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Neandertaler: Das »Blumengrab« von Shanidar war wohl doch keins

Neandertaler hätten ihre Toten mit Blüten bedeckt, schrieben Fachleute in den 1960ern. Doch die Pollen, die die Ausgräber damals im Grab entdeckten, hatte wohl ein ganz anderes Wesen gesammelt.
Neandertaler
Als die Forschung Neandertaler noch für primitive Urmenschen hielt, entdeckte ein Team Blütenpollen in der Umgebung eines Skeletts: Hatten die Neandertaler ihre Toten mit Blüten bestreut?

Es löste eine kleine Revolution in der Archäologie aus, als Ralph Solecki Anfang der 1960er Jahre im Irak auf Neandertalerskelette stieß und unter einem von ihnen verklumpte Reste von Blütenpollen fand. Die seien kaum durch den Wind dorthin gelangt, erkannte Solecki und publizierte rund zehn Jahre später eine Aufsehen erregende Hypothese: Die Neandertaler hätten ihren toten Artgenossen nicht einfach in der Höhle abgelegt, sondern diesen auch noch auf Blumen gebettet – oder womöglich gar noch zu Lebzeiten mit Hilfe der Pflanzen eine Heilwirkung erzielen wollen.

Soleckis Veröffentlichung und die seiner Kollegin Arlette Leroi-Gourhan waren maßgeblich dafür verantwortlich, dass man in der Fachwelt die Urmenschen in neuem Licht zu sehen begann: als typisch menschliche Wesen, die, wenn auch begrenzt, zu Kultur und Empathie fähig waren.

Nun bestätigt eine Studie im Fachblatt »Journal of Archaeological Science« die Zweifel, die im Lauf der Jahrzehnte an Soleckis Hypothese gewachsen waren. Die Neandertaler trugen bei der Bestattung eher keine Blumen in die Höhle, zumindest taugen die gefundenen Pollen nicht als Beleg dafür. Die Pflanzenteile scheinen stattdessen von Solitärbienen in Bodennester geschleppt worden zu sein.

Das schreibt ein Team um den Pollenexperten Chris Hunt von der Liverpool John Moores University. Damit widerlegt Hunt genau diejenige Hypothese, die ihn nach eigenen Angaben überhaupt erst dazu inspiriert hatte, die Pollenanalyse zu seinem Spezialgebiet zu machen. Sein Team hat dazu unter anderem eigene Grabungen in der Shanidar-Höhle im Irak durchgeführt und die Aufzeichnungen von Solecki und Mitarbeitern analysiert.

Von Bienen und Blumen

Die Pollenklumpen werteten Solecki und Mitarbeiter seinerzeit als Überreste von Staubbeuteln. Das heißt, die Pollen wären mit der kompletten Blüte verfrachtet worden und nicht einzeln über den Wind. Hunt fand nun jedoch heraus, dass in den Klumpen Pollen verschiedener Pflanzenarten steckten. Das passe eher zu den Pollen sammelnden Wildbienen und nicht zu der Staubbeuteltheorie.

Wildbienen sind auch heute keine Seltenheit in der Shanidar-Höhle: Während die Gruppe um Hunt dort grub, beobachtete sie, wie Solitärbienen im Höhlenboden ihre Nester bauten. Zudem fanden sich in den fraglichen Sedimenten recht eindeutige Hinweise auf Bienenbauten aus der Neandertalerzeit.

Gegen die These von den Blumen pflückenden Neandertalern spricht auch der Umstand, dass unter dem fraglichen Skelett – Shanidar 4 genannt – Blütenpollen von Spezies gefunden wurden, die zu ganz unterschiedlichen Zeiten im Jahr in Blüte stehen und folglich nicht binnen weniger Tage gesammelt worden sein konnten. Insbesondere die unreifen Pollen könnten zudem auch über Nagetiere in das Sediment gekommen sein. Solche grabenden Kleinsäuger hatte man dafür schon länger im Verdacht.

Auch wenn sie die Hypothese von der Blumenbestattung für nicht überzeugend halten, gehen die Autorinnen und Autoren der aktuellen Studie davon aus, dass hinter den Skelettfunden der Shanidar-Höhle die gezielte Bestattung von verstorbenen Angehörigen steht. Neandertaler hätten wiederholt ihre Toten in einem Bereich der Höhle abgelegt, der damals durch einen markanten, rund zwei Meter hohen Pfeiler markiert wurde. An der grundsätzlichen Fähigkeit der Neandertaler zu komplexen sowie symbolischen Handlungen wollen sie darum nicht zweifeln. Wie der anatomisch moderne Mensch hätten auch die Neandertaler die sie umgebende Landschaft mit Bedeutung versehen.

Und noch ein Argument führen die Wissenschaftler gegen die These vom Blumenstreuen an: Einige Pollen stammten von sehr stachligen Flockenblumen. Sie unter einen Toten zu streuen, dass sei, so schreiben Hunt und Kollegen, mit »heute verbreiteten Vorstellungen von Empathie schwer zu vereinbaren«.

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