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News: Nervenzellen auf großer Fahrt

Würden Sie einem besonders liebenswürdigen Mitmenschen gerne mal so richtig die Meinung sagen? Tun es aber nicht? Was Sie davor zurückhält, ist nicht nur Ihre gute Kinderstube, sondern ein bestimmter Teil des Gehirns - das Stirnhirn. Dass diese Gehirnregion bei Menschen so viel ausgeprägter ist als bei unseren nächsten Verwandten, liegt an seiner großen Anziehungskraft auf Nervenzellen während der Embryonalentwicklung. In Scharen ziehen die Neuronen dann zu diesem Gehirnareal und sorgen später für unser angepasstes Verhalten.
Ob ein Blick auf die Stirn unseres Gegenübers schon reicht, um einen Diplomaten an seiner vorgewölbten Stirn zu erkennen und von einem unbeherrschten Choleriker mit flacher Stirn zu unterscheiden? Wohl kaum. Doch das Stirnhirn, das für jede Situation die angemessenen Verhaltensweisen aussucht, ist bei den Menschen in der Regel größer als bei allen anderen Tierarten. Die Frage nach dem Warum stellt sich hierbei weniger als die Frage nach dem Wie – wie gelangen so viele Nervenzellen ausgerechnet in diese Gehirnregion?

Ein Frage, der Kresimir Letinic von der University of Zagreb und Pasko Rakic von der Yale University im Vergleich zwischen Mensch und Maus nachspürten. Da man dem Menschen bei seiner Gehirnentwicklung nicht unter die Schädeldecke schauen kann, entschieden sich die Forscher für den Vergleich entsprechender Nervenzellen in Zellkultur. Zum einen entnahmen sie Nervenzellen aus dem Bereich des so genannten Telencephalon – der Geburtsstätte des cerebralen Cortex – und konfrontierten sie mit Zellen aus dem Thalamus. Diese Region ist dafür bekannt, direkt neben dem Stirnhirn seinen Platz einzunehmen und im menschlichen Gehirn davon ziemlich viel zu beanspruchen. Eine mögliche Verbindung zwischen Größe des Thalamus und Stirnhirns schien somit nicht abwegig.

Und tatsächlich nimmt der Thalamus regen Einfluss auf die neugeborenen Nervenzellen. Von einem bislang unbekannten Lockstoff angezogen, machen sich menschliche Neurone aus dem Telencephalon auf einen weiten Weg und ziehen in einem großen Strom zum Stirnhirn. Diese Massenwanderung ist allerdings nur bei menschlichem Gewebe zu beobachten. Nervenzellen aus Mäusen reagieren weder angezogen noch abgestoßen auf Zellen ihres Thalamus. Hingegen lassen sie sich von Nervenzellen des Subthalamus – der auf halber Wegstrecke liegt – regelrecht zurückweisen. Hier gibt es für sie kein Durchkommen. Dieses abgeschreckte Verhalten zeigten menschliche Zellen wiederum nicht. Auf sie wirkte der Subthalamus überhaupt nicht, sondern ließ sie unbeeindruckt.

Mit ihren Experimenten konnten Letinic und Rakic zum ersten Mal zeigen, dass während der menschlichen Embryonalentwicklung die Nervenzellen auf große Wanderung gehen und sich hierbei den Ort neben dem Thalamus als Ziel aussuchen. Ob wir Menschen diesen Schritt in der Evolution ohne unsere nächsten Verwandten gemacht und uns damit den entscheidenden Vorteil eines riesigen Gehirns gesichert haben, müssen Untersuchungen an weiteren Tieren zeigen.

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