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Nationalpark Harz: Wo die wilde Jugend wächst

Im Nationalpark Harz wird nichts mehr so sein, wie es einmal war. Ein Glück, könnte man sagen. Denn hier darf sich ein Naturwald entwickeln, der für die Zukunft gewappnet ist. Teil 3 unserer Serie über Wildnis in Deutschland.
Abgestorbene Fichten
Die von Trockenheit geschwächten Fichten im Harz hatten den Attacken der Borkenkäfer nichts entgegenzusetzen. Wo aktuell noch triste Schadflächen liegen, wird sich in einigen Jahrzehnten ein artenreicher Buchenmischwald durchsetzen.

Der Elefant im Raum ist manchmal braun, manchmal grau. Am häufigsten hat er eine müde, ausgebleichte Farbe, ein schmutziges Weiß. Selbst wenn man versucht, in eine andere Richtung zu schauen, es geht nicht. Er ist überall. Seine Ausmaße sind monströs. Die Augen schmerzen bei seinem Anblick, und doch kann man den Blick nicht von ihm lösen. Sprechen wir es aus: Im Nationalpark Harz, einem der größten Waldschutzgebiete in Deutschland, sterben die Bäume. Überall. Entlang der Straßen und Wanderwege, wohin man auch blickt, man sieht tausende tote Fichten in unterschiedlichen Stadien des Zerfalls: Zum Teil haben sich erst die Nadeln braun verfärbt. Zum Teil sind nur die Stämme übrig. Häufig sind die Kronen abgebrochen. An manchen Stellen liegen hunderte Baumstämme kreuz und quer auf dem Boden, hingestreut wie ein Mikadospiel für Riesen.

Auch nach Tagen bleibt dieser Anblick spektakulär, kann man sich der Wucht dessen, was man da sieht, nicht entziehen. All die Besucher, die im Harz einfach bloß wandern wollen und die gute Bergluft genießen, werden zu unfreiwilligen Katastrophentouristen. So hat man sich wohl in den 1980er Jahren das Waldsterben vorgestellt, das Schreckgespenst der frühen Ökobewegung. Diesmal ist es kein Spuk.

Das große Sterben begann vor ein paar Jahren. »2014 sind die ersten vergleichsweise kleinen Fichtenbestände abgestorben«, sagt Martin Baumgartner, Sprecher des Nationalparks, bei einem Treffen an der Ranger-Station Königskrug im niedersächsischen Teil des Nationalparks. Damals waren 108 Hektar betroffen, in den Folgejahren dann 212, 246, 348 und 395 Hektar. Ab 2019 nahm das Sterben nochmals Fahrt auf: Zusätzliche 3030 Hektar stehenden Totholzes wurden da gezählt. 2020 und 2021 kamen noch mal 2560 beziehungsweise 5624 Hektar dazu. Ist das Schlimmste damit überstanden? Wie man's nimmt: »Insgesamt sind 90 Prozent des ursprünglichen Fichtenbestands abgestorben. Es gibt nicht mehr so viel Nahrung wie noch vor wenigen Jahren. Von daher dürfte die Massenvermehrung des Buchdrucker-Borkenkäfers im Nationalpark zu Ende gehen«, sagt Baumgartner.

Serie: Wildnis in Deutschland

Vom Südzipfel der Republik bis in den hohen Norden – überall findet man sie inzwischen wieder, die Landschaften, in denen der Mensch die Natur Natur sein lässt. Nach Jahrhunderten der Nutzung finden sie nur langsam zu ihrem ursprünglichen Selbst zurück.

Fünf von ihnen hat unser Autor Ralf Stork für diese Serie bereist. Sie zeigen, wie wirksam Wildnis sein kann angesichts allgegenwärtiger Umweltzerstörung. Und wie weit der Weg zu mehr gesunden Lebensräumen noch ist. Das selbst gesteckte Ziel, zwei Prozent der Landesfläche in Wildnisgebiete umzuwandeln, hat Deutschland weit verfehlt. Aktuell sind es gerade einmal 0,6 Prozent.

