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Waffen des Immunsystems: Mit Kamelblut gegen Krebs, Covid und Schlangengift

Vor ein paar Jahren hat eine Kuriosität für Aufsehen gesorgt, die im Blut von Kamelen und Haien aufgetaucht ist: besonders kleine Antikörper mit viel versprechenden Fähigkeiten. Warum hat man dann lange nichts mehr von ihnen gehört? Und sorgt die Pandemie dafür, dass sich das wieder ändert?
Alpakas helfen bei der Nanobody-Forschung

Gegen Gesundheitsgefahren aus der Natur kennt die Natur oft die beste Gegenwehr. Die moderne Medizin macht sich das zu Nutze: Sie setzt mit Erfolg auf eine der Hauptwaffen des Immunsystems, die Antikörper. Mit ihnen werden heute Krankheiten erforscht, diagnostiziert und bekämpft. Auch in der aktuellen Corona-Pandemie kommen Antikörper zum Einsatz, so genannte Immunglobuline. Sie weisen das Virus Sars-CoV-2 in Schnelltests nach, sie werden Risikopatienten verabreicht oder gezählt, um den Status des Immunsystems zu überwachen: Hat man nach einer Impfung genug neutralisierende Antikörper produziert, ist man vor Sars-CoV-2 gut geschützt.

Seit einiger Zeit schreiben aber auch die kleinen Cousins der herkömmlichen Immunglobuline immer wieder einmal Schlagzeilen, die »Nanobodies«. Sie sind nur ein Zehntel so groß, einfacher aufgebaut, äußerst robust und lassen sich wie Legosteine miteinander kombinieren – Eigenschaften, die klinisch von großem Nutzen sein könnten. Sonst können Nanobodies, was auch klassische Antikörper leisten: Sie erkennen zielsicher bestimmte Strukturen, um dort anzudocken und ihre Wirkung zu entfalten.

So heften sich bestimmte Nanobodies zum Beispiel an das Spikeprotein von Sars-CoV-2 und hindern das Virus daran, in eine Zelle einzudringen, wie Studien belegen. Das könnte die Gefahr einer Infektion bremsen, was sich in ersten Versuche an Hamstern zu bestätigen scheint: In »Science« und »Nature« beschreiben zwei Teams unabhängig voneinander, dass mit Sars-CoV-2 infizierte Versuchstiere nach einer Dosis Nanobodies weniger Viren im Blut hatten, schwächere Entzündungserscheinungen in der Lunge zeigten und sich rascher wieder erholten als nicht behandelte Tiere.

Nanobodies: Kleiner, aber auch besser?

Der Clou an den Studien: Nanobodies sind so stabil, dass sie den Hamstern als Spray in die Nase gesprüht wurden: »Das wäre ein Segen: Ein Präparat wie ein Nasenspray, das ohne Arztkontakt und ohne Spritze auskommt«, sagt Ulrich Rothbauer von der Universität Tübingen. Die bislang verwendeten Antikörper müssen stattdessen in einer mehrstündigen Infusion verabreicht werden, was ihren Einsatz in der Praxis sehr erschwert.

Im Vergleich zu herkömmlichen Antikörpern punkten Nanobodies außerdem in Sachen Lagerung, da sie hitzeunempfindlich sind und nicht gekühlt werden müssen. Ein weiterer Pluspunkt ist die Möglichkeit, sie schnell und kostengünstig in Bakterien oder Hefen herzustellen.

Diese Vorteile sind allerdings nicht neu, man hat sie schon kurz nach der überraschenden Entdeckung der Mini-Antikörper vor rund 30 Jahren erkannt. Damals wies eine Forschergruppe der Universität Brüssel die neue Antikörper-Klasse unerwarteterweise nach – im Blut von Kamelen. Die Wissenschaftler hatten eigentlich gar nicht nach einem neuen Typ von Immunglobulinen Ausschau gehalten: Es war schon lange bekannt, dass Wirbeltiere ähnliche Standardtypen von Antikörpern haben, alle mit einem ziemlich gleichartigen, offenbar bewährten Aufbau zur Abwehr von Krankheitserregern. Dieser typische Antikörper besteht aus zwei langen (schweren) und zwei kurzen (leichten) Proteinketten und erinnert an ein Ypsilon.

