Museen: Naturkundemuseen werden zur aussterbenden Art
In einem Raum tief im Inneren der Smithsonian Institution in Washington D. C. schweift Ricardo Moratellis Blick über Hunderte toter Fledermäuse mit fein säuberlich gefalteten Flügeln. Reihe für Reihe geht er durch die Präparate, die akkurat wie in militärischer Formation angeordnet sind. Jedes Tier trägt am rechten Fußgelenk ein Schild, auf dem Fundort, Datum und Sammler vermerkt sind. Einige der schon vergilbten Label kennzeichnen Fledermäuse, die bereits mehr als ein Jahrhundert zur Sammlung gehören. Moratelli sucht ein kleines, gedrungenes Tier mit dunklen Flügeln und üppigem, glänzendem Fell heraus, das genau in seine Handfläche passt.
Für das ungeübte Auge sieht das Exemplar aus wie all die anderen. Aber Moratelli, der hier am Smithsonian National Museum of Natural History als Postdoc arbeitet, entdeckte es als ganz neue Art von Fledermäusen. Das Tier wurde zwar schon im Februar 1979 in einem Wald an den westlichen Ausläufern der Anden Ecuadors gefunden, doch seine Einzigartigkeit wurde erst Jahrzehnte später von ihm erkannt, der es nun Myotis diminutus nannte [1]. Zuvor hatte er eine ganze Reihe morphometrischer Daten von anderen Fledermäusen gesammelt und genaueste Messungen der Schädel und Körper vorgenommen, insgesamt von 3000 Exemplaren aus 18 Sammlungen der ganzen Welt. Aber Myotis diminutus ist nicht allein und Ricardo Moratelli auch nicht.
Tausende von Arten, die in naturhistorischen Sammlungen auf der ganzen Welt ihr Dasein fristen, sind noch zu bestimmen. Tatsächlich finden Forscher heutzutage mehr neue Tiere und Pflanzen in den jahrzehntealten Beständen der Museen als in den tropischen Wäldern und anderen abgeschiedenen Naturräumen. Geschätzte drei Viertel der neu benannten Säugetierarten sind zum Zeitpunkt der Identifizierung bereits Teil der naturkundlichen Kollektionen. Manche lagern für ein Jahrhundert oder länger unbemerkt, versteckt in Schränken, fast vergessen in Gläsern, falsch bestimmt und unbeschriftet. "Die Sammlungen sind eine unwahrscheinlich wichtige Quelle von bisher nicht beschriebenen Lebewesen", sagt Robert Voss, der Kurator für Säugetiere am American Museum of Natural History (AMNH) in New York.
Und dank neuer Techniken und Datenbanken werden sie immer wertvoller. So kann der vorhandene Bestand an Präparaten mittels DNA-Sequenzierung, digitaler Registrierung und anderer Methoden auf ganz neue Weise analysiert und die Entwicklung der Biodiversität auf der Erde dokumentiert werden. Doch während der wissenschaftliche Wert der Präparate wächst, verfallen sie immer mehr. Weil viele Institutionen mit deutlichen Budgetkürzungen zu kämpfen haben, werden so manche Sammlungen vernachlässigt oder in Mitleidenschaft gezogen, und auch die Arbeitsstellen der Wissenschaftler sind in Gefahr.
Immer weniger Sammlungen
"Hier wird all das aufbewahrt, was einmal gelebt hat", rühmt sich Michael Mares, der Direktor des Sam Noble Museum an der University of Oklahoma in Norman und ehemaliger Präsident der amerikanischen Gesellschaft für Säugetierkunde. "Wenn man beispielsweise Tiere aus Kuala Lumpur von vor 30 oder 40 Jahren untersuchen will, dann kann man da ja nicht einfach hinfahren", sagt er. "Man muss mit den Präparaten arbeiten."
Mit der Veröffentlichung seiner Enzyklopädie »Systema Naturae« im Jahr 1758 wollte Carl von Linné die Natur klassifizieren – ein Unterfangen, das heute noch in fast 8000 naturhistorischen Sammlungen fortgeführt wird: Allein in den USA gibt es ungefähr eine Milliarde Präparate, weltweit sind es vielleicht drei Milliarden. Die Institute stellen normalerweise nur etwa ein Prozent ihres Bestands aus; der Rest – oftmals hunderttausende Exemplare – ist lediglich katalogisiert und für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.
