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Naturnahe Landwirtschaft: Zurück auf die Weide

Wo Rinder und Pferde in geringen Dichten grasen, etabliert sich oft eine reiche Tier- und Pflanzenwelt. Doch diese traditionelle Form der Viehwirtschaft ist aus der Mode gekommen. Leider, wie viele Fachleute finden. Eine Renaissance der »Wilden Weiden« könnte für wenig Geld einen großen Beitrag zum Schutz der biologischen Vielfalt leisten. Und das wäre nicht der einzige positive Effekt.
Wasserbüffel auf einer Wilden Weide
Der Naturfilmer Jan Haft hält selbst Wasserbüffel auf einer Wilden Weide und freut sich, wie sie Artenvielfalt dort steigern.

Auf den ersten Blick sieht der Drehort ganz vielversprechend aus: ein durchaus attraktiv wirkender Magerrasen in der Nähe von Regensburg. Was könnte näherliegen, wenn man den Orangeroten Heufalter (Colias myrmidone) vor die Kamera bekommen will? Schließlich ist das dekorative Insekt auch unter dem Namen Regensburger Gelbling bekannt. Doch so akribisch der Dokumentarfilmer Jan Haft und sein Team das Grasland mit den eingestreuten Felsen auch durchkämmen: Die Fahndung bleibt erfolglos. Weit und breit ist kein Schmetterling mit leuchtend orangefarbenen Flügeln zu entdecken. Dabei wissen die Filmleute, dass die Art hier vor 20 Jahren noch herumgeflogen ist. Doch Europas vielleicht am stärksten bedrohter Tagfalter hat in seiner Patenstadt offenbar die Segel gestrichen. So wie fast im gesamten Rest des Kontinents.

Grund genug für Jan Haft, das Insekt zum Protagonisten einer filmischen Spurensuche zu machen. Denn für ihn ist das Verschwinden des Orangeroten Heufalters symptomatisch für eine Entwicklung, die auch zahllose andere Tiere und Pflanzen in die Bredouille gebracht hat: »Die meisten Grasländer Europas haben sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert«, weiß der Biologe und begeisterte Naturschützer aus eigener Anschauung. So werden viele Wiesen heute häufiger gemäht, auf den Weiden grasen die Tiere oft in deutlich höheren Dichten als früher. Mit dieser Intensivierung aber kommen viele Grünlandbewohner nicht zurecht. Andererseits wurde die Nutzung von wenig ertragreichen Flächen vielerorts ganz aufgegeben. Und das schadet der Artenvielfalt ebenso. Denn ohne Mähgeräte oder grasende Pflanzenfresser machen sich rasch Gehölze breit, so dass die Licht liebenden Arten der offenen Landschaft keine Chance mehr haben.

Wasserbüffel | Vor der letzten Eiszeit lebten Wasserbüffel auch in Europa und waren Teil der damaligen Megafauna, die Lebensräume offen hielt. Heute werden sie oft auf dem Balkan in gemischten Herden mit Pferden und Hausrindern gehalten.

»Um das zu verhindern, versucht man, wertvolle Flächen gezielt durch Mähen oder eine Beweidung mit Schafen offen zu halten«, sagt Jan Haft. Doch selbst solche Naturschutzmaßnahmen konnten den Rückzug des Orangeroten Heufalters nicht stoppen. Früher flatterte er über viele Graslandschaften im Westen Asiens und im Süden Russlands, in Ost-, Südost- und Mitteleuropa. Auch im Osten und Süden Deutschlands kam er vor. Inzwischen aber steht er in der gesamten Europäischen Union als »vom Aussterben bedroht« auf der Roten Liste, in den meisten Ländern ist er bereits verschwunden. Um für den Fernsehsender ARTE »Die Geschichte vom Orangeroten Heufalter« zu drehen, blieben Jan Haft und seinen Kollegen daher nicht mehr viele Möglichkeiten.