Schema eines typischen Antikörpers | Der Aufbau eines typischen Antikörpers, schematisch gezeigt: Ein Y-förmiges Immunglobulin G (IgG) besteht aus Paaren langer und kurzer Proteinmoleküle, den »schweren Ketten« (hier blau) und den »leichten Ketten« (gelb). Nanobodies sind dagegen einfacher aufgebaut. Den natürlich vorkommenden Nanobodies aus Kamelen (und einigen Fischen) fehlen als »Heavy-chain-only«-Antikörper unter anderem die leichten Ketten ganz.

Auch Kamele besitzen solche Standard-Antikörper – zusätzlich entdeckten die Forscher hier aber ebenfalls einfacher aufgebaute, die nur aus schweren Proteinketten bestehen und heute entsprechend »Heavy-chain only«-Antikörper heißen. Sie kommen bei allen Vertretern der Kamelfamilie vor, also auch in Lamas und Alpakas, und wurden später in ähnlicher Form sogar in Haien entdeckt.

»Die kleineren Antikörper sind in beiden Tiergruppen unterschiedlich entstanden«, sagt Helen Dooley von der University of Maryland, die die Evolution des Immunsystems erforscht. Welche Funktion diese zusätzlichen Antikörper genau haben, ob sie etwa auf bestimmte Erreger spezialisiert sind, ist unbekannt. »Solche Variationen tauchen im Lauf der Evolution ab und zu auf und gehen in der Regel verloren«, sagt Dooley. »In seltenen Fällen aber, wenn die Tiere einen Vorteil haben – oder zumindest keinen Nachteil –, werden sie in die Immunantwort des Tiers integriert.« Ein grundsätzlicher Vorteil mag die geringe Größe der Heavy-chain-only-Antikörper sein: Sie könnten tiefer ins Gewebe eindringen und an Stellen binden, die gewöhnliche Antikörper auf Grund ihre Größe nicht erreichen.

Nanobodies gegen Sars-CoV-2

Um die Mini-Antikörper zu gewinnen, werden meist Lamas oder Alpakas, seltener Haie, mit einem Antigen, etwa dem Spikeprotein, immunisiert. Nach einiger Zeit entnimmt man ihnen eine Blutprobe, aus der jene Zellen (B-Lymphozyten) isoliert werden, die die Nanobodies produzieren. Mit speziellen Screening-Verfahren fischen Wissenschaftler die Antikörpersequenzen heraus, die besonders gut an Antigene wie das Spikeprotein oder Abschnitte davon binden. »Das Spikeprotein mit seiner Rezeptorbindungsdomäne ist ein sehr dankbares Antigen, und Alpakas entwickeln nach der Immunisierung unzählige Antikörper«, erklärt Rothbauer. Für die meisten Anwendungen in Medizin und Forschung schneiden Wissenschaftler die Heavy-chain-only-Antikörper weiter zurecht, so dass nur die antigenbindende Spitze übrig bleibt: Nanobodies.

In Deutschland arbeiten verschiedene Forschergruppen mit diesen Antikörper-Fragmenten: Rothbauer etwa hat mit seinem Team einen Test entwickelt, mit dem sich die Menge neutralisierender Antikörpern gegen Sars-CoV-2 nach einer Infektion oder einer Impfung quantifizieren lässt: Die bindungsstärkeren Nanobodies verdrängen die neutralisierenden Antikörper von der Spike-Bindestelle, so dass ihre Konzentration bestimmt werden kann.

