zur Begeisterung und zur tiefen Frustration. Immerhin: Die Vereinten Nationen, die Erklärung der Menschenrechte, der internationale Strafgerichtshof, all dies ist Realität. Welche Gattung kann von sich behaupten, auf dem Wege der Aufklärung und der Zivilisation so weit vorangekommen zu sein? Gleichzeitig ist nichts so verlässlich wie die Dummheit des Menschen, sein Egoismus und seine Aggressivität. Noch einmal: Wir sind vernunftbegabt, nicht vernunftaffin.
Deshalb dürfen wir auf keinen Fall nachlassen. Der eingeschlagene Weg ist richtig. Die erschaffenen Institutionen sind reformbedürftig, aber prinzipiell ebenso wünschenswert wie alternativlos. Es wird ein Prozess der unendlichen Annäherung in vielen kleinen Schritten und mit zahlreichen Rückschlägen hin zu einer besseren und friedlicheren Welt. Selbst wer daran zweifelt, hat doch die moralische Pflicht, so zu handeln, als ob diese Entwicklung möglich wäre.
Sie haben einmal von der »natürliche(n) Überlegenheit des Vermögens des Mannes über das weibliche« geschrieben. Auch mit weiteren Äußerungen rechtfertigten Sie die Ungleichbehandlung der Geschlechter. Heute haben Frauen dieselben Rechte wie Männer, und kein Philosoph würde bezweifeln, dass das gut und richtig ist. Zumindest kenne ich keinen.
In der Tat, die geschätzten Kollegen und Kolleginnen können sich dabei sogar auf die Strenge meines eigenen Systems stützen, um diese Aussagen von damals als falsch und dumm zu entlarven. Allerdings bitte ich Sie, genau zu lesen. In der Regel bezieht sich der von Ihnen geäußerte Vorwurf auf meine Schrift »Was ist Aufklärung?«. Darin bezeichne ich die Mehrheit der Menschheit als unmündig, und ja, »darunter das ganze schöne Geschlecht«. Wer dies als Frauenfeindlichkeit geißelt, hat überlesen, dass ich zwei Arten von Unmündigkeit unterscheide. Nicht selbstverschuldet unmündig sind Personen, denen es an Verstand mangelt und die deshalb der Anleitung eines Vormundes bedürfen. Das schöne Geschlecht zählt zu den selbstverschuldet Unmündigen: Es verfügt sehr wohl über Verstand und Vernunft. Es fehlt ihm an Mut und Entschlossenheit, sich dieser Fähigkeiten ohne die Obhut eines Vormundes zu bedienen. In der Regel ist dies die Folge falscher Autoritäten und manipulativer Erziehung. So gelesen, können Sie meine Schrift auch als einen feministischen Aufruf zur Revolution verstehen.
Wo sehen Sie die Menschheit heute auf einem moralisch besonders schrecklichen Irrweg?
Identitätswahn von rechts und links. Der ethische Universalismus der Aufklärung begründet die Würde des Menschen auf Grund seiner individuellen Fähigkeit, sich über persönliche Neigungen und kulturelle Prägungen zu erheben und Gutes zu tun.
Rechtsorientierte Kreise haben stets an der Gruppenidentität festgehalten und den ethischen Universalismus bekämpft. Unsagbar traurig ist es jedoch, wenn jetzt auch so genannte Linke in dieses Stammesdenken zurückfallen. Etwa wenn der Wert einer Aussage an die Zugehörigkeit zu einer Gruppe gebunden wird oder sogar das Recht, überhaupt zu sprechen. Der Rassismus und die kulturelle Identitätszuweisung, die mühsam aus der Vordertür gejagt wurden, kehren damit in netter Verkleidung durch die Hintertür zurück.
Wir müssen endlich lernen, zwischen Soziologie und Ethik zu unterscheiden. Aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe folgt soziologisch sehr viel, ethisch aber gar nichts! Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wären Sie eine schwarze, homosexuelle Frau, so hätte dies massive soziologische Folgen, zu denen leider auch Diskriminierung und Marginalisierung zählen. Ethisch betrachtet sind alle genannten Attribute jedoch irrelevant. Sie sind ohne jede Bedeutung für Ihren moralischen Status. Das ist sehr wichtig, denn sonst käme es erneut zur Klassifizierung. Natürlich haben Sie das Recht, ohne Diskriminierung und Marginalisierung zu leben. Doch dafür gibt es nur einen einzigen, alles entscheidenden Grund: Sie sind Würdeträgerin. Oder in meinen Worten: Sie sind Zweck an sich selbst.
Was wäre Ihnen die wichtigste Botschaft an die Menschen von heute?
Versammelt euch wieder hinter Argumenten statt hinter Gefühlen! Sapere aude!
Das Interview führte der Wissenschaftsjournalist Anton Benz, die Antworten lieferte Markus Tiedemann.
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