Auf Aufforstung folgte Zerstörung folgte Aufforstung

Es ist nicht die erste Katastrophe, die den Harz heimsucht. Auf die Fichte setzt man hier seit dem Hochmittelalter, damals zur Versorgung der Bergwerke, und mit den großen Fichtenbeständen kamen die Borkenkäfer. Wiederholt schlugen sie in Massen zu, Ende des 18. Jahrhunderts vernichteten die Insekten schätzungsweise 30 000 Hektar Wald. Das Ereignis ging als Große Wurmtrocknis in die Geschichte ein. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts streckten dann Orkane die angegriffenen Bestände nieder. Auch das aktuelle Baumsterben ist ein Gemeinschaftswerk. Erst wurden die Bäume durch Hitze und Wassermangel geschwächt: Die anhaltende Trockenheit von 2018 bis 2020 war die extremste Dürre, die Deutschland seit 250 Jahren erlebt hatte.

Dann wurden die Bäume von den beiden Fichten-Borkenkäfern Buchdrucker (Ips typographus) und Kupferstecher (Pityogenes chalcographus) endgültig zur Strecke gebracht. Wenn man ein Stück Rinde von einer der abgestorbenen Fichten schält, kann man ihre Fraßgänge sehen und findet auch noch den ein oder anderen toten Käfer. Die nur zwei bis sechs Millimeter großen Insekten versuchen sich in die Rinde der Bäume zu bohren. Gesunde Bäume wehren sich mit der Absonderung von Harz gegen einen Angriff. Die geschwächten Fichten waren dazu nicht mehr in der Lage.

Der Wald stirbt nicht

Allen Zahlen und Bildern zum Trotz – Krisenstimmung scheint bei Baumgartner nicht aufzukommen. Von der Ranger-Station Königskrug lädt er zu einer kurzen Rundfahrt durch den Nationalpark ein. Im geländegängigen Wagen der Parkverwaltung geht es zunächst bergauf ins Quellgebiet der Bode, zum Hochmoor Bodebruch und später ins Odertal.

Es ist die Einladung zu einem differenzierteren Blick auf die Flächen, auf denen die toten Fichten stehen. »Dann sieht man schnell, dass der Begriff Waldsterben irreführend ist. Baumsterben trifft es viel besser. Denn der Wald stirbt nicht. Es wachsen ja Bäume nach«, sagt Baumgartner. Waldsterben suggeriert eine gewaltige ökologische Katastrophe. Dass der Wald verloren ist und auch nicht wiederkommt. Tatsächlich aber ist überall im Park schon der Neuanfang sichtbar.

Sobald man es schafft, den Blick von den bleichen Stämmen zu lösen, sieht man, mit welcher Urgewalt die Selbstregulierungskräfte der Natur anspringen: Ohne die großen, Schatten werfenden Bäume haben lichthungrige Pflanzen plötzlich eine Chance. An vielen Orten schießt Fingerhut aus dem Boden. Das Schmalblättrige Weidenröschen, eine typische Pflanze, die sich nach Waldbränden massenhaft vermehrt, breitet sich aus. Zwischen den Stämmen der abgestorbenen Fichten wachsen kleine Ebereschen und Birken. An einigen Stellen sind so Flächen entstanden, die an die skandinavische Tundra erinnern: eine dichte Pflanzendecke mit Farnen und Gräsern, Heidekraut und Heidelbeeren. Eine Reihe von kleinen Fichten wächst ebenfalls schon wieder nach. Wald ist das zwar noch nicht, was da entsteht, aber in jedem Fall eine neue, vielgestaltige Landschaft.

Licht lässt Pflanzen sprießen | Das Schmalblättrige Weidenröschen dekoriert mit seinen kräftig gefärbten Blüten die Stellen, die erst seit Kurzem dem Licht ausgesetzt sind. Es ist der erste Schritt der natürlichen Sukzession, in deren Verlauf ein neuer Wald entsteht.

