Direkt zum Inhalt

Orales Mikrobiom: Mundbakterien können den Körper krank machen

Im Mund und Rachen leben unzählige Viren, Pilze und Bakterien. Auch deshalb ist eine gute Zahnpflege so wichtig: Menschen mit einer gesunden Mundflora erkranken seltener an Alzheimer, Arteriosklerose und Krebs.
Zahnärztin nähert sich mit Instrumenten einem Mund
Der Besuch beim Zahnarzt ist vielen Menschen ein Graus. Aber was die Gesundheitsvorsorge betrifft, zahlt er sich gleich mehrfach aus.

Der Behandlungsstuhl neigt sich surrend nach hinten. »Mund weit aufmachen«, befiehlt der Maskierte und beginnt mit seinen spitzen Metallwerkzeugen in meinem Mund herumzuwerkeln. Dazu dieser penetrante Geruch nach Desinfektionsmittel, ganz zu schweigen von der Angst, dass vielleicht gebohrt werden muss. Kein Wunder, dass viele Menschen den nächsten Termin beim Zahnarzt so lange wie möglich vor sich her schieben. Doch vielleicht ist es an der Zeit, umzudenken. Denn aktuellen Erkenntnissen zufolge könnte unsere »Mundgesundheit« das Geheimnis für ein längeres Leben bergen!

Im Fokus der Forschung steht dabei das »orale Mikrobiom«, jene Unmengen von Viren, Pilzen und Bakterien, die sich in Mund und Rachen tummeln. Vernachlässigt man die Zahnhygiene, können sich schädliche Mikroben vermehren, sich von dort aus im ganzen Körper verteilen und gesundheitliche Probleme nach sich ziehen oder verstärken – von Herz-Kreislauf-Erkrankungen über Arthritis bis hin zu Krebs und Alzheimer.

Bakterien auf Wanderschaft

Jeder Mensch ist von innen wie außen geradezu übersät mit Mikroorganismen. Man weiß schon länger, dass die Darmflora mit unserer Gesundheit, unserer Fitness und sogar mit unserem emotionalen Zustand verknüpft ist. Ähnliches gilt vermutlich auch für das orale Mikrobiom. Rund 700 verschiedene Bakterienarten sind im Mund bekannt, aber nur die richtige Mischung scheint die Gesundheit zu unterstützen. Bereits 1891 stellte der US-amerikanische Zahnarzt Willoughby D. Miller die These auf, dass gefährliche Bakterien aus dem Mund in andere Teile des Körpers einwandern, wo sie Krankheiten auslösen. Frank Billings, Mitbegründer des Institute of Medicine in Chicago, spekulierte rund 20 Jahre später, Zahninfektionen würden unter anderem rheumatoide Arthritis verursachen. Stichhaltige Belege für solche Zusammenhänge fanden sich aber erst 1989. Kimmo Mattila von der Universitätsklinik Helsinki und sein Team hatten damals beobachtet, dass Karies und Zahnfleischentzündungen bei Personen mit einem Herzinfarkt dramatisch häufiger anzutreffen sind als bei einer Kontrollgruppe, selbst wenn man Alter, soziale Schicht und Rauchgewohnheiten berücksichtigte. Laut einer epidemiologischen Metaanalyse von 2017 haben Menschen mit Zahnfleischerkrankungen zudem ein 20 Prozent höheres Risiko, im Lauf ihres Lebens an Krebs zu erkranken.

In den letzten Jahren hat sich die Technik der DNA-Sequenzierung rasant verbessert. So kann man heute selbst geringe Mengen eines Bakteriums recht schnell anhand seines Erbguts identifizieren und das Mikrobiom eines Gewebes bestimmen. Bis vor Kurzem war beispielsweise unklar, ob die bei Alzheimerkranken häufig beobachteten Zahnfleischprobleme eher Ursache oder Folge der demenziellen Entwicklung sind. Doch 2019 entdeckten Forschungsteams im Gehirn von verstorbenen Patienten Bakterienarten, die Zahnfleischentzündungen verursachen – darunter Porphyromonas gingivalis. Im Hippocampus, einer für das Gedächtnis essenziellen Hirnregion, ließen sich außerdem proteinspaltende Enzyme nachweisen, die von diesem Bakterium sezerniert werden, so genannte Gingipaine. Auch fand man bei Mäusen mit künstlich erzeugter Zahnfleischerkrankung im Gehirn vermehrt Entzündungen, Zellschäden sowie Beta-Amyloid-Plaques, die als typisches Kennzeichen der Alzheimerkrankheit gelten. Solche Entdeckungen stützen die Vermutung, dass Mundbakterien im Gehirn tatsächlich die gefürchtete Demenz mitverursachen.