Die Exemplare werden von einer schwindenden Zahl von Direktoren und Kuratoren betreut – hauptsächlich Taxonomen, die einzelne Arten beschreiben, und Systematiker, die komplexe Beziehungen zwischen Organismen untersuchen. Das Field Museum in Chicago in Illinois hatte im Jahr 2001 noch 39 Kuratoren, heute sind es gerade einmal noch 21. Derzeit gibt es auch keinen Kurator für die Abteilung der Fische, obwohl diese Tierklasse unglaublich vielfältig ist. Das Field Museum und das AMNH, immerhin zwei der größten Sammlungen der ganzen Welt, beschäftigen auch keinen Lepidopterologen, also Schmetterlingskundler, obwohl sie Hunderttausende von Schmetterlings- und Mottenexemplaren beherbergen. Und im National Museum of Natural History wurde die Zahl der Kuratoren ständig reduziert, von 122 im Jahr 1993 auf 81 im letzten Jahr.
Doch das ist nicht nur in den USA so. "Die Situation in England ist ähnlich, wenn nicht sogar noch schlimmer", sagt Paolo Viscardi, der Vorsitzende der britischen NatSCA (Natural Sciences Collections Association) und Kurator am Horniman Museum in London. Inzwischen wird in vielen Museen der Mitarbeiterstab umstrukturiert, und drei oder vier Kuratoren werden von einem einzigen Leiter teils mit einem Assistenten ersetzt. Der Leiter soll dann alles abdecken, von zeitgenössischer Kunst bis zu den Naturwissenschaften.
Seit der Wirtschaftskrise von 2008 müssen viele Institutionen mit weniger Geld auskommen. Die paar Museen mit guter Förderung ihrer Forschung arbeiten mit molekularen Techniken, die einfacher bewilligt werden als klassische taxonomische Ansätze. Viele Museen legen Wert auf Bildung und Unterhaltung, während sie gleichzeitig den Stab der Kuratoren verkleinern, berichtet der stellvertretende Dekan der Wissenschaften am AMNH, Scott Schaefer. Vieles hat sich in naturhistorischen Museen seit 2008 verändert, ergänzt er noch. "Die eigentliche Forschung tritt in den Hintergrund, stattdessen wird immer mehr die Geschichte der Wissenschaften in der Art von Walt Disney präsentiert."
Laut Mares ist die überwiegende Zahl der etwa 1800 Sammlungen in den USA relativ klein. "Die meisten stehen kurz vor dem Aus, weil sie niemanden haben, der sich um die Präparate kümmert", sagt er. Doch selbst gut geförderte Institutionen kämpfen mit vielen Problemen. An der University of Michigan in Ann Arbor zum Beispiel werden die größten Sammlungen zur Biodiversität des Landes zwar in neuen, hochmodernen Einrichtungen gelagert und sorgfältig gepflegt – aber Wissenschaftlern sind sie nur schwer zugänglich, weiß Voss, der hier seine Abschlussarbeit machte. "Das ist so, als dürfte niemand mehr in der Bibliothek Nachforschungen betreiben, obwohl all die Bücher doch da stehen", beschreibt er die Lage.
Nicht nur Kuratoren fehlen, auch Präparate gehen immer wieder verloren, sei es durch mangelnde Pflege oder durch Unglücksfälle, wie im Jahr 2010 am Butantan-Institut in São Paulo in Brasilien, als bei einem Brand etwa 85 000 Schlangen und 450 000 Skorpione und Spinnen durch das Feuer vernichtet wurden. "Inzwischen gehen in den verschiedensten Ländern die Bestände zurück, und niemand meldet es, wenn eine Sammlung langsam verfällt", weiß Mares. Das Museumspersonal befürchtet nämlich, dass die Verwaltung die Präparate loswerden will, sobald sie von Problemen erfährt. "Etwas zu äußern, ist zu kritisch – also überleben sie, indem sie im Verborgenen bleiben."
Jahrzehnte des Wartens
Wenn Mitarbeiter und Wissenschaftler vom "taxonomischen Hindernis" ("taxonomic impediment") reden, meinen sie den steinigen Weg bei der Entdeckung neuer Arten und nennen als Maß dafür die Zeit zwischen dem Sammeln der Exemplare und ihrer Bestimmung: eine Zeitspanne, die aktuell bei durchschnittlich 21 Jahren liegt.
Keiner weiß, ob diese Zeitspanne in Zukunft noch größer wird; jedenfalls liegt sie oft weit über dem Durchschnitt. Im April 1856 fand Henry Clay Caldwell von der US Navy auf der Samoa-Insel Upolu eine große, von Früchten lebende Fledermaus. Das geborgene Exemplar lagert derzeit in der Academy of Natural Sciences der Drexel University in Philadelphia in Pennsylvania. Über den Fund ist aber nur wenig bekannt: ein paar verblichene, von Hand auf der Kiste vermerkte Daten, ein Schädel und ein Stück ausgeblichene Haut. Als der Kurator für Säugetiere von der Smithsonian Institution, Kristofer Helgen, den Schädel 2009 gegen das Licht hielt, sah er schon, dass es sich um eine unbekannte Art handelt. Mehr als 150 Jahre nach dem Fund nannte er die Art Pteropus allenorum – kleiner fliegender Fuchs aus Samoa [2]. Auf der Insel ist die Spezies inzwischen ausgestorben.