Draculas Nachbar

Aufgestöbert haben sie ihren Protagonisten schließlich in der rumänischen Region Transsilvanien, wo es noch Landschaften wie aus längst vergangenen Zeiten gibt. Hier wandern Rinder und Pferde noch über nicht eingezäunte Hügel, fressen mal hier und mal da an der Vegetation. So schaffen sie eine Art europäische Savanne mit verstreuten Dornbüschen, einzelnen Bäumen und einem Meer von Blüten.

Auch der Regensburger Ginster (Chamaecytisus ratisbonensis), von dem die Raupen des Orangeroten Heufalters leben, wächst auf diesen traditionellen Dorfweiden reichlich. Und so bekommt das Filmteam eine extrem seltene Chance: Die Kameras fangen nicht nur Szenen von den am Ginster knabbernden Raupen ein. Sondern auch solche von erwachsenen Schmetterlingen in strahlendem Orange, die um die pinkfarbenen Blüten der Pechnelken gaukeln oder von Hufen aufgetrampelte und mit Rinderurin getränkte Stellen als Mineralquelle und Treffpunkt nutzen.

Es sind die ersten Bilder einer zoologischen Rarität, die das Team nie zuvor live gesehen hat. »Bei aller Begeisterung hatten wir allerdings immer im Hinterkopf, dass es die letzten Bilder überhaupt von dieser Art sein könnten«, erinnert sich Jan Haft. Denn sogar in Rumänien gibt es immer weniger traditionell genutzte Rinder- und Pferdeweiden. Der Rückzug seiner schwergewichtigen Nachbarn aber könnte den seltenen Schmetterling noch aus seinen letzten Refugien vertreiben.

Wie berechtigt diese Sorge ist, zeigt ein kürzlich abgeschlossenes Heufalter-Forschungsprojekt in drei Schutzgebieten in den rumänischen Landkreisen Harghita und Cluj. Ein deutsch-rumänisches Team um Jacqueline Loos von der Universität Lüneburg hat dort die Biologie und die Ansprüche des vom Aussterben bedrohten Insekts untersucht.

Orangeroter Heufalter | Der Orangerote Heufalter – auch Regensburger Gelbling genannt – gehört zu den seltensten Tagfaltern Europas. Gute Bestände finden sich nur noch vereinzelt in Rumänien. Die Aufgabe Wilder Weiden bedroht ihn.

Demnach genügen schon kleine Veränderungen in der Art und Intensität der Beweidung, um den Entwicklungszyklus vom Ei über die Raupe bis zum erwachsenen Falter zu unterbrechen. Besonders in ihrer Jugend sind die Tiere anfällig. Ihr Lebensraum muss einerseits so stark beweidet werden, dass ihre Futterpflanzen nicht von konkurrenzstärkeren Gehölzen verdrängt werden. Andererseits dürfen es auch nicht zu viele hungrige Äser sein. Denn sonst werden Eier und Raupen zu oft mitgefressen.

Auf die Art der Beweidung kommt es an

Vor allem aber macht es für die Schmetterlinge durchaus einen Unterschied, welche Art von Weidetieren das Gelände offen hält. So haben Rinder keine Schneidezähne und rupfen die Vegetation daher etwa fünf bis sieben Zentimeter über dem Boden mit der Zunge ab. Schafe dagegen lassen harte Gräser oft stehen, fressen dafür aber die nahrhaften Kräuter sehr gründlich bis fast auf die Erde herunter. Dadurch bleiben nicht nur zu wenige Blüten als Nektarlieferanten für die erwachsenen Falter übrig. Anders als Rinder fressen Schafe sehr gern auch die jungen Triebe des Regensburger Ginsters – mitsamt dem daran haftenden Schmetterlingsnachwuchs.