Neu geschaffene Nanobodies gegen das Coronavirus | Am MPI in Göttingen entwickeln Forschende ganz neue Nanobodies, indem sie etwa unterschiedliche Varianten miteinander koppeln. Modellhaft dargestellt (in Blau und Rosa) sind hier zwei Versionen solcher Mini-Antikörper, die an die Rezeptor-Bindedomäne (grün) des Coronavirus-Spikeproteins (grau) binden. Damit ließ sich – zunächst in Zellkulturversuchen – die Infektion mit verschiedenen Varianten von Sars-CoV-2 stoppen.

Und Forscher um Dirk Görlich von der Universität Göttingen haben gemeinsam mit Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie verschiedene Nanobody-Kombinationen entwickelt, die Sars-CoV-2 in Zellkulturen blockieren: »Sie sind hochwirksam gegen alle Varianten des Virus«, sagt Görlich.

Warum gibt es noch so wenige Antibody-Medikamente?

Das klingt viel versprechend. Ein Blick auf die Realität trübt die Hoffnungen auf Nanobody-Medizin allerdings: Bis zum tatsächlichen Einsatz als Medikament hat es bislang noch fast kein Mini-Antikörper geschafft. Eine Ausnahme ist das 2018 zunächst in der EU und später in den USA zugelassene Präparat Caplacizumab, mit dem eine seltene Blutgerinnungsstörung behandelt wird. Ohne Frage ein Meilenstein – nur, was sorgt dafür, dass es nicht längst mehr davon gibt?

Rothbauer hat eine Erklärung juristischer Natur: Die gebremste Entwicklung hänge »auch mit einem restriktiven Patent zusammen, das die Universität Brüssel innehatte. Das hat die Forschung gehemmt«, sagt der Forscher aus Tübingen. Das Feld habe jedoch einen Schub erfahren, als dieses Patent 2013 auslief. Anschließend mussten sich Nanobodies aber auch großer Konkurrenz stellen: Sie wetteifern mit herkömmlichen Antikörpern, auf denen heute einige der umsatzstärksten Medikamente überhaupt basieren. 82 monoklonale Antikörper – Antikörper, die nur an eine spezifische Zielstruktur binden – sind derzeit als Medikamente in der EU zugelassen, und mehr als 650 weitere befinden sich in der klinischen Entwicklung.

Auf Antikörpern basierende Medikamente beugen Migräne vor, mildern schweres Asthma und kommen bei verschiedenen Krebsarten zum Einsatz. Auch gegen Covid-19 sollen sie helfen: In rund 20 Projekten, die in unterschiedlichen klinischen Phasen stecken, wird die Wirkung monoklonaler Antikörper gegen das Coronavirus untersucht. »Die Entwicklung solcher Medikamente kostet die Pharmaindustrie mindestens dreistellige Millionenbeträge. Es ist einfacher, eine Zulassung für monoklonale Antikörper zu bekommen, bei dem der Herstellungsprozess bereits etabliert ist«, sagt Görlich. »Für die Behörden lassen sich die Risiken einfach besser kalkulieren als für die bisher kaum genutzten Nanobodies.«

Hinzu kommt, dass Nanobodies auch einen Nachteil haben: »Sie sind so klein, dass sie schnell wieder aus dem Körper ausgeschieden werden«, sagt Markus Seeger von der Universität Zürich. Nanobodies haben also nicht viel Zeit, ihre Wirkung im Körper zu entfalten. Um ihre therapeutische Lebensdauer zu verlängern, werden sie daher je nach Anwendung vergrößert: Wissenschaftler verbinden sie miteinander, mit Albumin oder dem »Fuß« von klassischen Antikörpern, der so genannten Fc-Domäne.

Die Zukunft der Nano-Immunwaffe

Momentan befinden sich weit weniger Nanobodies in der klinischen Entwicklung als monoklonale Antikörper. Einige werden zur Behandlung von Krebs, rheumatoider Arthritis und Lungenfibrose erprobt, andere als Medikamententaxi, um die bis heute kaum passierbare Blut-Hirnschranke zu überwinden.

