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Pavor nocturnus: Wenn der Nachtschreck in die Glieder fährt

Wachen Kinder plötzlich voller Panik auf, bekommen es auch die Eltern mit der Angst zu tun. Doch die nächtlichen Attacken sind in der Regel harmlos.
Kind sitzt im Bett und schreit; Arme greifen nach ihm.
Was Menschen während eines Nachtschrecks vor ihrem geistigen Auge sehen, bleibt ein Rätsel.(Symbolbild)

Ein gellender Schrei reißt die Eltern aus dem Schlaf. »Da! Da! Da!«, brüllt der Fünfjährige und zittert am ganzen Körper, die Augen weit aufgerissen. Er schlägt um sich und lässt sich kaum beruhigen. »Nachtschreck«, medizinisch Pavor nocturnus, heißt das unheimliche Phänomen, das vor allem zwischen dem zweiten und dem siebten Lebensjahr auftritt. Gut jedes dritte Kleinkind erlebt laut Schätzungen solche nächtlichen Attacken, die oft von starkem Schwitzen und Herzrasen begleitet werden. Damit gehört der Nachtschreck zu den am weitesten verbreiteten Schlafstörungen bei Kindern. Wie das Schlafwandeln zählt er zu den so genannten Parasomnien – unerwünschten Handlungen oder Bewegungen, die im Schlaf, beim Einschlafen oder beim Aufwachen auftreten.

Schuld an der nächtlichen Angstattacke ist das Nervensystem, das den Schlaf-wach-Rhythmus steuert. Im Vorschulalter ist es noch nicht vollständig entwickelt, weshalb gerade kleine Kinder vom Pavor nocturnus betroffen sind. Untersuchungen mittels Elektroenzephalografie (EEG) zeigen, dass die Hirnwellen während eines Nachtschrecks Merkmale aufweisen, die sowohl dem Schlaf- als auch dem Wachzustand ähneln. »Das Kind sieht wach aus, aber sein Gehirn schläft«, erklärt Patrizia Kutz, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Schlafmedizin und Neonatologie sowie Oberärztin der Pädiatrischen Schlafmedizin der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln. Entsprechend nähmen Kinder ihre Umgebung während eines solchen Anfalls nicht richtig wahr. Versuche, mit ihnen zu reden, laufen ins Leere.

Meist ertönt der Schrei aus dem Kinderzimmer nicht mitten in der Nacht, sondern schon am Abend, ein bis zwei Stunden nachdem das Kind eingeschlafen ist. Dieser Zeitpunkt liefert Hinweise darauf, was beim Nachtschreck vor sich geht. Denn Schlaf ist nicht einfach ein Zustand der Bewusstlosigkeit: Immer wieder wechseln sich Wachheit, Leichtschlaf, Tiefschlaf und Traumschlaf ab. Wie lange so ein Schlafzyklus dauert, unterscheidet sich je nach Alter. Bei Erwachsenen sind es etwa 90 bis 110 Minuten, bei Kleinkindern 45 bis 60. Der Nachtschreck tritt nicht etwa im traumreichen REM-Schlaf auf, der nach den »rapid eye movements« benannt ist, den raschen Augenbewegungen, die Schlafende in dieser Phase zeigen, als würden sie auf dem Inneren ihrer Lider einen Film sehen. Anders als man meinen könnte, handelt es sich also nicht um das Aufschrecken aus einem Albtraum im engeren Sinn – obwohl es Hinweise darauf gibt, dass auch ein Nachtschreck teils von inneren Bildern begleitet wird. »Zu Albträumen kommt es üblicherweise erst in der zweiten Nachthälfte«, so Patrizia Kutz. An einen Albtraum können sich Kinder außerdem häufig erinnern, vom Nachtschreck wissen sie am Morgen meist nichts mehr.

Pavor nocturnus entsteht vielmehr im Tiefschlaf, jener Phase, in der wir kaum träumen und eigentlich am schwersten zu wecken sind. Tiefschlaf, der nach aktueller Ansicht der Regeneration des Organismus dient, ist vor allem in der ersten Nachthälfte häufig, weshalb der Pavor nocturnus Betroffene schon kurz nach dem Zubettgehen heimsucht. In der zweiten Nachthälfte werden die Tiefschlafanteile hingegen geringer: Das müde machende Hormon Adenosin, das sich den Tag über im Gehirn ansammelt und im Tiefschlaf abgebaut wird, ist dann bereits zum Großteil entfernt. Zum Nachtschreck kommt es offenbar, wenn der Übergang vom Tiefschlaf in den Traumschlaf nicht richtig gelingt und das Nervensystem übererregt ist.

Terror im Tiefschlaf

Zu Beginn des Lebens ist der Schlaf noch stark im Wandel. Babys brauchen ihn, um Synapsen zu bilden und zu stärken – Verbindungen, über die Nervenzellen im Gehirn miteinander kommunizieren. Während Säuglinge schlummern, wächst also ihre neuronale Infrastruktur. Das ändert sich mit etwa zweieinhalb Jahren. Ab diesem Zeitpunkt dient Schlaf hauptsächlich dazu, Reparaturprozesse anzustoßen, die Schäden beseitigen, die automatisch im Gehirn entstehen. Dafür braucht es den Tiefschlaf, dessen Anteile am gesamten Schlaf jetzt zu Lasten des REM-Schlafs drastisch zunehmen. Genau dann kommt es vielfach zum ersten Nachtschreck. Obwohl die Mechanismen dahinter noch nicht im Detail geklärt sind, ist es offenbar diese besondere Phase der Hirnentwicklung, die Kinder im Vorschulalter anfällig macht.

