Neurowissenschaft : Nerven-Bypass trickst Lähmung aus
Sich eine Tasse Kaffee eingießen, einen Schuss Milch und etwas Zucker hinzufügen, umrühren – diese für die meisten Menschen alltägliche Fingerübung ist Ian Burkhart unmöglich. Seit einem Unfall ist der junge Mann aus Dublin, Ohio, von den Schultern an abwärts gelähmt, seine Arme kann er nur noch rudimentär bewegen. Wissenschaftler vom US-amerikanischen Battelle Memorial Institute und von der Ohio State University gaben ihm nun ein Stück seiner Bewegungsfreiheit zurück. Im Rahmen eines einmaligen klinischen Versuchs erlaubt ihm jetzt ein "Nerven-Bypass", Hand und Finger wieder präziser zu steuern – allein, indem er sich die Bewegung vorstellt.
Burkharts Rückenmark ist im Bereich der Halswirbelsäule beschädigt, so dass die Bewegungssignale des Gehirns unter normalen Bedingungen nicht mehr bei den Muskeln in Armen oder Beinen ankommen. Um diese Lücke zu überbrücken, implantierten die Forscher ihm im April 2014 zunächst einen winzigen Chip in den linken motorischen Kortex seines Gehirns. Anhand von Untersuchungen im Kernspintomografen hatten sie zuvor genau eingegrenzt, welcher Bereich des Areals speziell für Hand- und Fingerbewegungen zuständig ist.
Gehirn-Computer-Schnittstelle
Der Chip zeichnet die Hirnsignale auf und schickt sie an eine künstliche Intelligenz, die im Lauf der Zeit lernt, die Signale in konkrete Bewegungsanweisungen zu übersetzen und über eine Manschette mit 130 Elektroden die Unterarmmuskeln von Burkhart entsprechend zu stimulieren. Auf diese Weise war Burkhart bereits wenige Monate später in der Lage, seine gelähmte Hand zu öffnen und zu schließen – Kraft seiner Gedanken und in Echtzeit.
Wie die Forscher in ihrer aktuellen Publikation im Fachmagazin "Nature" berichten, ist aber noch wesentlich mehr möglich: Inzwischen kann ihr Proband dank des Nerven-Bypasses auch komplexere alltagsrelevante Bewegungen ausführen, also etwa eine Flasche greifen, den Inhalt in ein Glas kippen und anschließend mit einem dünnen Stift darin rühren. Fast wie im eingangs erwähnten Kaffeebeispiel, auch wenn die Bewegungen vielleicht noch ein wenig zu hölzern wirken, um zu gewährleisten, dass sich am Ende nicht die Hälfte des Kaffees über den Tisch ergießt. Insgesamt beherrscht Burkhart inzwischen sechs verschiedene Bewegungen von Hand und Handgelenk und kann jeden Finger einzeln bewegen. Das reicht, um etwa einen Telefonhörer ans Ohr zu halten oder auch ein Gitarrenvideospiel zu spielen.
Längst nicht perfekt
Die Forscher hoffen, dass ihr Nerven-Bypass eines Tages die Lebensqualität einer großen Bandbreite an gelähmten Patienten verbessern wird – egal, ob diese wie Burkhart eine Rückenmarkschädigung oder etwa einen Schlaganfall erlitten haben. Sie sagen allerdings selbst: Dafür muss das Verfahren an vielen Stellen noch besser werden. 15 Monate lang kam Burkhart dreimal pro Woche in ihr Labor, um mit dem Bypass-System zu trainieren. Eine Computersimulation führte ihm verschiedene Handbewegungen vor, und er dachte sie nach – immer und immer wieder, bis der Algorithmus seine Hirnaktivität verlässlich genug entschlüsseln konnte. Ab und zu hakt es aber trotzdem noch.
Kniffelig sind vor allem komplexere Bewegungen, bei denen Burkhart die rudimentären Bewegungen von Schulter und Ellbogen, die er auch ohne Nerven-Bypass noch beherrscht, mit den feinen Handbewegungen kombinieren muss: Für diese Armbewegungen sendet der Motorkortex natürlich ebenfalls Signale aus, was zu Überlagerungen führen und dem Algorithmus Schwierigkeiten bereiten kann.
Das Ziel wäre es, den Nerven-Bypass eines Tages zu einer drahtlosen Technologie zu machen, die Patienten auch problemlos daheim bedienen können, sagt Studienautor Ali Rezai von der Ohio State University. Ein zweiter Proband soll das System nach Burkhart ab Sommer testen, danach könnten noch drei weitere folgen.
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