Schön bunt, aber nicht gesund | Porphyromonas gingivalis ist einer der Hauptverursacher der Parodontose.

Dort, wo das Zahnfleisch die Zähne umschließt, befindet sich ein Spalt. Bei einer Person mit gesunden Zähnen und gesundem Zahnfleisch ist er winzig. Putzt man aber nicht richtig, können sich in der Furche Bakterien ansammeln und das Zahnfleisch entzündet sich. Bei starker Entzündung zieht es sich von den Zähnen zurück und bildet tiefe Taschen, in denen sich die schädlichen Bakterien noch besser verstecken können. Sie vermehren sich und gelangen schließlich durch entzündete Wunden, die auch Zahnfleischbluten verursachen, in den Blutkreislauf. »Die Zähne sind das schwächste Glied des Körpers«, sagt der Parodontologe Alpdogan Kantarci am Forsyth Institute in Cambridge, Massachusetts, USA.

»Die Zähne sind das schwächste Glied des Körpers«Alpdogan Kantarci, Parodontologe am Forsyth Institute in Cambridge

Dank unseres Immunsystems überleben fremde Mikroben im Blut normalerweise nicht lange. Wie kommen sie also ins Gehirn? Nach einer aktuellen Studie der Gruppe um Kantarci könnten die Bakterien quasi inkognito in den Immunzellen ihres Wirts mitreisen. Das Team entnahm Menschen ohne nennenswerte gesundheitliche Probleme so genannte »Neutrophile«. Dieser Typ von Abwehrzellen ist darauf spezialisiert, eindringende Bakterien zu zerstören. Erstaunlicherweise überlebte Fusobacterium nucleatum, ein im Mund häufig anzutreffendes Bakterium, das Killerkommando. Anstatt die Eindringlinge abzutöten, transportierten die Neutrophilen das Bakterium im In-vitro-Versuch über weite Strecken. Bei Larven des Zebrabärblings beobachtete das Team zudem, dass die Abwehrzellen den Erreger wie in einem trojanischen Pferd verborgen im Körper verbreiten können.

Eine verhängnisvolle Kettenreaktion

Wie die Alzheimerkrankheit entstehen kann, wenn die oralen Bakterien erst einmal im Gehirn sind, brachte eine zweite Studie ans Licht. Kantarcis Team infizierte das Zahnfleisch von Mäusen und verfolgte, wie die Mikroben in das Gehirn der Nager wanderten. Dort schienen sie eine weitere Art an Immunzellen, die Mikroglia, zu aktivieren. Üblicherweise zerstört dieser Zelltyp eindringende Krankheitserreger und sendet chemische Signale aus, die wiederum andere Immunzellen auffordern, sich dem Verteidigungskampf anzuschließen. Daneben entfernen Mikroglia Beta-Amyloid-Plaques. Im Gehirn von Alzheimerpatienten sind sie demnach gut beschäftigt. Kantarci spekuliert nun, dass die eingewanderten oralen Bakterien die ohnehin schon ausgelasteten Mikroglia überfordern. Dadurch würden sie eine Lawine von Entzündungen auslösen, welche die Entwicklung der Alzheimerkrankheit triggern. Die Bakterien sind womöglich der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Die Mikroben können aber vom Mund aus auch in den Darm wandern und dort Schaden anrichten. »Normalerweise werden Bakterien, die ein Mensch verschluckt, durch Magensäure abgetötet. Außerdem finden sie in einem gesunden Darm keinen Platz, weil dieser bereits mit anderen Bakterien besiedelt ist«, sagt Joana Neves vom King's College London. Die Immunologin und weitere Fachleute vermuten jedoch, dass gesundheitliche Probleme wie eine chronisch entzündliche Darmerkrankung (CED) das ändern. Eine Studie mit 39 Betroffenen, die sich einer Darmoperation unterzogen hatten, lieferte deutliche Indizien dafür. Es stellte sich heraus, dass die Biopsie aus dem erkrankten Bereich viel mehr orale Bakterien enthielt als benachbartes gesundes Dickdarmgewebe.

