Direkt zum Inhalt

Neonikotinoide: Supergifte auf den Äckern der Welt

In der EU sind Neonikotinoide im Freiland verboten. Doch die Insektizide sorgen weiter für Probleme. Auch, weil man die Supergifte in den globalen Süden verschifft, um unseren Bedarf an billigem Fleisch zu decken.
Dass naturschädliche Pestizide nun in anderen Weltregionen eingesetzt werden, liegt an der Nachfrage auch aus der EU nach billigem Fleisch und Obst; dies befeuert eine immer weitere Intensivierung der Landwirtschaft in Entwicklungsländern.

Insektenvernichtungsmittel auf der Basis von Neonikotinoiden galten einst als Wundermittel, doch heute ist klar, wie giftig sie für die Umwelt sind. 2018 verboten die EU-Staaten den Einsatz der wichtigsten von ihnen – Clothianidin, Thiametoxam und Imidacloprid – im Freiland, nachdem auch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit die Schädlichkeit der Stoffe für Wild- und Honigbienen bestätigt hatte.

Aus der Welt ist das Problem damit allerdings noch lange nicht. Denn was in der EU als zu gefährlich angesehen wird, kann Entwicklungsländern offenbar zugemutet werden. Das Verbot in der EU verhindert nämlich nicht Exporte in andere Weltregionen. Die Schweizer Rechercheplattform Public Eye berichtete im Herbst 2021 auf Basis der von ihr eingesehenen Exportunterlagen, dass aus der EU allein von September bis Dezember 2020 Exporte von in der EU verbotenen Neonikotinoiden im Volumen von fast 3900 Tonnen angemeldet wurden. Diese Menge reiche, um die gesamten Agrarflächen in Deutschland, Dänemark und den Beneluxstaaten zusammen zu besprühen.

Exportiert werden die Gifte vor allem in Länder des globalen Südens, in denen die Artenvielfalt noch hoch ist und deren Ökosysteme deshalb im Kampf gegen das weltweite Artensterben mit dem neuen Weltnaturschutzabkommen in diesem Jahr besonders geschützt werden sollen.

Gifte für den globalen Süden

Neonikotinoide wurden erstmals in den 1990er Jahren eingeführt und sind heute die weltweit am häufigsten verwendeten Insektengifte. Sie wirken systemisch: Die Pflanzen nehmen das Gift auf und verteilen es in ihrem gesamten Organismus. Insekten nehmen es dann über die Stängel, Blätter, Blüten oder über Pflanzensäfte auf. Im Körper angelangt, schädigt es als Nervengift auf vielfältige Weise auch Arten, gegen die es eigentlich nicht gedacht ist: Bienen, Schmetterlinge, Vögel, Bodenorganismen und Wasserlebewesen.

Dass naturschädliche Pestizide nun in anderen Weltregionen eingesetzt werden, liegt an der Nachfrage auch aus der EU nach billigem Fleisch und Obst; dies befeuert eine immer stärkere Intensivierung der Landwirtschaft in Entwicklungsländern. Und in Deutschland selbst sind die Probleme mit Neonikotinoiden nach dem weit gehenden Verbot ebenfalls nicht vorbei. Denn selbst Jahre nach deren Einsatz finden sich die Gifte bis heute in Böden und Gewässern der Agrarlandschaft.

Das liegt zum einen daran, dass nur ein kleiner Teil der Neonikotinoide von den Pflanzen aufgenommen wird. Forscher schätzen, dass bei der gebräuchlichsten Behandlungsform – dem Beizen von Samen mit dem Mittel vor der Aussaat – weniger als zwei Prozent der Neonikotinoide in der Pflanze landen. Mehr als 98 Prozent des Insektengifts gelangen damit in den Boden. Weil Neonikotinoide hier, je nach Produkt, eine Halbwertszeit von teilweise mehr als drei Jahren haben, reichern sie sich in der Erde an. Dort richten sie erhebliche Schäden an.

Erhebliche Schäden bei Ameisen und Regenwürmern

Untersuchungen brasilianischer Forscher zeigten beispielsweise, dass das Neonikotinoid Imidacloprid besonders gefährlich für Regenwürmer ist. Diese Tiergruppe stellt den Großteil der tierischen Biomasse unter der Erde und gilt als äußerst bedeutend für das Ökosystem Boden. Im Freiland übliche Neonikotinoidkonzentrationen können demnach für Regenwürmer unmittelbar tödlich sein. Außerdem mieden die Würmer in der Studie generell pestizidbelastete Böden und hatten in solchen eine geringere Fortpflanzungsrate als in unbelastetem Untergrund; beides schädigt die Ertragsfähigkeit.

Ähnlich wichtig für das Bodenleben sind Ameisen. Auch bei ihnen stellten Forscher erhebliche Schäden durch Neonikotinoide fest. So war die Zahl der nach Nahrung suchenden Arbeiterinnen in experimentell belasteten Kolonien deutlich geringer als in unbelasteten. Bei einer anderen Art änderte sich sogar das Verhalten mit der chronischen Exposition gegenüber einem Neonikotinoid stark: Die Tiere wurden bei Konfrontationen mit größeren Ameisenarten deutlich aggressiver – mit der Folge einer um 60 Prozent geringeren Überlebenswahrscheinlichkeit.