"Es gibt sicher noch Schlimmeres als Ebola – wir sind nur noch nicht darauf gestoßen"
Wie Helgen ist auch Moratelli von naturhistorischen Sammlungen fasziniert. Als Kind schaute er mit seinem Vater Dokumentationen über das ursprüngliche Amerika im Fernsehen an und interessierte sich schon damals für Zoologie. Inzwischen hat er sechs neue Fledermausarten beschrieben und arbeitet an acht weiteren, die vor etlicher Zeit, genau genommen vor 29 bis 111 Jahren, gefunden wurden.
In den Augen der Forscher sind solche Arbeiten essenziell für das Verständnis der biologischen Vielfalt und seiner Bedrohung. "Wir sind mitten in einer Krise der Biodiversität, und deren Dokumentation ist schlichtweg gesellschaftliche Aufgabe der Institutionen mit bereits vorhandenen Sammlungen", findet Quentin Wheeler, Taxonom und Präsident des College of Environmental Science and Forestry an der State University von New York in Syracuse. "Wenn wir aber nur 10 bis 20 Prozent aller Arten kennen, können wir Umweltveränderungen wie das Aussterben oder die Entstehung von Arten nur schwer erkennen."
Die angespannte Situation für Mitarbeiter und Präparate spiegelt die Veränderungen der Forschung in den letzten Jahrzehnten wider. Mit dem Aufstieg der molekularen Biologie gibt es immer weniger Geld und Unterstützung für Vogelkundler (Ornithologen), Amphibien- und Reptilienkundler (Herpetologen), Botaniker und andere spezialisierte Taxonomen. Trotzdem werden immer wieder neue Arten beschrieben, aber von wem eigentlich?
"Nachdem es keine Taxonomen mehr gibt, übernehmen dies immer mehr andere Wissenschaftler", sagt Wheeler. Dazu gehören Genetiker, Verhaltensforscher und weitere, die eigentlich nicht in Taxonomie ausgebildet sind. "Immer mehr Biologen benennen die Arten einfach selber, bevor es gar keiner tut." Eine sorgfältige taxonomische Arbeit ist aber laut Helgen notwendig, um die Vielfalt der Lebewesen zu dokumentieren und bedrohte Arten schützen zu können. Er selbst hat schon mehr als 30 Arten aus den Sammlungen beschrieben. "Immer wenn ich wieder eine neue Spezies bekannt gebe, interessieren sich die Leute auf einmal dafür, und sie landet auf der Liste der bedrohten Arten."
Aber es gibt trotz all dieser Problemen auch Lichtblicke. Die California Academy of Sciences in San Francisco stellt inzwischen wieder Kuratoren ein und vergrößert sogar ihre Sammlungen. Dieses Jahr noch erhält sie 1,5 Millionen Rüsselkäfer als Schenkung eines Wissenschaftlerpaars, das nicht genannt werden möchte.
Zudem wollen die Museen das Material digitalisieren und besser zugänglich machen, um mehr Besucher anzuziehen. "Das ist momentan das Hauptziel der Smithsonian Institution", sagt der Staatsekretär der Wissenschaften, John Kress. Am Ende sollen etwa fünf Millionen botanische Exemplare eingescannt sein – das älteste ist ein Fund aus dem Jahr 1504. Die California Academy of Sciences kooperiert sogar mit Google und will Bilder der Arten und zusätzliche Informationen online stellen.
"Die Sammlungen sind eine unwahrscheinlich wichtige Quelle von bisher nicht beschriebenen Lebewesen"
Durch die Digitalisierung sind die Sammlungen für Wissenschaftler und Amateur-Taxonomen zugänglich, und in den letzten Jahren wurden auch immer mehr Arten beschrieben. Trotzdem können digitale Bilder keineswegs die Rolle der echten Sammlungen übernehmen, weil nicht alle Datenbanken Schlüsselinformationen wie dreidimensionale Scans der Exemplare enthalten, um beispielsweise Körperteile aus der Ferne vermessen zu können.
Technologische Fortschritte wie neue Methoden zur DNA-Sequenzierung steigern den Wert der Sammlungen sogar noch, weil hierdurch neue Arten entdeckt werden können, die mit herkömmlichen Methoden von ihren nächsten Verwandten nicht zu unterscheiden waren.
