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Frans de Waal: Abschied von einem großen Tier- und Menschenfreund

Frans de Waal war einer der einflussreichsten Primatologen unserer Zeit. Mit seiner Forschung zur sozialen Intelligenz der Tiere riss er Mauern in unseren Köpfen ein. Nun starb er im Alter von 75 Jahren. Ein Nachruf auf einen mutigen Gelehrten.
Frans de Waal
Frans de Waal sprach im Sommer 2023 auf dem Podium der Phil.Cologne, des internationalen Festivals für Philosophie.

Es gibt Wissenschaftler, die mit ihren Erkenntnissen die Fachwelt revolutionieren – es aber nicht vermögen, den Elfenbeinturm zu verlassen. Anderen gelingt es, mit ihrer Forschung die Öffentlichkeit zu bewegen, zu begeistern, den gesellschaftlichen Diskurs ein Stück weit zu verändern. Frans de Waal gehörte eindeutig zu zweiter Kategorie. Mit seinen zahlreichen populärwissenschaftlichen Büchern, die in 20 Sprachen übersetzt wurden, wirkte er weit über die akademische Welt hinaus und erschütterte unser Verständnis davon, was ein Tier ausmacht und was einen Menschen. Das »Time Magazine« kürte ihn 2007 zu einer der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt. »Wir mögen akzeptieren, dass wir vom Affen abstammen«*, hieß es damals in der Begründung. »Aber es braucht Menschen wie Frans de Waal, um uns zu erinnern, dass wir noch gar nicht so weit gereist sind.«

Immer wieder kratzte der Primatologe am Selbstverständnis des Menschen als Krone der Schöpfung: Die kognitiven Fähigkeiten von Schimpansen und Bonobos reflektierten letztlich unser eigenes evolutionäres Erbe. »Ich habe Affen ein wenig näher an den Menschen herangerückt, aber ich habe den Menschen auch etwas heruntergeholt«, sagte de Waal 2014, wie es in einer aktuellen Mitteilung der Emory University in Atlanta heißt. Hier lehrte und forschte de Waal, bevor er 2019 in den Ruhestand ging. Aber bis zuletzt blieb er aktiv und besuchte Kongresse, hielt öffentliche Talks, reiste durch die Welt.

Sein Forschungsinteresse galt vor allem der sozialen Intelligenz von Primaten. Jahrzehntelang ergründete er das Verhalten von Menschenaffen und Makaken in all seinen Facetten. Mit seinen Studien zu Versöhnung, Kooperation, Altruismus, Moral, Kultur und Empathie bei unseren nächsten Verwandten offenbarte er die Wurzeln der menschlichen Natur. De Waal zufolge kommen alle Emotionen, die wir kennen, in irgendeiner Form auch bei anderen Säugern vor, sie unterscheiden sich bloß in ihrer Intensität und ihren Schattierungen. Damit war er ein vehementer Gegner des Mensch-Tier-Dualismus, der lange unser Selbstbild prägte (und leider noch immer prägt).

»Ich habe Affen ein wenig näher an den Menschen herangerückt, aber ich habe den Menschen auch etwas heruntergeholt«Frans de Waal

Seine Forscherkarriere begann de Waal in den Niederlanden. Geboren wurde er 1948 als Franciscus Bernardus Maria de Waal in ’s-Hertogenbosch. In den 1970er Jahren studierte er an den Universitäten Nimwegen und Groningen Biologie und Ethologie. Für seine Promotion an der Universität Utrecht begann er, in der Schimpansen-Kolonie im Burgers’ Zoo in Arnheim zu forschen. Sein Mentor und Doktorvater war der Primatologe Jan van Hooff, der gemeinsam mit seinem Bruder 1971 die Kolonie gegründet hatte. Erstmals hielt man hier eine große Schimpansengruppe in natürlicher Zusammensetzung. Und das nicht etwa in einem gefliesten Käfig, wie es üblich war, sondern in einem großen Außengelände mit Vegetation.

Tausende Stunden verbrachte de Waal hier mit seinen Verhaltensbeobachtungen und machte eine bahnbrechende Entdeckung: Schimpansen vertragen sich nach Streitigkeiten wieder, aktive Versöhnung ist gar eine zentrale Stütze ihrer Gemeinschaft. Das Thema wurde Grundlage seines ersten populären Buchs, »Chimpanzee Politics« (deutsch: »Unsere haarigen Vettern«), in dem er das Paktieren und Intrigieren zwischen den Primaten in der Kolonie beschrieb und das Verhalten mit den Machtkämpfen menschlicher Politiker verglich. Das Werk brach auch mit einer wissenschaftlichen Tradition, indem es Tieren menschliche Eigenschaften zuschrieb. Lange war man der Meinung, sie seien reine Reiz-Reaktions-Maschinen. Und wenn man ihnen Gefühle zusprach, dann nur solche aggressiver, kompetitiver Natur.

