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Quanteneffekte in der Biologie: Nervenfasern im Gehirn könnten verschränkte Photonen erzeugen

Für die meisten Neurowissenschaftler ist die Quantenphysik eher kein Thema. Doch Berechnungen suggerieren, dass Nervenfasern möglicherweise verschränkte Quantenteilchen aussenden.
Neuronales Netzwerk mit Aktivität von Nervenzellen
Nervenzellen kommunizieren über elektrochemische Signale miteinander. Wie aber lässt sich erklären, dass Millionen von Zellen im Gehirn ihre Aktivität blitzschnell synchronisieren? Einige Wissenschaftler machen Quantenphänomene dafür verantwortlich.

Ob und inwieweit Quanteneffekte in biologischen Systemen eine Rolle spielen, ist eine offene Frage. Für die meisten Neurowissenschaftler ist die Quantenphysik eher kein Thema. Quanteneffekte treten in der Regel bei sehr tiefen Temperaturen und sehr kleinen Massen auf – also in Situationen, die in biologischen Systemen meist nicht vorherrschen. Doch vor allem die Entstehung von Bewusstsein ist noch derart unverstanden, dass einige Wissenschaftler quantenmechanische Effekte in den Nervenzellen des Gehirns postulieren, um die Prozesse zu erklären. Eine chinesische Forschergruppe hat nun theoretisch gezeigt, dass in den Myelinscheiden, die die Nervenfasern umhüllen, Paare von verschränkten Photonen erzeugt werden können. Damit ließe sich möglicherweise begreifbar machen, wie Millionen von Zellen im Gehirn ihre Aktivität synchronisieren, schreibt das dreiköpfige Team im Fachmagazin »Physical Review E«.

Der berühmteste Vertreter der Theorie, dass im Gehirn quantenphysikalische Prozesse ablaufen, ist der britische Mathematiker und Nobelpreisträger Roger Penrose. Zusammen mit dem US-amerikanischen Mediziner Stuart Hameroff entwickelte er bereits 1994 ein Modell, nach dem das Bewusstsein auf quantenmechanischen Effekten wie Verschränkung, Quanten-Nichtlokalität und Quantenkohärenz beruht, die in den Mikrotubuli des Zellskeletts lokalisiert sein sollen. Mikrotubuli sind winzige, nur wenige millionstel Millimeter feine Röhrchen aus Eiweißmolekülen, die eine Zelle mechanisch stabilisieren und zusammen mit anderen Proteinen für Stofftransporte innerhalb der Zelle verantwortlich sind. Im Modell von Penrose ist jede einzelne Nervenzelle eine Art Quantencomputer, der auf nicht vollständig berechenbare Weise Information verarbeitet.

Die Gruppe um Yong-Cong Chen, Professor für Physik und Systembiologie an der Shanghai University, hat sich die Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen, die Axone, genauer angeschaut. Das sind lange Strukturen, die elektrischen Drähten ähneln und von einer Hülle aus Myelin, einem weißen Geflecht aus Fettzellen, umgeben sind. Diese Myelinscheide ist etwa 100 Mikrometer lang und immer wieder von ein bis zwei Mikrometer breiten Lücken unterbrochen. Über das Axon werden elektrische Nervenimpulse von einer Nervenzelle zur nächsten geleitet. Ist ein Gehirn aktiv, feuern plötzlich Millionen Neurone gleichzeitig. Doch die Geschwindigkeit, mit der sich die Signale entlang der Axone ausbreiten, liegt unter der Schallgeschwindigkeit, manchmal sogar weit darunter, und ist damit zu langsam, um die erstaunlichen Leistungen des Gehirns zu erklären.

»Würde die Evolution aktiv nach einer praktischen Fernwirkung suchen, wäre die Quantenverschränkung ein idealer Kandidat für diese Rolle«Yong-Cong Chen, Professor für Physik und Systembiologie

Um dieses Problem zu lösen, untersuchten Chen und seine Kollegen, ob es in dem Axon-Myelin-System verschränkte Photonen geben könnte, die instantan über die betreffenden Entfernungen wechselwirken. »Würde die Evolution aktiv nach einer praktischen Fernwirkung suchen, wäre die Quantenverschränkung ein idealer Kandidat für diese Rolle«, sagte Chen gegenüber dem »New Scientist«. Denn wenn zwei Quantenobjekte miteinander verschränkt sind, führen Veränderungen in einem Objekt sofort zu Veränderungen im anderen – somit könnten sie sich augenblicklich synchronisieren, schneller als über jede andere Art von Verbindung.

Zwar konnten bislang noch keine solchen Lichtteilchen im Gehirn direkt nachgewiesen werden, geschweige denn verschränkte. Doch man geht davon aus, dass sie im Zitratzyklus, der im Energiestoffwechsel der Zelle eine wichtige Rolle spielt, entstehen. Die Photonen führen den Kohlenstoff-Wasserstoff-Bindungen in den Fettmolekülen der Myelinscheide laut dem Modell von Chen und Co. Energie zu und regen sie in einen höheren Schwingungszustand an. Sobald das System wieder in den Grundzustand übergeht, werden nacheinander zwei Photonen abgestrahlt. Idealisiert man die Myelinscheide zu einem zylindrischen Hohlraum, der diese Photonen speichern und verstärken kann, lässt sich berechnen, wie die resultierende Wellenfunktion für ein System von zwei Photonen in einem solchen Hohlraum aussehen könnte. Die Forscher zeigten zudem, dass viele dieser Photonen paarweise miteinander verschränkt wären.

Spannendste Frage der kommenden Jahrzehnte

Inwieweit die verschränkten Photonen in den Nervenzellen des Gehirns jedoch dazu beitragen, die Entstehung von Bewusstsein zu erklären, bleibt offen. »Wir wollen mit unserer Arbeit nicht sagen, dass es eine direkte Verbindung zwischen Bewusstsein und Quantenverschränkung gibt«, sagte Chen gegenüber dem Portal »Phys.org«. »In diesem frühen Stadium besteht unser Hauptziel darin, überhaupt erst mal mögliche Mechanismen der neuronalen Synchronisation zu identifizieren.«

Doch egal, ob sie mit ihrem Vorschlag nun auf dem Holzweg sind oder nicht: Die Forscher befinden sich auf jeden Fall in illustrer Gesellschaft. Denn auch wenn bislang noch viele Fachleute davon überzeugt sind, dass die Einbeziehung der Quantenphysik in die Hirnforschung eher eine spekulative Herangehensweise ist, gibt es einige prominente Fürsprecher. So sagte auch der Wiener Quantenphysiker und Nobelpreisträger Anton Zeilinger im Gespräch mit der österreichischen Tageszeitung »Der Standard«, dass es zu den spannendsten Fragen der kommenden Jahrzehnte zähle, zu ergründen, ob die Quantenphysik auch Einfluss auf belebte Systeme und insbesondere auf die Informationsverarbeitung im Gehirn hat.

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  • Quellen
Liu, Z. et al.: Entangled biphoton generation in the myelin sheath. Phys. Rev. E 110, 2024

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