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Historische Navigation: Mutmaßlicher Sonnenstein in Schiffswrack entdeckt

Sonnenstein aus dem Alderney-Wrack

Vor Einführung des Kompasses mussten sich Schiffsführer hauptsächlich am Stand von Sonne und Sternen orientieren. Was aber, wenn – wie so oft in nördlichen Breiten – der Himmel wolkenverhangen ist? Die Wikinger könnten dafür ein praktikables Hilfsmittel entdeckt haben: transparente Kristalle aus Kalzit, die unter der Bezeichnung "Sonnensteine" Eingang in die Saga-Überlieferung fanden.

Sonnenstein aus dem Alderney-Wrack | Ursprünglich war dieser Kalzit nahezu völlig transparent, doch das Meerwasser und Sandabrieb griffen seine Oberfläche an. Allerdings blieben die typischen Winkel des Gitters von 102 und 78 Grad trotz der Unterwasserlagerung erhalten.

Ein Fund vor der Kanalinsel Alderney könnte die seit Langem heiß diskutierte Frage nach Wahrheit und Mythos hinter den Sonnensteinen auflösen: Wie Forscher um Albert Le Floch von der Université de Rennes jetzt nachwiesen, lag dort unten in direkter Nachbarschaft zu einem Navigationszirkel ein handliches Stück Kalzit, das für die Sonnensteinnavigation getaugt hätte. Kalzitkristalle zeigen die Richtung der Sonne anhand der Polarisierung des Himmels an, selbst wenn diese hinter Wolken verborgen ist oder knapp unter dem Horizont steht. Es ist der einzige solche Stein, der je in einem Schiffswrack entdeckt wurde.

Bei einem Tauchgang im Oktober 2002 hatte ein Mitglied des Forscherteams den immer noch sehr regelmäßig geformten Klumpen entdeckt und geborgen. Für ihre aktuelle Studie wiesen die Wissenschaftler mit einer Anzahl chemischer Verfahren nach, dass der raue, stumpfe Block aus Kalzit besteht, wie er in Skandinavien vorkommt, und den schlechten Zustand seiner Oberfläche der langen Lagerung im Wasser verdankt.

Fraglich ist, ob Gegner der Hypothese von der Sonnensteinnavigation sich durch die neuen Befunde umstimmen lassen, denn das Alderney-Wrack stammt aus der Flotte Elisabeths I. Es versank nach dem Sieg gegen die Spanische Armada im Jahr 1592, also rund fünf Jahrhunderte nach der Wikingerzeit. Damals waren an Bord bereits Kompasse üblich.

Kalzit | Mit der Hilfe ähnlicher Steine aus Kalzit könnten Wikinger den Stand der Sonne ermittelt haben. Ein mutmaßlicher Sonnenstein wurde jetzt erstmals in einem Schiffswrack entdeckt.

Möglicherweise, spekulieren die Autoren nun, waren die Sonnensteine das gesamte Mittelalter hindurch im Einsatz und dienten in der frühen Neuzeit zur Korrektur der Kompassanzeige. Gerade auf den mit viel Eisen beladenen Kriegsschiffen könnte die Magnetnadel für mehr Verwirrung als Klarheit gesorgt haben. Wie sie an einem aus dem Wrack geborgenen Geschütz demonstrieren, kann ihre Abweichung in der Nähe der Kanone bis zu 100 Grad betragen. In der mittelalterlichen Navigationsliteratur wird allerdings nicht auf Sonnensteine Bezug genommen, einige Kalzitkristalle stehen allerdings auf zeitgenössischen Inventarlisten von Klöstern. Dass der Alderney-Stein in direkter Nachbarschaft zu Kartenbesteck lag, liefert nach Meinung der Forscher einen weiteren Hinweis auf einen Zusammenhang mit der Navigation.

Nach seiner charakteristischen Lichtbrechung wird Kalzit auch Doppelspat genannt. Blickt man durch den hochtransparenten Kristall, erscheinen zwei parallele Linien, die genau dann gleich hell sind, wenn der Kristall exakt auf die Sonne ausgerichtet ist. Wie Mitglieder der Gruppe in früheren Studien festgestellt hatten, lässt sich damit die Richtung zur Sonne auf wenige Grad genau bestimmen.

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