Auf einer ihrer rumänischen Untersuchungsflächen haben Jacqueline Loos und ihr Team nach der Beweidung durch eine Schafherde keinerlei Eier oder Larven des Heufalters mehr gefunden. Und seine Wirtspflanzen waren fast komplett zerstört. Auch der Ökologe und Schmetterlingsexperte Laszlo Rakosy von der Universität Cluj hat mehrfach festgestellt, dass schon nach wenigen Jahren Schafbeweidung der Regensburger Ginster mitsamt dem Falter verschwand. Auf den einstigen Gelblings-Eldorados wuchs dann nur noch ein öder Rasen der Aufrechten Trespe (Bromus erectus) – einer Grasart, die Schafe verschmähen. Zum Schutz des vom Aussterben bedrohten Schmetterlings plädieren die Forscherinnen und Forscher daher vor allem dafür, seine Lebensräume weiterhin extensiv mit Rindern zu beweiden. Davon könnten ebenso zahlreiche weitere Arten profitieren.

Mit Zähnen, Hufen und Mist

Auch wo die naturnahen Weiden schon verschwunden sind, kann ihre Renaissance der Artenvielfalt nützen. Schließlich drängen die Landschaftsgestalter auf vier Hufen nicht nur die Gehölze zurück. Sie schaffen ein vielfältiges Mosaik von Kleinlebensräumen für die unterschiedlichsten Ansprüche. Etliche Wildbienen zum Beispiel profitieren von den offenen Bodenstellen, die das Vieh beim Scharren oder Suhlen schafft. Zudem produziert eine einzige Kuh rund zehn Tonnen Dung pro Jahr: ein Schlaraffenland für viele Fliegen und Mistkäfer, sofern die Wiederkäuer nicht zu viele Medikamente gegen Darmparasiten erhalten.

Und das reiche Insektenangebot ernährt dann wieder eine Fülle von Vögeln und Fledermäusen, Amphibien und Reptilien. »Schätzungen zufolge können aus 1000 Kilogramm Rind etwa 100 Kilogramm Insekten pro Jahr entstehen«, sagt Jan Haft. »Die wiederum ernähren zehn Kilogramm Insektenfresser, und davon leben dann immer noch ein Kilogramm Wiesel und andere Raubtiere.«

Was diese statistischen Zahlen in der Praxis bedeuten, kann der Filmemacher vor der eigenen Haustür beobachten: Vor drei Jahren hat er zwei Wasserbüffel angeschafft und ihnen eine 2,5 Hektar große Weide zur Verfügung gestellt. Seither hat sich das feuchte Grünland schon deutlich verändert. »Der extrem seltene Kriechende Sellerie, der Sonne und schlammigen Boden braucht, hat sich dort explosionsartig ausgebreitet«, berichtet der Biologe. An den Pfaden, die seine Büffel getrampelt haben, baut die Auen-Schenkelbiene ihre Brutröhren. Im Dung graben Vögel nach Fressbarem. Und auf dem Rücken der massigen Vegetarier sitzen oft Grünfrösche und Bachstelzen, die Jagd auf die surrenden Bremsen machen.

Artenreiches Offenland | Das Beweiden mit gemischten Herden aus Kühen, Pferden und Wasserbüffeln sowie manchmal Schafen schafft ein artenreiches Offenland. Heute findet man es nur noch selten und vor allem in abgelegenen Regionen Osteuropas.

Auch anderenorts bescheinigen Fachleute den großen Pflanzenfressern beeindruckende ökologische Verdienste. Auf der Farm Knepp Estate in Südengland zum Beispiel haben English-Longhorn-Rinder, Exmoor-Ponys und Tamworth-Schweine sowie Rothirsche, Rehe und Damhirsche mit vereinten Kräften die Rückkehr von bedrohten Insekten, Vögeln und Säugetieren in die Wege geleitet. Nach weniger als 20 Jahren Beweidung auf ehemaligen konventionellen Ackerflächen waren nicht nur Turteltaube, Nachtigall und Wanderfalke wieder da, sondern auch der Große Schillerfalter sowie 13 Fledermausarten.