Aber warum sucht der nächtliche Terror manche heim und andere nicht? Nach dem so genannten Diathese-Stress-Modell braucht es für den Nachtschreck eine biologische Veranlagung, zum Teil liegt die Ursache wahrscheinlich schon in den Genen. Kinder, deren Eltern schlafwandeln oder selbst schon einmal einen Pavor nocturnus erlebt haben, tragen ein höheres Risiko. Doch auch akuter Stress kann zu der Schlafstörung beitragen.

Weil Stress – sowohl körperlicher wie psychischer – das nächtliche Aufschrecken begünstigt, ist es sinnvoll, für Entspannung zu sorgen. Regelmäßige Zubettgehzeiten und vor allem genügend Schlaf sind wichtig, um dem Nachtschreck vorzubeugen. Hat man kaum ein Auge zugetan, erhöhen sich in der folgenden Nacht die Tiefschlafanteile, was eine Attacke wahrscheinlicher macht. Ab etwa sechs Jahren können Eltern mit ihren Kindern Entspannungstechniken wie autogenes Training einüben, die vor dem Schlafengehen helfen, Anspannung abzubauen. Möglicherweise beeinträchtigt auch Fernsehen zu später Stunde die Schlafqualität von Kindern. In einer 2016 veröffentlichten Studie eines chilenischen und italienischen Forschungsteams träumten Kinder mit einem Fernseher in ihrem Zimmer eher schlecht und erlebten häufiger einen Pavor nocturnus. Doch auch andere Faktoren können einen Nachtschreck begünstigen, zum Beispiel Fieber.

Harmlos bis auf die Unfallgefahr

Weil sich ein Pavor nocturnus selbst mit vorbeugenden Maßnahmen nicht immer vermeiden lässt, ist es für Eltern sinnvoll zu wissen, was sie in einer solchen Situation tun können. »Zunächst sollten Eltern ruhig bleiben und sich bewusst machen, dass ihr Kind gerade schläft und es sich nicht in einer Notlage befindet«, erklärt Patrizia Kutz. Abwarten und für das Kind da sein, heißt es also, wenn ihm sprichwörtlich der Schreck in die Glieder fährt. Am besten redet man ihm sanft zu und leitet es behutsam zurück ins Bett, falls es aufsteht. Generell sollte man aufpassen, dass das Kind sich bei den hastigen Bewegungen nicht verletzt. Im Übrigen gilt laut der Schlafmedizinerin: »Je weniger Eltern mit dem Kind interagieren, desto schneller ist die Episode vorbei.« Jähe Versuche, das Kind aufzuwecken, sollte man auf jeden Fall unterlassen. Denn es nimmt die Außenwelt nicht klar wahr, könnte in der helfenden Person einen Angreifer sehen und noch mehr Angst bekommen.

Die gute Nachricht: In der Regel wächst sich der Pavor nocturnus von ganz allein aus. Die nächtlichen Anfälle enden, sobald Gehirn und Nervensystem ausgebildet sind. Der Nachtschreck kann auch in ein Schlafwandeln übergehen. Sorgen müssen sich Eltern meist nicht machen, wenn ihr Kind am Nachtschreck leidet. Vorsicht ist nur geboten, wenn er sehr häufig auftritt, etwa mehrmals pro Nacht, oder ungewöhnlicherweise in der zweiten Nachthälfte vorkommt. In diesen Fällen sollten Eltern das Gespräch mit der Kinderärztin oder dem Kinderarzt suchen, um andere Ursachen wie eine Epilepsie auszuschließen. »Sinnvoll ist es dann, die Episoden mit dem Handy zu filmen«, rät Kutz. Anhand der Videos lasse sich sehr schnell die richtige Diagnose stellen.

Selten kommt es auch bei Erwachsenen zum Nachtschreck. Schätzungsweise zwei Prozent der Menschen erleben ihn noch jenseits der Jugend. Hier spielen ebenfalls Stress, Schlafentzug und Infekte eine Rolle. Hinzu kommt womöglich Alkohol als akuter Auslöser: Wer getrunken hat, döst zwar schneller ein, schläft aber unruhiger. Es gibt zudem vereinzelte Hinweise darauf, dass Alkohol für eine Zunahme der für den Tiefschlaf typischen Hirnaktivität sorgt. Erwachsene, die häufig einen Nachtschreck erleben und darunter leiden, sollten sich damit zunächst an ihre hausärztliche Praxis wenden. Als Behandlung kommt eine Psychotherapie in Frage, die emotionale Belastungen angeht und Verhaltensweisen vermittelt, die einen gesunden Schlaf fördern. In hartnäckigen Fällen können zur Vorbeugung kurzzeitig auch Schlafmittel zum Einsatz kommen, etwa Benzodiazepine.

Bei dem Fünfjährigen, der gerade noch in heller Panik um sich schlug, ist der Spuk nach zehn Minuten vorbei. Sanft gleitet er in sein Kissen zurück und schläft weiter, als sei nichts gewesen. Am nächsten Morgen ist er wohlgelaunt und kann seinen Eltern nicht sagen, was ihn so verängstigt hat: Hat ihn ein Monster im Schlaf besucht oder eine andere Gruselgestalt? Schossen Flammen aus dem Flur oder versuchte ein Einbrecher durch das Fenster zu steigen? Der nächtliche Schrecken ist jedenfalls längst vergessen.

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