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Gedächtnis: Bis ins hohe Alter erinnern wir uns gut an Musik

Musik bleibt im Gedächtnis, selbst wenn andere Erinnerungen verblassen. Das zeigt nun ein Experiment während eines Livekonzerts mit klassischer Musik. Der Grund dafür könnten die Emotionen sein, die Musik in uns auslöst.
Alte, runzelige Hände, die junge Hände beim Klavierspielen anleiten
Für manche Menschen mag der Gedanke, dass uns Musik bis ins hohe Alter hinein erhalten bleibt, ein tröstlicher sein.

Die Fähigkeit, sich an Melodien zu erinnern und sie wiederzuerkennen, scheint im Gegensatz zu vielen anderen Aufgaben, die unser Gedächtnis beanspruchen, nicht vom Alter abhängig zu sein. Das berichtet ein Team um die Musikwissenschaftlerin Sarah Sauvé im Fachmagazin »Plos One«.

»Man hört immer wieder Anekdoten über Menschen mit schwerer Alzheimerdemenz, die nicht mehr sprechen können, niemanden mehr wiedererkennen, aber Lieder aus ihrer Kindheit singen oder Klavier spielen«, sagt Sauvé, die heute an der University of Lincoln im Vereinigten Königreich forscht. Frühere Untersuchungen haben bereits gezeigt, dass viele Gedächtnisfunktionen durch das Altern beeinträchtigt werden. So schneiden ältere Menschen etwa bei Gedächtnisaufgaben schlechter ab, die eine Verarbeitung von Informationen in Echtzeit erfordern, während sich bei Tests, die auf dem Abruf von vertrauten Informationen und auf automatischen Prozessen beruhen, kein Unterschied feststellen lässt. Welchen Einfluss das Alter auf die Fähigkeit hat, sich an Musik zu erinnern, haben Forscherinnen und Forscher ebenfalls bereits untersucht. Doch Sauvé wollte den Effekt in einem Setting in der realen Welt erforschen: während eines Konzerts – und zum Vergleich in einem Laborsetting mit einem Mitschnitt der Aufführung.

»Man hört immer wieder Anekdoten über Menschen mit schwerer Alzheimerdemenz, die nicht mehr sprechen können, keine Menschen mehr wiedererkennen, aber die Lieder aus ihrer Kindheit singen oder Klavier spielen«Sarah Sauvé, Musikwissenschaftlerin

Für ihre Studie testete sie, wie gut eine Gruppe von etwa 90 gesunden Erwachsenen im Alter von 18 bis 86 Jahren dazu in der Lage war, bekannte und unbekannte Musikstücke bei einem Livekonzert zu erkennen. Die Versuchspersonen wurden bei einer Aufführung des Newfoundland Symphony Orchestra im kanadischen St. John's rekrutiert. Weitere 31 Personen sahen sich zudem eine Aufzeichnung des Konzerts im Labor an.

Sauvé und ihr Team konzentrierten sich auf insgesamt drei Musikstücke, die während des Konzerts gespielt wurden: Mozarts »Eine kleine Nachtmusik«, von der die Forscher annahmen, dass sie den meisten Teilnehmern bekannt sein würde, und außerdem zwei eigens in Auftrag gegebene Stücke. Eines davon war tonal und melodisch eingängig, das andere war atonal und entsprach nicht den typischen melodischen Normen unserer westlichen klassischen Musik. Die Probandinnen und Probanden bekamen zunächst jeweils dreimal eine kurze Sequenz aus jedem der drei Stücke vorgespielt. Anschließend lauschten sie dem Konzert entweder live vor Ort oder im Laborversuch. Dabei sollten sie stets auf einen Knopf drücken, wenn sie eine der drei vorgegebenen Sequenzen während der Aufführung wiederzuerkennen meinten.

Auszüge aus Mozarts »Eine kleine Nachtmusik« wurden von den Teilnehmern aller Altersgruppen und unabhängig von der individuellen musikalischen Vorerfahrung gleich gut wiedererkannt. Bei den beiden unbekannten Stücken schnitten die Probanden schlechter ab, vor allem bei der atonalen Komposition. Doch selbst hier zeigte sich kein Unterschied zwischen den Altersklassen – und zwar ganz gleich, ob die Teilnehmer den Musikstücken live vor Ort oder im Labor lauschten.

Steffen Herff, kognitiver Neurowissenschaftler an der University of Sydney, geht davon aus, dass die Emotionen, die Musik in uns Menschen hervorruft, einer der Gründe dafür sein könnte, warum das musikalische Gedächtnis gegenüber altersbedingten kognitiven Abbauprozessen so widerstandsfähig zu sein scheint. Durch sie werden Musikstücke möglicherweise nachhaltiger im Gedächtnis verankert. »Wir wissen aus der allgemeinen Gedächtnisforschung, dass die Amygdala – oder die emotionale Verarbeitung – ein wenig wie eine Art ›Bedeutungsstempel‹ funktioniert«, erklärt er. Die Amygdala ist eine Gehirnregion, die eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung von Emotionen spielt.

Musik neige außerdem dazu, bestimmten Regeln zu folgen, so Herff. Auch das könnte dem Gedächtnis helfen.

Nicht für alle Studienteilnehmer konnten die Forscher vollumfänglich Daten zur kognitiven Gesundheit sammeln. Zu der Frage, inwiefern sich kognitive Beeinträchtigungen oder neurodegenerative Erkrankungen auf das Musikgedächtnis auswirken, lassen sich deshalb keine detaillierten Aussagen aus der Studie ableiten. Herff zufolge besteht jedoch ein großes Interesse daran, Musik als eine Art »kognitives Gerüst« bei Personen mit Krankheiten wie Demenz einzusetzen: als eine Gedächtnisstütze für andere Informationen, die dann vielleicht ebenfalls besser behalten werden.

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  • Quellen
Sauvé, S.A. et al.: Age and familiarity effects on musical memory. PLoS ONE, 10.1371/journal.pone.0305969, 2024

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