Beispiele aus Deutschland

Ähnliche Erfolge können auch die nach dem Vorbild des ausgestorbenen Auerochsen gezüchteten Heckrinder und die robusten Konikpferde verbuchen. In der Oranienbaumer Heide in Sachsen-Anhalt hat dieses Duo eine massive Zunahme etlicher gefährdeter Vogelarten vom Ziegenmelker bis zum Wiedehopf und vom Wendehals bis zur Heidelerche bewirkt. Und in vier Gebieten in Thüringen und Baden-Württemberg ist ein Team um den freiberuflich tätigen Biologen Herbert Nickel auf einen regelrechten Zikadenboom gestoßen.

»Diese Insekten sind sehr gute Indikatoren für den Zustand und die Vielfalt von Graslandökosystemen«, erklärt der Experte. Etwa 600 der insgesamt rund 650 bekannten Zikadenarten in Deutschland leben in solchen halb offenen Lebensräumen – darunter die meisten gefährdeten und vom Aussterben bedrohten Spezies. Ein besonderes Faible scheinen sie dabei für ungemähte, extensiv beweidete Flächen zu haben: Auf einem einzigen Quadratmeter davon leben mitunter tausende Zikaden, die zu Dutzenden von verschiedenen Arten gehören.

Diese Fülle macht die Tiere zu einer beliebten Beute für die unterschiedlichsten Jäger: Käfer, Ameisen und Spinnen stellen ihnen ebenso nach wie Vögel, Amphibien und Reptilien. Zudem sind in einer vielfältigen Zikadengemeinschaft ganz unterschiedliche Lebensstrategien vertreten. Zwar ernähren sich alle Arten von Pflanzensäften, die sie wie mit einem Strohhalm aus den Gewächsen saugen. Doch während sich die meisten dabei auf ganz bestimmte Pflanzenarten beschränken, sind andere weniger wählerisch. Die kleinen Insekten können sesshaft oder mobil sein, sonnigere oder schattigere Plätze bevorzugen, eine oder mehrere Generationen pro Jahr in die Welt setzen. »Wo es viele verschiedene Zikaden gibt, ist der Lebensraum deshalb meist besonders abwechslungsreich«, erklärt Herbert Nickel. »Fast immer findet man dort zum Beispiel auch eine große Vielfalt von Pflanzen, Tagfaltern oder Heuschrecken.«

Die Rückkehr der Vielfalt

Obwohl sie diese Zusammenhänge seit Langem kennen, kann das Potenzial der naturnahen Weiden selbst Fachleute wie ihn noch überraschen. Auf einer Fläche mit langer Weidetradition im thüringischen Naturschutzgebiet Erlebachwiesen im Landkreis Gotha haben er und seine Kollegen mehr als 200 verschiedene Zikadenarten nachgewiesen. Auf nur sechs Hektar lebt dort also rund ein Drittel aller Spezies, die in Deutschland überhaupt vorkommen. »Mit einer so hohen Zahl hatten wir selbst nicht gerechnet«, erinnert sich Herbert Nickel. »Aber dass die extensive Beweidung positive Effekte auf die Zikaden hat, ist durchaus plausibel.«

Denn die Weidetiere schaffen ein vielfältiges Mosaik aus hoher und niedriger Vegetation, aus fast kahlen und von Gehölzen beschatteten Flecken. So lassen sie genau die Pflanzenarten stehen, auf die sich die Insekten spezialisiert haben. Dazu gehören zum Beispiel Binsen, Disteln und Brennnesseln, aromatische oder giftige Kräuter und Dornsträucher.

Kleines Knabenkraut | Kühe grasen anders als Schafe und fressen viele Gräser, verschmähen jedoch Kräuter wie dieses Kleine Knabenkraut. Eine Beweidung mit Schafen führt daher langfristig zu artenarmem Grasland, die extensive Beweidung mit Pferden und Rindern dagegen zu artenreichen Wiesen.

