News: Mr. Ples verwirrt die Wissenschaft
Der Schädel von Mr. Ples wurde 1989 von Alun Hughes und Phillip Tobias in Südafrika gefunden. Er ist 2,6 bis 2,8 Millionen Jahre alt und gehörte vermutlich zu einem Australopithecinen. Diese menschenähnlichen Wesen gingen auf zwei Beinen, ernährten sich von zähen Pflanzen, stellten primitive Hackwerkzeuge her und lebten vor etwa 3,5 bis 2,5 Millionen Jahren in einem feuchten, bewaldeten Afrika.
Conroy und seine Kollegen nannten das Fossil Mr. Ples, weil es aus Sterkfontein stammt, wo seinerzeit auch "Mrs. Ples" gefunden wurde, der erste anscheinend komplette Schädel eines erwachsenen Australopithecinen. Der Schädel von Mr. Ples ist auf einer Seite gut erhalten, auf der anderen dagegen teilweise offen. Früher wurde seine Gehirnkapazität auf über 600 Kubikzentimeter geschätzt, was etwa 2,5 Wassertassen entspricht. "Ein so großes Gehirn wäre ziemlich außergewöhnlich gewesen, denn alle anderen Hirne des Australopithecus africanus liegen in etwa bei 400 Kubikzentimetern", erklärt Conroy.
Bereits 1984 entwickelten Conroy und der Radiologe Michael W. Vannier eine heute sehr verbreitete Methode, um fossile Schädel zu analysieren: Sie erstellten Bilder mit einem Computertomographen. Dadurch konnten die Forscher in mit Stein gefüllten Schädel hineinsehen und hohle Schädel, bei denen Teile fehlten, rekonstruieren.
In einem Johannesburger Krankenhaus erstellte Conroy mit Hilfe dieser Technik einen virtuellen Abdruck von Mr. Ples Schädel. Nach der Analyse jeder einzelnen Schnittscheibe des 3-D-Bildes errechnete er ein Gehirnvolumen knapp 500 Kubikzentimetern. "Obwohl dies immer noch das größte bekannte Hirn eines A. africanus ist, kommt es keinesfalls in die Nähe jener Werte, von denen die Paläoanthropologen ständig reden", sagt Conroy, der zu umsichtig war, um seine überraschenden Ergebnisse sofort zu veröffentlichen.
1997 hörte er aber von Horst Seidler, der an der Wiener Universität tätig ist. Seidler hatte ähnliche Untersuchungen am berühmten "Ötzi" durchgeführt. Etliche Wochen später besuchten Conroy und der südafrikanische Anthropologe Phillip V. Tobias dann Seidler und Gerhard Weber in Wien. Die österreichischen Wissenschaftler hatten anhand von Conroys Daten des Australopithecinen-Schädels ein reales 3-D-Modell wie auch ein virtuelles Modell entwickelt. Auch sie hatten berechnet, welches Volumen dem Hirn von Mr. Ples zur Verfügung stand und hatten es zudem ausprobiert, indem sie einfach Wasser in das Plastikmodell gossen. Mit beiden Methoden erzielten sie die gleichen Resultate wie Conroy. Mr. Ples Schädel hatte, so die Schlußfolgerung der Wissenschaftler, eine Kapazität von etwa 515 Kubikzentimetern. Um dieses Ergebnis zu bestätigen, löschten sie die Schädelknochen im Computerbild und erschufen so ein virtuelles Gehirn, das sie anschließend wieder in den Schädel einpaßten.
Wieder zurück in St. Louis, analysierte Conroy den Schädel eines anderen frühen Hominiden. Dieser A. africanus, dessen Fossil ebenfalls in Sterkfontein gefunden worden war, hatte ein Volumen von 370 anstelle der bislang vermuteten 440 Kubikzentimetern. "Ich war geschockt", sagt Conroy, "denn eigentlich hätte es einen quantitativen Sprung in der Gehirngröße geben müssen, der die frühen Hominiden von den Menschenaffen unterschied. Doch 370 Kubikzentimeter entsprechen der Größe eines Schimpansenhirns. Unsere Studie von Mr. Ples zeigt allerdings klar, daß vor 2,6 Millionen Jahren jemand eine Gehirngröße von über 500 Kubikzentimetern hatte. Hat sich also bei einigen Australopithecinen die Gehirngröße sprunghaft gesteigert und sich bei ihren Nachfahren schrittweise bis zur heutigen Größe von mindestens 1200 Kubikzentimetern erweitert?"
Obwohl die neue Studie zu mehr Fragen als Antworten führte, weist sie auf drei wichtige Schlußfolgerungen hin, sagen die Forscher. "Zunächst einmal gibt es keinen Hinweis, daß irgendein Australopithecine eine Gehirnkapazität in der Nähe von 600 Kubikzentimetern hatte", erläutert Conroy. "Zweitens könnten einige Schätzungen der Gehirngröße bei frühen Hominiden zu hoch sein. Und drittens bieten die digitalen 3-D-Modelle eine sehr genaue Methode zu bestimmen, wieviel Gehirn sich in einem fossilen Schädel befand."
Der Heidelberger Verlag Spektrum der Wissenschaft ist Betreiber dieses Portals. Seine Online- und Print-Magazine, darunter »Spektrum der Wissenschaft«, »Gehirn&Geist« und »Spektrum – Die Woche«, berichten über aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.