Deutsche Einwanderung in Brasilien: Das Jahrhundertfest im Schatten der Jahrhundertflut
Es sei wie eine göttliche Eingebung gewesen – so erzählen sie heute die Geschichte im Museu Histórico Visconde de São Leopoldo. Eine Mitarbeiterin des historischen Museums sei an diesem Freitagabend Anfang Mai schon beinahe aus der Tür gewesen, um durch den seit Tagen anhaltenden Regen nach Hause zu gehen, als sie noch einmal stoppte und sich dachte: »Die Bibel!«
Die Frau, die lieber ungenannt bleiben will, holte daraufhin die seltene Nürnberger Lutherbibel von 1765 aus den Ausstellungsräumen im Erdgeschoss und brachte sie in den ersten Stock. Dann ging sie in den Feierabend. Es war wohl die Rettung des unersetzlichen Werkes.
São Leopoldo gilt in Brasilien als die »Wiege der deutschen Einwanderung«. Genau 39 deutschsprachige Migrantinnen und Migranten kamen vor 200 Jahren, am 25. Juli 1824, im Süden Brasiliens an. Sie stammten aus Schleswig und Holstein, aus Mecklenburg-Schwerin, dem Rheinland und dem Moseltal. Mit São Leopoldo gründeten sie die erste dauerhafte Niederlassung deutscher Auswanderer in Brasilien. Zwar waren Landsleute von ihnen auch vorher schon in das südamerikanische Land gekommen, etwa in den Bundesstaat Bahia im Nordosten. Doch ihre Siedlungen hatten, aus unterschiedlichen Gründen, keinen dauerhaften Bestand.
In São Leopoldo aber entwickelten sich die Dinge günstiger. Vielleicht weil die Landschaft hier wie fast nirgends sonst in Brasilien an die alte Heimat erinnert. Auch heute kann man sich noch in den Schwarzwald versetzt fühlen, wenn man die Serpentinenstraßen ins idyllische Mittelgebirge Serra Gaúcha hinauffährt. Sogar Fachwerkhäuschen stehen hier vereinzelt. Die Namen zahlreicher Orte – Morro Reuter, Nova Hartz oder Novo Hamburgo, São Leopoldos große Nachbarstadt – bezeugen ebenfalls unzweifelhaft ihre deutschen Wurzeln.
Man spricht Riograndenser Hunsrückisch
Wirklich lebendig wird das historische Erbe spätestens, wenn die Nachfahren der Immigranten in eine der deutschen Mundarten wechseln, die hier seit Generationen gepflegt werden, das »Riograndenser Hunsrückisch« etwa. Die meisten beherrschen es noch in Varianten, die mal mehr, mal weniger stark vom Portugiesischen durchdrungen sind.
Dieses Erbe, auf das viele hier so stolz sind, sollte am 200. Jahrestag der deutschen Einwanderung gebührend gefeiert werden. Doch eine Katastrophe historischen Ausmaßes kam dazwischen, und der geplante Festakt stand ganz im Schatten einer Tragödie.
Kurz nachdem die Mitarbeiterin die Bibel nach oben gebracht und das Museum verlassen hatte, trat der nahe gelegene Rio dos Sinos über die Ufer, die braunen Wassermassen drangen in das Museum mit seinen zehntausenden Gegenständen, Fotos und Dokumenten aus der Zeit der deutschen Einwanderung und danach ein. Und nicht nur in dieses.
Zwischen dem 24. April und dem 4. Mai 2024 regnete es im Bundesstaat Rio Grande do Sul so heftig, dass das Land die schwerste Überschwemmungskatastrophe seit 80 Jahren erlebte. Auf 90 Prozent der Fläche dieses Bundesstaats, der zu Brasiliens wirtschaftlich stärksten und wohlhabendsten zählt, waren Menschen von den Wassermassen betroffen. Fachleute sehen im Ausmaß dieser Katastrophe und der Häufung solcher Jahrhunderthochwasser in Brasilien eine direkte Auswirkung des Klimawandels.
»All das hier lag unter Wasser«, sagt Ingrid Marxen, früher Präsidentin des Museums, heute Sonderberaterin des Kultursekretariats von São Leopoldo. Museumsmitarbeiterin Gabriele Raubach zeigt auf den Schmutzrand, den das Wasser an der Wand hinterlassen hat. Auf 1,70 Meter stieg es in dem Gebäude. Draußen auf der Straße ging es sogar noch einen ganzen Meter höher.
Mehr als zwei Millionen Geschädigte
In der Landeshauptstadt Porto Alegre rund 20 Kilometer weiter südlich stieg der Rio Guaíba in den Tagen des Regens auf den Rekordstand von 5,33 Meter. Insgesamt rund 2,4 Millionen Menschen wurden nach offiziellen Angaben durch die Überschwemmungen in Mitleidenschaft gezogen, die Behörden zählten annähernd 200 Todesfälle.