Auch später, im Tal des kleinen Flüsschens Oder, bekommt man einen Eindruck von der Dynamik, mit der sich der Wandel im Nationalpark vollzieht: An einem Weg, der ein paar Meter über der Oder verläuft, leuchten Kratzdisteln in der Sonne. Die helllilafarbenen Blüten ziehen Tagpfauenaugen, Admirale und andere Schmetterlinge und Insekten an. »Vor vier Jahren war das hier noch ein geschlossener, dunkler Wald«, sagt Baumgartner. Angesichts der Sonne, der Blütenpracht, der schönen Schmetterlinge und der fast lieblichen Szenerie am Bach beschleicht einen die Frage, ob der Zustand nach dem Absterben der Bäume jetzt wirklich so viel schlechter ist als ein einförmiger, schattiger Wald.

Viel mehr Vielfalt im Wald

Der Wald wird wiederkommen. Das ist die Gesetzmäßigkeit der Sukzession. Wo der Mensch nicht eingreift, wächst an fast allen Standorten in Deutschland früher oder später ein Wald. Ein widerstandsfähigerer, artenreicherer Mischwald als der, den die Forstwirtschaft hier einst hervorbrachte. Einer, der Trockenheit und Borkenkäfern mehr Widerstandskraft entgegensetzen kann.

Vom Baumsterben sind die Fichtenbestände überall in Deutschland gleich stark betroffen. Mehrere hunderttausend Hektar sind seit 2018 abgestorben. Wie man mit der forstwirtschaftlichen Katastrophe umgeht, variiert jedoch von Ort zu Ort und von Forst zu Forst, auch im Harz: An den Straßenrändern warten riesige Stapel von Holzstämmen auf Abtransport und Weiterverarbeitung. Das Holz stammt aus den Wirtschaftswäldern der Region, außerhalb des Nationalparks. Die abgestorbenen Bäume werden dort mit schwerem Gerät mitsamt den Stubben aus dem Boden gezogen, damit die Flächen möglichst schnell mit der nächsten Generation von Wirtschaftsbäumen bestückt werden können.

Auf den Flächen im Nationalpark dagegen passiert: gar nichts. Das ist der Luxus der Wildnis. Dass es Flächen gibt, die keine Erwartungen oder wirtschaftliche Vorgaben erfüllen müssen. Die sich ganz natürlich »verjüngen« dürfen, wie die Fachleute sagen. Hier gilt das Nationalparkmotto »Natur Natur sein lassen«. Der Anteil der »Naturdynamikzone« – so heißen die neu entstehenden Wildnisgebiete, in deren Entwicklung sich der Mensch nicht mehr einmischt – ist in den letzten Jahren stetig gewachsen, von 41 Prozent im Jahr 2006 auf 70,1 Prozent im Jahr 2021.

Abtransport | Außerhalb des Nationalparks werden die abgestorbenen Waldflächen mit schwerem Gerät abgeräumt und das Holz für den Verkauf vorbereitet. Für die Wiederbewaldung ist es jedoch von Nachteil, wenn Flächen komplett kahl sind.

Tote Fichten spenden Leben

Der neue Wald wächst auf den Überresten des alten: Die umgestürzten Bäume, die vom Borkenkäfer vernichtet worden sind, leisten dabei wertvolle Dienste. »Das Totholz ist wichtig für die nachwachsende Baumgeneration«, sagt Baumgartner. Es bietet den jungen Bäumen Schutz in vielfacher Hinsicht. Die verrottenden Baumstämme können Nährstoffe freisetzen, die von den jungen Bäumen für ein optimales Wachstum benötigt werden. Sie fungieren als Windbremse, binden Feuchtigkeit am Boden, schützen vor Spätfrösten und spenden Schatten, ohne das lebenswichtige Sonnenlicht völlig abzuschirmen. Auch wirken sie wie ein natürlicher Zaun gegen das Rotwild, das andernfalls die Knospen der aufwachsenden Bäume abknabbert und damit jeden Ansatz einer Naturverjüngung zunichtemacht.