© MPI für biophysikalische Chemie
Mit Alpakas gegen die Pandemie
Am Max-Planck-Institut in Göttingen helfen Alpakas bei der Nanobody-Forschung: Ihr Immunsystem bildet Mini-Antikörper gegen das Coronavirus.

Grundsätzlich mangelt es nicht an weiteren Ideen und Forschungsprojekten. Nanobodies könnten die im Blut zirkulierenden Bakterientoxine bei einer Sepsis neutralisieren oder als Gegenmittel gegen Schlangenbisse dienen: Nach dem Biss von Giftschlangen sterben jedes Jahr rund 100 000 Menschen, vor allem in Indien und Afrika; bei rund 200 000 bleiben Verstümmelungen und Behinderungen zurück. Gegen Schlangengifte werden bislang vor allem Antiseren eingesetzt, die meist einen aus dem Blut von Pferden gewonnenen Antikörpercocktail enthalten. Die Behandlung kann aber heftige Nebenwirkungen beim gebissenen Opfer verursachen. Hier könnten Nanobodies eine Alternative sein: Sie wären »als Gegenmittel ideal geeignet, weil sie so klein sind, dass sie schnell aus der Niere ausgeschieden werden. Auch, wenn ein Toxin daran hängt«, sagt Görlich, und betont: »Wenn wir die Ressourcen bekommen, gehen wir das an.«

Das Team um Seeger versucht, Nanobodies als Antibiotika einzusetzen, weil sie die dichte Zuckerschicht bestimmter Bakterienzellwände überwinden können. Auch in der Tumor-Diagnostik können sie ihre Vorteile voll entfalten: Wegen ihrer geringen Größe verteilen sie sich schneller im Blut des Patienten, dringen tiefer in Tumoren ein und helfen dabei, ein besser aufgelöstes Bild zu gewinnen.

Für Strukturbiologen sind sie ohnehin unverzichtbar geworden. Sie halfen zum Beispiel den beiden Forschern Robert Lefkowitz und Brian Kobilka, 2012 den Nobelpreis für Chemie zu gewinnen. Die Preisträger hatten die Struktur eines aktivierten, G-Protein-gekoppelten Rezeptors bestimmt, der in der Zellmembran sitzt, auf Reize wie Licht, Geruch, Schmerz und verschiedene Hormone reagiert und Ziel etlicher Medikamente ist. Mit Nanobodies gelang es, die Gestalt der komplexen und wabbeligen Rezeptoren zu stabilisieren und festzuhalten.

In der Grundlagenforschung sind Nanobodies fest etabliert: »Sie können schneller produziert werden, und das ganze Handling ist einfacher«, sagt Seeger, der sie mit seinem Team auch künstlich herstellt, also nicht aus Tieren gewinnt. Ein großer Vorteil sei auch ihre Verwendung in der Zelle. An ein fluoreszierendes Protein gekoppelt, können Nanobodies an einzelne Strukturen in lebenden Zellen binden und diese sichtbar machen. Auf diese Weise lässt sich etwa der Weg von Proteinen in der Zelle in Echtzeit verfolgen. »Nanobodies sind außerordentlich nützliche Werkzeuge, die klassische Antikörper in vielen Bereichen ersetzen oder verdrängen werden«, ist Seeger überzeugt.

Es bleibt ungewiss, ob Nanobodies bald einem Anticorona-Nasenspray zum Durchbruch verhelfen – aber Görlich und die Kollegen der Hamsterstudien aus den USA und England planen bereits klinische Studien. In Tübingen kommen Nanobodies derweil schon zum Einsatz: In Kooperation mit der Abteilung für Transfusionsmedizin der Universitätsklinik untersuchen Rothbauer und seine Arbeitsgruppe mit ihrem Test, ob das Personal der Klinik eine neutralisierende Immunantwort gegen Sars-CoV-2 zeigt.

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