Im gesamten Bundesstaat verloren mehr als 430 000 Menschen ihr Zuhause, und noch immer halten sich Tausende bei Verwandten oder Freunden auf oder leben in Notunterkünften. Auch Museumsmitarbeiterin Raubach. »Ich muss weinen, wenn ich davon erzähle«, sagt sie.
Wie ihr erging es der Mehrheit der 217 000 Einwohnerinnen und Einwohner von São Leopoldo. Schätzungsweise 180 000 kamen durch die Überflutung in irgendeiner Form zu Schaden. Und so finden sich an der Stelle, wo vor 200 Jahren die deutsche Einwanderung nach Brasilien begann, zahlreiche Menschen in einer ganz ähnlichen Lage, wie ihre deutschen Vorfahren anno 1824: Sie müssen ganz von vorne anfangen.
Viele haben fast alles verloren, brauchen neue Einrichtung, Kleidung. Vom Haus, in dem Gabriele Raubach wohnte, ragte zwischenzeitig nur mehr das Dach aus den Fluten. Doch nicht die Möbel zu verlieren, sei das Schlimmste gewesen, sondern der Verlust persönlicher Erinnerungsstücke – etwa die Bilder, auf denen ihre Tochter zum ersten Mal »mãe« und »pai« geschrieben hat: Mama und Papa. »Das ist sehr traurig», sagt sie, »aber schlimmer ergeht es Leuten, die ihr ganzes Haus verloren haben. Leute, die am Ufer gewohnt haben.« Der Fluss, der einst die deutschsprachigen Einwanderer brachte, hat es ihnen genommen.
»Die Gegend hier wurde schon immer durch solche Naturereignisse geprägt. Das ist Teil unserer Geschichte«, sagt São Leopoldos Kultursekretär Marcel Frison. Doch dieses Mal hielten die Deiche den Wassermassen nicht stand. Dass es so schlimm kommen würde, damit habe niemand gerechnet, sagt er.
Marode Infrastruktur
Bei der Planung des Schutzsystems hatten die Ingenieure ein Überschwemmungsereignis von 1941 zu Grunde gelegt, das bis zu diesem Jahr schlimmste Hochwasser in Rio Grande do Sul, bei dem der Rio Guaíba auf 4,76 Meter stieg. Damals hatte es mehr als 20 Tage am Stück geregnet. Sollte sich ein solches Extremszenario wiederholen, wäre der Hochwasserschutz eigentlich in der Lage gewesen, die Flut abzuwehren. Allerdings wurde die Marke von 1941 im Mai übertroffen. Hinzu kommt, dass nicht alle ursprünglich geplanten Deiche gebaut wurden, und manche ließ man fahrlässig verfallen. So ist zwar nach Ansicht von Fachleuten in erster Linie der Klimawandel für das Ausmaß der Überschwemmungen verantwortlich, doch die marode Infrastruktur trug dazu bei, dass die Fluten zur Katastrophe wurden. Jetzt soll das ganze System mit Blick auf die aktuelle Überschwemmung überarbeitet werden.
Auch im historischen Museum richtet man den Blick nach vorne. Seine feierliche Wiedereröffnung am 200. Jahrestag wurde unfreiwillig zum Höhepunkt des Jubiläums. Von einem »Fest« will allerdings niemand sprechen. Am Samstag vor dem Jahrestag ist das Organisationsteam um Ingrid Marxen, Museumsdirektor Cássio Tagliari und den Historiker Rodrigo dos Santos noch vollauf mit den Vorbereitungen beschäftigt. Marxen poliert die Lettern einer Druckerpresse. Cássio und Rodrigo schreiten die Vitrinen ab – viele davon sind leer. »Es ist fast alles durcheinandergeraten«, sagt Cássio, »wir überprüfen, was noch da ist und was in die Ausstellung kann.«
In der Einkaufsstraße im Zentrum herrscht an diesem Samstagvormittag geschäftiges Treiben: Vor einem Billigklamotten-Laden stehen Menschen Schlange, andere tragen große Tüten mit Bettzeug und Elektrogeräten aus Geschäften, wieder andere transportieren eine Matratze mit dem Auto.
Das junge Brasilien brauchte Einwohner
Immer wieder ziehen sie hier die Parallelen zur Stadtgründung im Jahr 1824. Erinnern an die Zuversicht, ohne die die Einwandererfamilien wahrscheinlich nie die Reise nach Brasilien angetreten hätten. Am Ziel angekommen, hatten sie allerdings bald einsehen müssen, dass viel versprochen und wenig gehalten wurde, erzählt Claúdio Hillebrand. In einer stillgelegten Mühle betreibt er ein kleines Museum zur Einwanderungsgeschichte, verkauft Brezen, Bier und Traubensaft und stellt Fotos aus seiner eigenen Familienhistorie aus.