Kleine Fichten, die zuvor im Schatten der großen Bäume verkümmerten, haben nun genug Licht und Platz, um in die Höhe zu schießen. Und auch andere Baumarten breiten sich aus: In den tieferen Lagen sind es Birken, deren Samen mit dem Wind verweht werden, in den höheren Lagen Ebereschen, deren Samen von Vögeln verbreitet werden. Später, in 50 oder 70 Jahren, werden die Pioniere dann von den zwischenzeitlich herangewachsenen Fichten, Bergahornen oder Buchen verdrängt.

Ohne den Menschen hätte es das Fichtensterben im Harz überhaupt nicht geben können. »Natürlicherweise kommen Fichten erst in Lagen über 700 Meter vor, von denen es im Harz nur wenige gibt. Trotzdem sind mehr als 80 Prozent des alten Baumbestands Fichten gewesen«, sagt Baumgartner. Nach dem Borkenbefall der vergangenen Jahre können sich nun Buchenmischwälder in den ehemaligen Fichtenforsten ausbreiten.

Schmetterlinge im Odertal | So schmerzlich das Absterben der Fichtenbestände ist, immerhin schafft es auch Platz für neue, strukturreiche Vielfalt. Hier saugen Tagpfauenauge und Admiral Nektar an einer Acker-Kratzdistel.

Auch die Altersstruktur der Bäume wird sich ändern. »In den meisten Gebieten im Nationalpark gab es Fichtenmonokulturen mit überwiegend einheitlichen Altersklassen«, sagt Martin Baumgartner. Das ist ein Relikt der Waldbewirtschaftung, die auch im heutigen Nationalparkgebiet noch bis in die 1990er Jahre stattgefunden hat. In einem Altersklassenwald sind alle Bäume gleich alt, weil sie alle zur gleichen Zeit gepflanzt wurden. In einem natürlichen Wald steht der einjährige Sprössling neben dem jahrhundertealten Baumriesen und seinen verrottenden Vorgängern. Auch so ein Wald hätte dem Borkenkäfer mehr entgegenzusetzen gehabt. Allein schon, weil die Schädlinge in der Regel nur Bäume ab einen Alter von 50 bis 60 Jahren attackieren, weshalb ihnen ein gemischter Bestand also deutlich weniger Angriffsfläche bietet. Zudem lockt ein natürlicher Wald mehr Tiere wie zum Beispiel Spechte an, die die Insekten an der massenhaften Vermehrung hindern können.

Wildnis mit Abstrichen

Auf den aktuell verheerten Waldflächen ist eine neu entstehende, gemischte Altersstruktur in Ansätzen bereits zu erkennen. Da sind die Bäume, die im Schatten der großen Fichten überlebt haben und jetzt ihre Äste ans Licht strecken können. Solche Bäume bringen es durchaus schon auf ein Alter von 20 bis 30 Jahren. Außerdem haben vereinzelte alte Fichten den Insektenfraß überlebt. Und auf den freien Flächen werden jedes Jahr neue Bäume nachkommen. Weil der Ausgangspunkt eine Monokultur war, wird es bis zu einer echten Durchmischung noch einige Jahrzehnte dauern. Aber der Anfang ist gemacht.

Wie der neue Wald einmal aussehen könnte, lässt sich im Nationalpark an verschiedenen Stellen in unterschiedlichen Entwicklungsstadien bereits ablesen. Am Bruchberg beispielsweise sind seit den 1970er Jahren immer wieder Flächen durch Windwurf und Borkenkäfer zerstört worden. Heute steht dort ein erstaunlich strukturreicher Fichtenwald, der mit ein paar Birken und Ebereschen durchsetzt ist. Vor allem Ebereschen könnte es noch deutlich mehr geben, wenn sie nicht so stark von Rehen und Hirschen verbissen würden. Hier stößt die wilde Naturentwicklung an ihre Grenzen. Die unnatürlich hohen Wilddichten, die vom Menschen erst geschaffen worden sind, wirken auch in den Nationalpark hinein.

Doch die Wildnisgebiete im Nationalpark bleiben wichtige Versuchsräume für einen naturnahen und an den Klimawandel angepassten Wald. Und sie liefern faszinierende Beispiele für die Kraft, mit der sich die Natur in kürzester Zeit entfaltet. Wenn man sie denn lässt.

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