News: Neue Ansichten zum kleinen Unterschied
Diese Ergebnisse bewirken nicht nur, daß das Y-Chromosom mit anderen Augen angesehen wird. Möglicherweise können sie auch zu neuen diagnostischen Techniken für Tausende unfruchtbarer Männer führen. Außerdem haben sie weitreichende Folgen für unser Verständnis des genetischen Unterschieds zwischen Männern und Frauen und die genetischen Ursachen von chromosomal bedingten Störungen, wie zum Beispiel dem Turner-Syndrom.
Page und Lahn berichten in Science vom 24. Oktober 1997, daß eine systematische Suche zwölf neue Gene in der sogenannten non-recombining region des Y-Chromosoms (NRY) hervorbrachte – einem Bereich des Chromosomes, der nicht am Austausch von genetischen Material durch Rekombination teilnimmt. Diese Region macht immerhin rund 95 Prozent des Y-Chromosoms aus. Zusammen mit acht bereits früher identifizierten Genen bilden die zwölf neuen Gene einen wesentlichen, beinahe umfassenden Katalog von Genen, die im NRY gefunden wurden.
Die neuen Gene können leicht in zwei Kategorien unterteilt werden. Gene aus der ersten Gruppe sind in vielen Organen vorhanden. Sie sind Kopien der Gene, die man im X-Chromosom gefunden hat und führen Aufgaben durch, die für die normale Zellfunktion notwendig sind. Fünf der neuen Gene, die als X-homologe Gene bezeichnet werden, fallen in diese Kategorie. Sie liegen jeweils nur in einer Kopie vor. In die zweite Gruppe gehören alle Gene, die nur auf dem Y-Chromosom zu finden sind und wahrscheinlich die männliche Fruchtbarkeit unterstützen. Hierzu zählen sieben der zwölf neuentdeckten Gene. Von ihnen sind gleich mehrere Kopien auf dem Chromosom zu finden. Auch sechs der acht schon länger bekannten Gene lassen sich nach diesem Schema einordnen.
„Diese Ergebnisse zeigen, daß das Y-Chromosom in funktioneller Hinsicht kohärent ist; es hat eine kleine Anzahl von Aufgaben, die es pflichtbewußt ausführt. Im Gegensatz dazu enthalten andere menschliche Chromosomen eine bunte Sammlung von Genen, bei denen kein Leitmotiv oder einheitlicher Zweck offensichtlich ist. Das menschliche Y-Chromosom ist eine bemerkenswerte Ausnahme”, sagt Dr. Page.
Basierend auf den neueren Erkenntnissen und früheren Studien stellten Dr. Page und seine Kollegen die These auf, daß sich das Y-Chromosom mit Hilfe von zwei Strategien entwickelte.
Die erste Evolutionsstrategie führt zu einem besseren Verständnis des Turner-Syndroms
Die erste Strategie soll sicherstellen, daß beide Geschlechter eine vergleichbare Ausstattung haben, um den normalen Zellstoffwechsel zu bewältigen. Allerdings scheint diese Strategie im Widerspruch zu stehen zum evolutives Verhalten von Genen, die sowohl auf dem X- als auch dem Y-Chromosom zu finden sind.
„Sowohl das X als auch das Y entwickelten sich aus Autosomen. Im Laufe der Zeit gingen alle Gene, die nicht für den Stoffwechsel benötigt wurden, dem Y-Chromosom verloren, obwohl im X-Chromosom die meisten ursprünglichen Genfunktionen beibehalten wurden. Dies führte dazu, daß Männer von vielen Genen nur eine Kopie haben, Frauen dagegen zwei Kopien. Diese Unausgewogenheit wird durch einen Prozeß namens X-Inaktivierung ausgeglichen: Bei Frauen wird eine Kopie des X-Chromosoms ausgeschaltet.”
Die Entdeckung der X-homologen Gene auf dem Y-Chromosom sowie frühere Studien weisen darauf hin, daß die menschliche Evolution aber nicht ganz konsequent war: Sie erhielt die X-homologen Gene, so daß in männlichen wie in weiblichen Zellen zwei verschiedenen Versionen der Gene abgelesen werden können – bei Männern eine vom X- und eine vom Y-Chromosom. Und bei Frauen? „Wenn dies zutreffend wäre, dann müßten die Kopien der NRY-Gene im X-Chromosom der Inaktivierung entgehen”, sagt Dr. Page. Zusammen mit Lahn fand er heraus, daß bei Frauen tatsächlich die entsprechenden Genen nicht inaktiviert werden, obwohl das restliche Chromosom ungenutzt bleibt. Die Wissenschaftler entdeckten auch, daß die Gene, die das X- und Y-Chromosom gemeinsamen haben, in funktioneller Hinsicht austauschbar sind.