Löchriger Darm wird zum Problem

Bei Menschen mit CED könnte zudem die Darmschleimhaut durchlässiger sein, so dass Mundbakterien leichter ins Blut gelangen. Das würde das Immunsystem in Aufruhr versetzen und dazu führen, dass sich der Darm selbst angreift. Eine internationale Arbeitsgruppe konnte 2020 bei Mäusen bereits demonstrieren, wie sich die Bakterien bei einer Zahnfleischentzündung massenhaft vermehrten, in den Magen gelangten und dort eine Darmentzündung auslösten.

Im Fall von Alzheimer und CED kann man also davon ausgehen, dass orale Bakterien ein bereits bestehendes Leiden verschlimmern. Bei diversen anderen Krankheiten halten einige Fachleute die Mundmikroben sogar für eine Ursache. Ein Beispiel dafür ist die Arteriosklerose, bei der sich Cholesterin und andere Fette in den Arterien ablagern. Die Plaques blockieren die Blutgefäße und können so schließlich einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall nach sich ziehen. Der Kardiologe Ntobeko Ntusi von der University of Cape Town in Südafrika fand einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Schwere der Erkrankung und der Bakterienzusammensetzung in der Mundhöhle. Eine andere Studie beobachtete mehr als 10 000 gesunde Freiwillige über einen Zeitraum von 15 Jahren: Jene mit einer Zahnfleischerkrankung hatten doppelt so häufig einen Schlaganfall erlitten! Laut einer weiteren Analyse erhöhen Zahnfleischerkrankungen und Zahnverlust das Risiko einer koronaren Herzkrankheit um 24 beziehungsweise 34 Prozent.

Im Jahr 2011 sequenzierte ein Team unter der Leitung der Parodontologin Elena Figuero Ruiz von der Universidad Complutense de Madrid die Bakterien-DNA in den Plaques der Halsschlagadern herzkranker Menschen. Wieder fanden sich Mikroben, die üblicherweise mit Zahnfleischerkrankungen in Verbindung gebracht werden, darunter Porphyromonas gingivalis. Anscheinend wandern orale Bakterien also auch in die Arterien und siedeln sich dort an. Dabei bilden sie laut Ntusi einen Biofilm, der sie vor Antibiotika und körpereigenen Abwehrmechanismen schützt.

Einmal eingenistet, bringen die Erreger Immunzellen dazu, Zytokine auszuschütten. Diese Botenstoffe triggern wiederum die Umwandlung des LDL-Cholesterins (auch bekannt als »schlechtes Cholesterin«) in eine spezielle oxidierte Form, die sich dann an den Arterienwänden ablagert. Experimente an Nagetieren und Schweinen haben gezeigt, dass selbst völlig gesunde Tiere schnell Herzkrankheiten entwickeln, wenn sich Mundbakterien in ihren Herzkranzgefäßen ansiedeln.

Wege zur gesunden Mundflora

Ein schlechtes orales Mikrobiom ist demnach offenbar sehr gefährlich. Aber wer außer vielleicht den Reichen und Schönen hat schon ein perfektes Gebiss? Glücklicherweise ist es gar nicht so schwer, seine Zähne gut zu pflegen. Zahnärzte empfehlen, zweimal am Tag mit fluoridhaltiger Zahnpasta zu putzen und die Zwischenräume mit Zahnseide und Interdentalbürstchen zu reinigen. Entwickelt sich trotzdem eine Zahnfleischentzündung, gibt es wirksame Behandlungen – zum Beispiel eine Tiefenreinigung unter dem Zahnfleisch, bei der mit speziellen Instrumenten Plaque, Zahnstein und Bakterien entfernt werden. Auch die Gabe von Antibiotika, eine Zahnfleischoperation oder das Ziehen von zerstörten Zähnen zählen zu den Therapiemöglichkeiten. Kosmetische Eingriffe wie Verblendschalen für Zähne scheinen dem oralen Mikrobiom dagegen weder zu helfen noch zu schaden.

Der Zahnmediziner Eric Reynolds von der University of Melbourne in Australien geht einen Schritt weiter. Er forscht an einem Impfstoff gegen Zahnfleischerkrankungen, der den Körper dazu bringen soll, Antikörper zu produzieren, die wiederum die Gingipaine, also die schädigenden Enzyme von Porphyromonas gingivalis, neutralisieren. 2016 wurde der Impfstoff erfolgreich an Mäusen getestet. Reynolds plant nun Versuche am Menschen.