Das alles begünstigt die Artenvielfalt stark. Die Insekten können von abgegrasten Stellen auf nur wenige Meter entfernte Bereiche mit hoher Vegetation ausweichen, wo sie Schutz vor Sonne, Austrocknung und Räubern finden. Außerdem werden Eier und Larven nicht großflächig ausgelöscht. Gemähte Wiesen sehen da im Vergleich viel einheitlicher aus. Wenn die Mähgeräte unterwegs waren, hinterlassen sie gleichmäßig kurz geschorene Flächen, auf denen meist nur die Allerweltsarten unter den Zikaden leben können. Für die Spezialisten, unter denen sich besonders viele bedrohte Arten finden, bleibt kein Platz.

»Die gute Nachricht ist aber, dass sie bei richtiger Bewirtschaftung nicht dauerhaft verschwunden bleiben müssen«, sagt Herbert Nickel. Die Untersuchungen in Thüringen haben nämlich gezeigt, dass die Tiere sehr rasch reagieren, wenn man Kühe und Pferde wieder auf die Flächen lässt. Nur fünf Jahre nach dem Beginn der Beweidung haben die Forscher dort zwei- bis dreimal so viele Zikadenarten und sogar bis zu viermal so hohe Individuenzahlen gefunden wie auf einer einmal pro Jahr gemähten Wiese. Und das hatte auch positive Effekte auf die Vorkommen von Vögeln, Reptilien und Amphibien.

Auf die Zahlen kommt es an

Damit Naturschützer solche Erfolgsgeschichten erzählen können, darf die Viehdichte allerdings nicht zu hoch sein. Denn für die so wichtige und artenreiche Gruppe der Gliedertiere, zu der neben Insekten zum Beispiel Spinnen oder Tausendfüßler gehören, ist das Leben auf einer Weide eine zwiespältige Angelegenheit. Einerseits schaffen die Hufe und Mäuler zwar ein attraktives Mosaik von Lebensräumen. Andererseits laufen die Grünlandbewohner aber Gefahr, vom Vieh mitgefressen, zertrampelt oder ihrer Nahrungspflanzen beraubt zu werden. Und dieses Risiko steigt mit wachsendem Viehbesatz, zeigt eine Studie, die eine ganze Reihe von Untersuchungen zu diesem Thema ausgewertet hat.

Fachleute wie Edgar Reisinger vom Verein Taurus Naturentwicklung in Jena empfehlen deshalb, möglichst viele Flächen nach den Grundprinzipien der so genannten Wilden Weide zu bewirtschaften. Demnach braucht ein großer Pflanzenfresser, also ein Hausrind, ein Pferd oder ein Wasserbüffel, aufs Jahr bezogen 1,5 bis 3 Hektar Weidefläche. Insgesamt sollte eine Wilde Weide mindestens 50 Hektar groß sein. Eine europäische Savanne mit all ihrer Vielfalt kann am besten entstehen, wenn robuste Rinder und zusätzlich einige Pferde dort das ganze Jahr hindurch grasen und Dung produzieren. Und damit Mistkäfer und Co nicht unnötig geschädigt werden, sollten die Landwirte bei ihren Weidetieren auf eine prophylaktische Parasitenbekämpfung verzichten und nur bei tatsächlichem Befall behandeln. Wichtig ist auch, dass die Weidefläche nicht durch Zäune unterteilt wird und die Tiere frei entscheiden können, wo und was sie fressen. Denn nur so kann ein naturnahes Vegetationsmosaik entstehen. Weitere Kriterien der Wilden Weide beziehen sich auf eine geringe Zufütterung, eine möglichst stabile Sozialstruktur der Herde, einen Verzicht auf zusätzliches Mähen und das Einbeziehen von Landschaftselementen wie Fluss- und Seeufern, Felsen, Gehölzen und Wald.