In einer Übersichtsstudie zu den Auswirkungen von Neonikotinoid-Insektiziden auf die verschiedensten Kleinlebewesen zieht ein internationales Forscherteam das Fazit, dass bereits der rechtskonforme Einsatz von Neonikotinoiden »großflächige und weit reichende negative biologische und ökologische Auswirkungen auf ein breites Spektrum von wirbellosen Arten« an Land, im Wasser und auf Gewässerböden hat.

Gute Gründe für das Verbot auch in Deutschland also, mit dem sich zudem die Altlasten im Boden Jahr für Jahr abbauen würden – wären da nicht die Ausnahmen von der Regel. Denn trotz Verbots werden über so genannte Notfallzulassungen des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit hier zu Lande Neonikotinoide ausgebracht und belasten weiterhin den Boden. Allein 2021 wurde zur Bekämpfung eines Zuckerrüben-Schädlings die Anwendung auf rund 130 000 Hektar erlaubt. Das entspricht einer Fläche von mehr als 180 000 Fußballfeldern oder der Größe des halben Saarlandes.

Neonikotinoide haben verheerende Wirkungen

Dabei ist die Geschichte der chemischen Insektenvernichtung durchaus wechselhaft: Als Paul Hermann Müller 1948 als erster Nichtmediziner den Medizin-Nobelpreis erhielt, kannte die Bewunderung für die Entdeckung des Schweizer Chemikers kaum Grenzen. Im vom Krieg gebeutelten Europa hatte sich in den Jahren zuvor Typhus ausgebreitet, und Müller hatte entdeckt, dass ein bestimmter chemischer Stoff als Kontaktgift effektiver und schneller als jeder andere Fluginsekten, Flöhe und auch Läuse tötete, die die Krankheit übertrugen. »Unerwartet und dramatisch, praktisch aus heiterem Himmel« sei das Produkt als Deus ex Machina erschienen, würdigte der Laudator die Entdeckung bei der Vergabe des Nobelpreises. Der Name dieses Wundermittels lautete: DDT.

In den folgenden Jahrzehnten wurde DDT weltweit massenhaft in der Landwirtschaft und in Haushalten gegen jegliche unwillkommene Insekten, Spinnen und Milben versprüht. Erst als die US-Ökologin Rachel Carson 1962 in ihrem Buch »Silent Spring« die verheerenden Wirkungen der Chemikalie aufzeigte, wurde der Grundstein für das Jahre später verhängte weltweite Verbot des Insektengifts gelegt. Ein Verbot, das Tierarten wie Wanderfalke und Seeadler in letzter Minute das Überleben rettete. Denn in der Begeisterung für DDT wurde über die verheerenden Begleitwirkungen hinweggesehen: die Anreicherung im Körper, die hormonähnliche Wirkung, die Eierschalen von Vögeln so dünn werden ließ, dass sie unter den Körpern der brütenden Tiere zerbrachen – und nicht zuletzt die wahrscheinlich Krebs erregende Wirkung bei Menschen.

Heute ein Heilsbringer – morgen ein Supergift: So lässt sich die Geschichte vieler Pestizide seither zusammenfassen. »Weil es letztlich immer darum geht, ernteschädliche Käfer, Blattläuse, Fliegen und andere Tiere auf den Feldern zu töten, wurden nach jedem Verbot neue Produkte aus anderen Stoffklassen entwickelt und auf den Markt gebracht, von denen man annahm, sie seien nicht schädlich«, sagt Matthias Liess. »Diese Ersatzstoffe werden so lange eingesetzt, bis die Forschung nach 10 oder 20 Jahren feststellt, dass auch sie gefährlich für die Umwelt sind«, bilanziert der Ökotoxikologe vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig. »Auf DDT folgte Lindan, darauf Parathion – das Großmuttergift E 605 –, und dann kamen die Neonikotinoide«, zählt Liess auf.

Vergiftete Bäche

In welchem Umfang Neonikotinoide auch nach dem Verbot großräumig weiter in der Landschaft vorhanden sind, zeigen aktuelle Forschungsergebnisse. So fanden Forscher der Universität Koblenz-Landau und des Entomologischen Vereins Krefeld im Sommer 2020 bei einer Untersuchung zur Pestizidbelastung von Insekten in 16 von 21 untersuchten Gebieten in ganz Deutschland das Neonikotinoid Thiacloprid in Insektenfallen. Besonders erschreckend: Alle Untersuchungsflächen lagen innerhalb von Naturschutzgebieten, und die Gifte wurden aus einem weiteren Umkreis eingetragen.