James Hanken ist Amphibien- und Reptilienkundler und leitet das Harvard University Museum für vergleichende Zoologie in Cambridge, Massachusetts. Mittels DNA-Sequenzierung untersuchte er die in Mexiko endemische Gattung Thorius, kleine Salamander, deren Arten bisher nicht unterschieden werden konnten. "Das sind so kleine Tiere, deren Unterschiede mit bloßem Auge nur schwer zu erkennen sind", erzählt er.
Anhand der DNA-Sequenz konnte Hanken nun 14 Arten beschreiben, die inzwischen alle von der Weltnaturschutzunion IUCN (International Union for Conservation of Nature) als bedroht eingestuft wurden. Wenn er die genetischen Daten erst einmal gesammelt hat, schaut er nach kleinen Merkmalen am Skelett, nach der Färbung oder der Körpergröße und kann die Tiere dann entsprechend klassifizieren, erklärt er.
Taxonomen nutzen bei ihrer Arbeit immer öfter das so genannte DNA-Barcoding, eine molekulare Technik zur Artenbestimmung anhand charakteristischer Sequenzen von Markergenen. Wie eine Fledermausart aber nun beispielsweise fliegt, lässt sich damit natürlich nicht herausfinden.
Dafür sind die Präparate oft die einzige und beste Möglichkeit – doch das ist bisher weder der Öffentlichkeit noch den Geldgebern bewusst, beklagen so manche Wissenschaftler. "Der Nutzen der Sammlungen lässt sich nur schlecht in Zahlen ausdrücken", sagt Christopher Norris, der Leiter des Yale Peabody Museum of Natural History in New Haven in Connecticut. "Und es ist schwierig, in einfachen Worten und gut verständlich zu erklären, warum es so wichtig ist, die biologische Vielfalt zu verstehen."
Virenspeicher
Neben der reinen Dokumentation neuer Arten und den Arbeiten zur Biodiversität bieten sich aber noch ganz andere Möglichkeiten. Das Bernice Pauahi Bishop Museum in Honolulu beispielsweise lagert Millionen von Mückenexemplaren, die für Virologen Hinweise auf die Dynamik der von Mücken übertragenen Krankheitserreger liefern könnten. Norris erinnert sich, wie vor zehn Jahren alle noch dachten, die Konservierungsmittel würden die DNA möglicher Erreger in den Proben zerstören. Inzwischen ist klar, dass sich sehr wohl virale DNA aus Präparaten gewinnen und analysieren lässt. So untersuchten einige Forscher im Jahr 2012 die Evolution eines Retrovirus, indem sie virale DNA aus der Haut eines 120 Jahre alten Koalas isolierten und mit DNA aus Hautpräparaten der 1980er Jahre verglichen.
Norris schlägt vor, dasselbe bei Fledermäusen durchzuexerzieren, um Krankheiten wie Ebola zu untersuchen – immerhin wird davon ausgegangen, dass der letzte Ausbruch in Westafrika auf Fledermäuse zurückgeht. "Man könnte in den Sammlungen nach viraler DNA suchen“, meint er. Das AMNH allein hat mehr als 125 000 Tiere aus aller Welt. "Ich bin mir sicher, dass es noch Schlimmeres gibt als Ebola – wir sind nur noch nicht darauf gestoßen."
An tödliche Krankheiten denkt Moratelli nicht, während er sich mit einer Schieblehre in der Hand seiner Arbeit am Smithsonian widmet. Sorgfältig bestimmt er die Größe einer Fledermaus, trägt die Daten in eine Tabelle ein und legt das Tier auf ein Tablett. Und dann kommt die nächste an die Reihe: In Schränkchen nebenan lagern noch etliche Exemplare als Leihgabe von Museen aus Pennsylvania, Louisiana und Kalifornien, die er alle vermessen will.
Letztes Jahr arbeitete Moratelli noch an der Texas Tech University in Lubbock, und es sieht so aus, als hätte er dort eine bisher unbekannte Art guyanischer Fledermäuse entdeckt. Ob sich das bewahrheitet, wird er noch dieses Jahr in Kanada erfahren, wo er sein Exemplar mit denen einer großen Sammlung von mehreren hundert Tieren aus Guyana vergleichen möchte.
Vor einigen Jahren war er schon im staatlichen französischen Naturkundemuseum in Paris, um zwei Exemplare in Augenschein zu nehmen. In den nun folgenden Monaten wird Moratelli aber Tausende von Präparaten vermessen, und er ist sich sicher, dass neue Arten dabei sind. Einige von ihnen – stark bedrohte Fledermäuse aus schwindenden Lebensräumen – werden damit vielleicht vor dem Aussterben bewahrt. Für andere ist es aber bereits zu spät.
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