Wilde Weiden in Deutschland

»Leider gibt es in Deutschland nur sehr wenige Weiden, die diese Kriterien erfüllen«, sagt Herbert Nickel. Zusammen mit Edgar Reisinger hat er 2021 nach intensiver Recherche eine Übersicht entsprechender Flächen zusammengestellt. Dabei sind die beiden Autoren bundesweit auf 158 Projekte zur Wilden Weide gestoßen. Vorreiter ist demnach das Land Schleswig-Holstein, in der zweiten Reihe folgen dann Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Brandenburg hat zwar nur wenige Flächen, die den Ansprüchen an diese Form der extensiven Nutzung genügen. Dafür liegt dort in der von Wisenten und Przewalski-Pferden bewohnten Döberitzer Heide die größte Wilde Weide Deutschlands.

Bundesweit kommen alle diese Grasländer zusammen allerdings nicht einmal auf 18 000 Hektar – und nehmen damit nur 0,1 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche ein. »Das ist weit von den fünf Prozent entfernt, die Naturschützer fordern, um den Rückgang der Biodiversität zu bremsen«, sagt Nickel. In seinen Augen ist da noch deutlich Luft nach oben. Deshalb engagiert er sich im Verein Naturnahe Weidelandschaften e. V., der sich für die großflächige und extensive Beweidung als Naturschutzmaßnahme starkmacht.

Deutschland soll wilder werden

Andere Fachleute fordern ebenfalls, künftig mehr Ackerflächen, Intensivgrünland und Forst wieder in Wilde Weiden umzuwandeln. Das könne einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen das viel diskutierte Insektensterben leisten, heißt es in einer gemeinsamen Resolution von deutschen Extensivweide-Vereinigungen, Naturschutzorganisationen und Tierhaltern. Auch für den Boden- und Klimaschutz, die Hochwasserrückhaltung, die Erholung und das Landschaftsbild sowie das Wohl landwirtschaftlicher Nutztiere lasse sich dadurch viel erreichen. Der Preis dafür sei volkswirtschaftlich niedrig, wenn man sich vor allem auf Standorte konzentriere, die wenig Ertrag liefern oder deren Bewirtschaftung mit einem gewissen wirtschaftlichen Risiko verbunden ist. Letzteres sei beispielsweise in überschwemmungsgefährdeten Flussauen der Fall.

»Wir könnten so auf einfache, billige und effektive Weise artenreiche Landschaften zurückgewinnen, wie sie früher in vielen Regionen Europas typisch waren«, meint Jan Haft. Zur Forderung vieler Naturschützer, in Deutschland mehr Wildnis zuzulassen, sieht er dabei keinen Widerspruch. In seinem kürzlich erschienenen Buch »Wildnis« stellt er die grasenden Rinder und Pferde in die Tradition der längst ausgestorbenen großen Pflanzenfresser früherer Erdzeitalter. Denn der Megaherbivoren-Theorie zufolge haben Wisente, Auerochsen, Wildpferde und Co Millionen Jahre lang an Europas Vegetation gefressen und so halb offene Parklandschaften geschaffen, in denen auch viele andere Tiere und Pflanzen zu Hause waren.

»Diese Offenlandarten haben später auf den Weiden von Nutztieren einen Ersatzlebensraum gefunden«, erklärt der Dokumentarfilmer. Doch selbst diesen Lebensraum haben sie vor allem seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in rasantem Tempo verloren. »Noch im Jahr 1900 gab es in Deutschland 25 bis 30 Millionen Rinder und Pferde«, sagt Jan Haft. »Heute sind es nur noch etwa 12 Millionen, von denen die meisten in Ställen leben.« Ihre Rückkehr in die Landschaft könnte etwas schaffen, das Jan Haft als eine »neue Wildnis« betrachtet. Ob er die Renaissance einer europäischen Serengeti noch erleben wird, bezweifelt er zwar. Doch er bleibt optimistisch.

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