Wie groß das Problem auch in Gewässern in der Agrarlandschaft ist, hat UFZ-Forscher Liess mit seinen Kollegen untersucht. Die Forscher analysierten bundesweit die Pestizidbelastung an mehr als 100 Bächen, die durch landwirtschaftlich genutzte Regionen fließen. Das Spezielle an ihrem Vorgehen: Sie entnahmen die Proben nicht bei trockenem Wetter, sondern nach Niederschlägen, wenn Pestizide in die Bäche ausgeschwemmt werden. »Um die Gewässerbelastung realistisch abzubilden, müssen Proben direkt nach Regenfällen genommen werden«, sagt Liess. »Das ist aber nicht das Wetter, bei dem Behörden eine Wasserprobe entnehmen – die werden nach einem festen Zeitplan einmal jeden Monat durchgeführt.«

Werden also wegen eines Methodenfehlers bundesweit zu niedrige Gewässerbelastungen gemessen? Die Auswertungen der Proben der UFZ-Forscher aus zwölf Bundesländern ergaben jedenfalls ein erschreckendes Bild: Die von den Zulassungsbehörden als gerade noch vertretbar erachteten RAK-Grenzwerte für Pestizidkonzentrationen (RAK = regulatorisch akzeptable Konzentration) wurden in mehr als 80 Prozent aller Gewässer überschritten. Teilweise lagen die Messwerte 100- oder sogar fast 1000-fach darüber. Sehr auffällig auch hier Neonikotinoide. Die RAK-Werte für Thiacloprid etwa wurden in vier Gewässern um mehr als das 100-Fache überschritten.

»Einerseits wird mehr eingetragen, als erlaubt ist, und andererseits ist die Grenze selbst des Erlaubten immer noch viel zu hoch«Matthias Liess, Ökotoxikologe

Die Forscher betrachteten neben der Konzentration der Schadstoffe die ökologische Wirkung der Pestizide und stellten fest, dass zahlreiche Organismen deutlich empfindlicher auf sie reagieren als bislang angenommen: Viele Wasserorganismen werden danach schon bei dem Faktor 10 unterhalb etlicher RAK-Grenzwerte vergiftet. Von einer »sehr ungesunden Schere für die Ökosysteme« spricht Liess: »Einerseits wird mehr eingetragen, als erlaubt ist, und andererseits ist die Grenze selbst des Erlaubten immer noch viel zu hoch, weil es selbst bei Belastungen unter diesen Werten noch Schäden gibt.« Wie bei der Konzentration im Wasser waren Neonikotinoide auch mit Blick auf die Schädlichkeit für das Ökosystem am problematischsten. Sie trugen zu knapp zwei Dritteln zur Gesamtgiftigkeit aller Pestizide in den Gewässern bei.

»Beides, die Belastung und die Grenzwerte für Pestizide in deutschen Gewässern, ist dramatisch zu hoch«, folgert Liess aus seiner Untersuchung. Selbst mit der im Rahmen des Green Deals von der Europäischen Kommission angestrebten Reduzierung der Pestizide um 50 Prozent bis 2030 wäre nach seiner Überzeugung keine Wende hin zu lebensfähigen Gewässern in der Agrarlandschaft machbar. Der Forscher hat errechnet, dass der Pestizideinsatz hier zu Lande um 97 Prozent reduziert werden müsste, um die Ziele zu erreichen, die sich die Bundesregierung selbst in ihrem Nationalen Aktionsplan Pflanzenschutzmittel bis zum Jahr 2023 gesetzt hat. »De facto heißt das, dass es ohne eintragsmindernde Maßnahmen wie nicht pestizidbehandelte Vegetationsrandstreifen keinen Pflanzenschutz mit synthetischen Pestiziden geben könnte«, sagt Liess.

Fragen an die Gesellschaft

Der Forscher plädiert für eine grundlegende Reform der Pestizidpolitik. Die Artenvielfalt lasse sich nur dann erhalten, wenn Erkenntnisse aus der Forschung wesentlich schneller als bislang in den Zulassungsprozess neuer Stoffe einflössen. Nur durch viel mehr wissenschaftliches und behördliches Monitoring neuer Produkte könne der Teufelskreis durchbrochen werden, dass auf ein Supergift das nächste folge.

Letztlich sei der Pestizideinsatz aber ebenso eine gesellschaftliche Frage, glaubt Liess. Wie beim Straßenverkehr oder beim Siedlungsbau müsse die Gesellschaft entscheiden, welches Maß an Naturnutzung und Naturschädigung sie akzeptieren wolle. »Wenn das Ziel ist, Schädlinge zu töten, dann braucht man je nach Anbaumethode mehr oder weniger Gift – das Prinzip ›Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass‹ funktioniert auch hier nicht.«

Wie dieser Abwägungsprozess ausgehen sollte, dazu hat der frühere UN-Sonderberichterstatter Baskut Tuncak mit Blick auf die Auswirkungen von Umweltverschmutzung auf die Menschenrechte eine klare Meinung. »Ob sie die biologische Vielfalt auslöschen, in der Umwelt verbleiben, Arbeiter vergiften oder sich in der Muttermilch anreichern – hochgefährliche Pestizide sind nicht nachhaltig; sie können nicht sicher verwendet werden und hätten schon vor langer Zeit aus dem Verkehr gezogen werden müssen«, sagte er gegenüber Global Eye.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.