Brasilien, das sich 1822 von Portugal unabhängig gemacht hatte, lockte damals gezielt Einwanderer ins Land. So sollten dünn besiedelte Gegenden bevölkert und umstrittene Grenzen fixiert werden. Mit Hilfe der Siedler wollte die junge Nation endlich Fakten schaffen, speziell im Süden, wo sich Brasilien mit Uruguay um den Verlauf der Grenze stritt.
Auf Betreiben der brasilianischen Kaiserin Leopoldina, einer Habsburgerin, reiste Georg Anton von Schäffer nach Europa und warb mit dem Versprechen auf ein besseres Leben zunächst Soldaten an. Das war der Startschuss für das Einwanderungsprogramm. Viele Familien, die auf dem alten Kontinent unter den Folgen der Napoleonischen Kriege litten und mit Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger kämpften, hatten ein offenes Ohr für die Visionen vom Neuanfang in Übersee.
Der Beginn sei mühsam gewesen, erzählt Hillebrand in fließendem Hochdeutsch. »Die Frauen blieben mit den Kindern in behelfsmäßigen Erstunterkünften. Währenddessen fällten die Männer auf den ihnen zugeteilten Grundstücken Bäume, um dann eigene Hütten daraus zu bauen. Das war ganz bestimmt sehr schwierig.« Im Wald hätten es die Einwanderer mit wilden Tieren zu tun gehabt, zugleich gab es immer wieder Landkonflikte mit Indigenen. So schnell wie möglich wollten die deutschen Siedler auch Schulen errichten. Das als Gemeindeschule gegründete Instituto Rio Branco in São Leopoldo öffnete bereits 1826 seine Tore.
»Die Bibel, das Gesangbuch, der Katechismus und die Schiefertafel, das sind die typischen Dinge, die die Menschen mitgebracht haben: den Glauben und die Bildung«, erklärt die ehemalige Museumschefin Ingrid Marxen.
Auch am Feiertag wird geräumt
Der 24. Juli ist in diesem Jahr ein offizieller Feiertag in São Leopoldo. Trotzdem gehen die Aufräumarbeiten weiter. An einer Ecke gegenüber vom Museum beseitigen Bauarbeiter Schutt von den Überschwemmungen. Am klobigen »Praça do Imigrante« werden Schäden ausgebessert. Das Denkmal wurde 1924 eingeweiht, als São Leopoldo seiner 100-jährigen Einwanderungsgeschichte gedachte. Es ist ganz dem Pathos der 1920er Jahre verhaftet. »Den Vätern zum Gedächtnis« steht auf Deutsch darauf geschrieben. 100 Jahre später hat man ein ganz anders Denkmal konzipiert.
Die freundliche, hochaufragende Stahlskulptur, die am Jahrestag eingeweiht wird, zeigt Arbeiter, die sich die Hände reichen. Gemeinschaftssinn ist hier das Motto – und die Vielfalt der Migrationsgeschichten: »Brasilien ist ein Vorbild für die Welt«, sagt Generalkonsul Marc Bogdahn in São Leopoldo am Donnerstag. »Menschen so unterschiedlicher Herkunft, Italiener, Portugiesen, Spanier, Deutsche, Japaner, natürlich viele Afrikaner, die es schaffen, eine Nation zu bilden, die brasilianische Nation, die vielfältig und geeint ist, das ist bewundernswert.«
Der große Tag, der noch viel größer hätte werden sollen, beginnt mit einer Reiterparade, die im Viertel Feitoria startet. Dort steht noch immer das Gebäude, in dem die Einwanderer nach ihrer Ankunft untergebracht wurden. Am Museum, das nun feierlich wiedereröffnet wird, endet der Ritt. Rednerinnen und Redner bemühen sich, die Symbolkraft der Wiedereröffnung für den Neuanfang der Stadt herauszustellen.
»Wir haben von einem unvergesslichen 25. Juli geträumt, den wir mit viel Liebe und Hingabe zwei Jahre lang vorbereitet hatten«, sagt Bürgermeister Ary Vanazzi in seiner Festansprache. »Was uns dazu motiviert, unsere Träume nicht aufzugeben, beruht auf der Erfahrung der Deutschen, die mit großem Glauben und großer Hoffnung hierherkamen, um die Stadt mit jenen, die schon hier waren, zu errichten.«
Menschen in grünen Hüten und deutscher Tracht mischen sich unter Nachbarn in blauen Gaucho-Hosen und mit roten Tüchern. Da wird aus dem denkwürdigen Jubiläum am Ende doch noch so etwas wie ein Fest.
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