Transplantation des oralen Mikrobioms

Die Anthropologin Laura Weyrich von der Pennsylvania State University, USA, hatte eine noch radikalere Idee. Sie und ihr Team haben in den letzten zehn Jahren die Bakterien in Zahnbelägen von Verstorbenen aus verschiedenen Zeitaltern der Menschheit untersucht. Im Allgemeinen war die Mundgesundheit der Neandertaler und anderer früherer Menschenformen ausgezeichnet, sagt sie. Neandertaler etwa hatten dicke Beläge auf den Zähnen, aber nur sehr selten Karies. Die wenigen Betroffenen lebten in Gegenden, in denen sie sich von relativ zuckerhaltigen Eicheln ernähren konnten.

Gut erhalten | Neandertalerzähne wie diese 64 000 Jahre alten Backenzähne waren oft in hervorragendem Zustand.

Ihren Ergebnissen zufolge verschlechterte sich die Zusammensetzung des oralen Mikrobioms unserer Vorfahren deutlich, nachdem sie vor etwa 8000 Jahren von Jägern und Sammlern zu Bauern geworden waren. »Die Menschen änderten ihre Ernährung drastisch und begannen, mehr Kohlenhydrate zu essen«, sagt Weyrich: »Das führte zu einer Selektion jener Mikroben, die wir mit Karies in Verbindung bringen.« Inzwischen hat die Forscherin herausgefunden, dass sich das orale Mikrobiom nach der industriellen Revolution und dem Zweiten Weltkrieg nochmals ähnlich stark wandelte.

Diese Ergebnisse brachten Weyrich auf einen aufregenden Gedanken: Könnten wir unser schlechtes, modernes orales Mikrobiom gegen die gesunde Version der Neandertaler austauschen? Immerhin werden Fäkaltransplantationen bereits eingesetzt, um das Darmmikrobiom wieder mit gesunden Bewohnern aufzufüllen. Weyrich stellt sich vor, dass man die Bakterien auf eine Art Zahnschiene aufträgt, die dann für kurze Zeit auf die eigenen Zähne gesetzt wird, damit sich die Mikroben dort niederlassen können. Allerdings ist noch nicht klar, ob man die Bakterien, die man in zig Jahrtausende alten menschlichen Überresten gefunden hat, so ohne Weiteres kultivieren kann.

»Wir wissen, dass es Menschen gibt, die viel Zucker essen, sich nie die Zähne putzen, nie zum Zahnarzt gehen und auf wundersame Weise trotzdem keine Karies bekommen«Laura Weyrich, Anthropologin an der Pennsylvania State University

In Zusammenarbeit mit einem Team um Peter Zilm von der University of Adelaide in Australien hat Weyrich auch eine Reihe von nützlichen Mikroben im Mund von heute lebenden zahngesunden Personen identifiziert. »Wir wissen, dass es Menschen gibt, die viel Zucker essen, sich nie die Zähne putzen, nie zum Zahnarzt gehen und auf wundersame Weise trotzdem keine Karies bekommen«, sagt Weyrich. Diese Glücklichen will sie als Mikrobiom-Spender einsetzen.

Bei Ratten hat ihr Team bereits erfolgreiche Transplantationen durchgeführt. Bevor die Technik allerdings beim Menschen angewendet werden kann, sind einige Fragen zu klären. Möglicherweise profitiert nicht jeder Mensch von derselben Mundflora. Es könnte nutzlos oder sogar schädlich sein, australische Aborigines mit Bakterien eines Europäers zu infizieren – oder heutige Menschen mit dem Mikrobiom eines Neandertalers. Sie sei zwar begierig, das Puzzle zu vervollständigen, sagt Weyrich: »Aber wir müssen mit Bedacht vorgehen.«

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

  • Quellen

Almarhoumi, R. et al.: Microglial cell response to experimental periodontal disease. Journal of Neuroinflammation 20, 2023

Domini, S. S. et al.: Porphyromonas gingivalis in Alzheimer’s disease brains: Evidence for disease causation and treatment with small-molecule inhibitors. Science Advances 5, 2019

Ellett, F. et al.: Fusobacterium nucleatum dissemination by neutrophils. Journal of Oral Microbiology 15, 2023

Kitamoto, S. et al.: The intermucosal connection between the mouth and gut in commensal pathobiont-driven colitis. Cell 182, 2020

Tonelli, A. et al.: The oral microbiome in the pathophysiology of cardiovascular disease. Nature Review Cardiology 20, 2023

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.