Die Gefühlswelt der Tiere war bis in die 1970er Jahre hinein quasi ein wissenschaftliches Tabuthema. Das änderte sich langsam, als der Zoologe Donald Griffin 1976 sein Werk »The Question of Animal Awareness« veröffentlichte. Hierin argumentierte er, dass Tiere genauso wie Menschen über ein Bewusstsein verfügten. »Donald Griffin öffnete die Tür ein wenig, und dann stieß Frans sie weit auf. Der Rest ist Geschichte«, berichtet Harold Gouzoules, Professor für Psychologie an der Emory University in der Mitteilung der Hochschule. 2005 erinnerte sich de Waal in der Fachzeitschrift »PNAS«: »Die Zeit war reif. Hätte ich das Buch zehn Jahre früher geschrieben, wäre ich vermutlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.«

»Die Zeit war reif. Hätte ich das Buch zehn Jahre früher geschrieben, wäre ich vermutlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden«Frans de Waal

1981 ging Frans de Waal in die USA. 1988 wurde er Professor für Verhaltensforschung an der University of Wisconsin; 1990 berief ihn die Emory University zum Professor für Psychologie. »Frans war ein fantastischer Mentor, der wirklich an seine Studenten glaubte«, zitiert die Emory University Sarah Brosnan, die 2004 bei de Waal promovierte und mittlerweile einen Lehrstuhl für Psychologie an der Georgia State University innehat. »Frans kam vielleicht manchmal etwas reserviert rüber, aber das war er nicht, wenn man ihn erst einmal kennen gelernt hatte«, erinnerte sich Brosnan weiter. »Er hielt in seinem Haus so genannte ›Simian-Soirees‹ ab, bei denen sich die Doktoranden trafen, um sich zu unterhalten. Er war ein fantastischer Pianist und hat für uns gespielt.« Die vielen Trauerbekundungen seiner Kollegen in den sozialen Medien zeugen davon, dass Frans de Waal nicht nur ein großer Forscher war – er wurde auch für seine menschlichen Qualitäten geschätzt und galt als nahbar.

Diesen Eindruck hinterließ er auch bei mir. Ende 2022 traf ich ihn in Utrecht, um ihn zu seinem kurz zuvor erschienenen Buch »Der Unterschied – Was wir von Primaten über Gender lernen können« zu interviewen. Zuletzt lebte er zwar zusammen mit seiner Frau Catherine Marin, mit der er mehr als 40 Jahre verheiratet war, in einem Vorort von Atlanta. Wegen der Gastprofessur de Waals an der Universität Utrecht unterhielt das Paar jedoch dort eine Zweitwohnung.

Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass er mich in seinem Büro an der Universität empfangen würde. Aber wie selbstverständlich lud er mich zu sich nach Hause ein. Nervös drückte ich auf die Klingel. Meine Anspannung ließ schnell nach, als mir der hochgewachsene de Waal freundlich lächelnd die Tür öffnete und mich hereinbat. Aus der Küche winkte mir seine Frau Catherine zu. Wir setzten uns ins Wohnzimmer, im Hintergrund ertönte leise Klaviermusik. Der große Primatologe strahlte eine ruhige, stoische Autorität aus, wirkte aber nicht einschüchternd auf mich. Am Ende des Gesprächs machte ich ein paar Fotos von ihm. Meine Technik versagte und ich versemmelte einige Aufnahmen. Auch bat ich ihn immer wieder, eine andere Pose einzunehmen. Dies alles ertrug er geduldig. Zum Abschied bot er mir seinen Regenschirm an: »Nehmen Sie ihn, nicht dass Sie noch nass werden.«

»Der Unterschied« sollte sein letztes Buch sein. »Wir leben in einer Zeit, in der manche Leute systematisch die Unterschiede zwischen den Geschlechtern aufbauschen, während andere wiederum sämtliche Unterschiede auszuradieren versuchen«, schreibt er im Vorwort. Damit schaltete er sich in die Gender-Debatte und das viel diskutierte Thema »nature« versus »nurture« ein: Sind die typischen Verhaltenszüge von Männern und Frauen angeboren oder anerzogen? Wie sehr unterscheiden wir uns voneinander? Mutig ist, wer sich auf dieses Minenfeld begibt.

Auch machte er keinen Hehl aus seiner politischen Haltung, forderte mehr Toleranz gegenüber Vielfalt: Homo-, Hetero-, Bisexualität und nicht genderkonforme Identitäten gebe es auch bei Primaten – mit einem Unterschied: Sie tolerierten es ohne Ausnahme. Auf jeder Seite des Buchs ist zu spüren: Das hier schrieb nicht nur ein Tier-, sondern auch ein Menschenfreund. De Waal schloss mit den Worten: »Worauf es wirklich ankommt, sind Liebe, gegenseitiger Respekt und die Erkenntnis, dass Menschen nicht gleich sein müssen, um einander ebenbürtig zu sein.«

Kurz vor Veröffentlichung des Interviews zu »Der Unterschied« schickte ich ihm das fertige Manuskript mit der Bitte, einen letzten Blick darauf zu werfen. Den einzigen Wunsch, den er hatte: »Schreiben Sie nicht ›Männchen‹ und ›Weibchen‹. Das schafft eine unnötige Distanz zwischen Mensch und Affe. Sprechen Sie von ›Affen-Männern‹ und ›Affen-Frauen‹.« Den Wunsch erfüllte ich gern.

* Anmerkung der Redaktion: Wir stammen nicht von Affen ab, sondern teilen mit ihnen einen gemeinsamen Vorfahren.

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