Diese Entdeckung hat Konsequenzen für unser Verständnis vom Turner-Syndrom, einer Störung, bei der Frauen mit nur einem X-Chromosom geboren werden. Die Wissenschaftler vermuten, daß das Turner-Syndrom dadurch verursacht wird, daß jene Gene fehlen, die bei normalen Frauen trotz der Inaktivierung des restlichen X-Chromosoms verfügbar sind und die bei Männern noch auf dem Y-Chromosom zu finden sind. Da diese Gene für wichtige Stoffwechselvorgänge nötig sind, könnten Störungen auftreten, wenn nicht genug Kopien zum Ablesen vorliegen. Das könnte sich in den typischen Syndromen der Krankheit äußern.
Die zweite Evolutionsstrategie: Wie das Y-Chromosom männlich wurde
Page und Lahn vermuten, daß die zweite Evolutionsstrategie in der Entwicklung des NRY der Erwerb eines männlichen Fertilitätsgens von autosomalen Chromosomen ist. Vor zwei Jahren entdeckten Page und seine Kollegen sowie Mitarbeiter in St. Louis und Finnland einen NRY-Gen-Cluster namens DAZ. Fehlt dieser Gen-Clusters, sind ansonsten gesunde Männer unfruchtbar. Als die Wissenschaftler in Pages Labor DAZ genau untersuchten, fanden sie heraus, daß es bei Menschen einen homologen Bereich auf dem Chromosom 3 gibt. Durch sorgfältige Analyse der beiden menschlichen Gene sowie von entsprechenden Genen in Fliegen und Mäusen konnten sie zeigen, daß die DAZ-Gene des Y-Chromosoms ursprünglich auf einem Autosom lokalisiert waren. Erst nachdem die Stammbäume von Mäusen und Primaten evolutiv getrennt waren, wanderten sie auf das Geschlechtschromosom.
„Unsere aktuelle Studie läßt darauf schließen, daß der Transfer von männlichen Fertilitätsfaktoren aus Autosomen auf das Y-Chromosom bei dessen Evolution ein wiederkehrendes Leitmotiv sein könnte”, meint Dr. Page. „Wir vermuten, daß der Transfer den Männern im Frühstadium der menschlichen Evolution einen Wettbewerbsvorteil verschafft hat.” Das NRY ist der einzige Teil des menschlichen Genoms, der ausschließlich in einem Geschlecht vorhanden ist.
Die Biologie der Unfruchtbarkeit des Mannes
Ungefähr eines von sechs amerikanischen Ehepaaren ist unfruchtbar, und jedes Jahr nehmen mehr als 20000 Paare die Hilfe technischer Hilfsmittel zur künstlichen Befruchtung in Anspruch. Bei einem Fünftel der unfruchtbaren Paare liegt ein Grund in mangelnder Produktion von Spermien. Dies kann viele verschiedene Ursachen haben, u.a. Infektionen und andere Krankheiten. Bis vor kurzem haben die Wissenschaftler der Möglichkeit, daß eine genetische Komponente für die Unfruchtbarkeit verantwortlich sein könnte, wenig Beachtung geschenkt. Das Konzept der genetischen Unfruchtbarkeit scheint ein Widerspruch in sich zu sein, da man gewöhnlich glaubt, daß sich genetische Störungen in Familien fortpflanzen, anstatt ihrer eigenen Weitergabe entgegenzuwirken.
Vor zwei Jahren änderte sich jedoch die Situation, als Page und seine Kollegen eine umfassende genetische Karte des Y-Chromosoms benutzten, um den DAZ-Gencluster zu identifizieren. Das Fehlen dieser Gene verursacht Azoospermie, die Unfähigkeit, Samen zu produzieren. Dies ist die schlimmste Form männlicher Unfruchtbarkeit. Letztes Jahr entdeckte dann das Page-Labor, daß derselbe Y-Chromosomdefekt auch die häufigste Form der männlichen Unfruchtbarkeit verursachen kann – geringe Spermenproduktion, oder Oligospermie. Diese Studie zeigte eindeutig, daß bei einigen Männern genetische Deffekte zu einer niedrigen Spermenzahl führen können.
„Normalerweise wären diese Männer nicht in der Lage, Kinder zu zeugen. Allerdings hat die rasche Verbreitung von Techniken zur künstlichen Befruchtung es ermöglicht, daß auch solche Männer und ihre Frauen leibliche Kinder haben können. Insbesondere die intracytoplasmic sperm injection (ICSI), bei der ein einzelnes Spermium in eine Eizelle injiziert wird, gewinnt an Popularität. „Deshalb erhebt sich nun die Frage, ob diese Männer ihre Unfruchtbarkeit an ihre Söhne weitergeben”, sagt Dr. Page.
Alle menschlichen Embryonen erben 23 Chromosomenpaare: ein Paar Geschlechtschromosomen (Heterosomen) und 22 Paar nicht geschlechtsspezifische oder autosomale Chromosomen. Embryonen, die zwei X-Chromosomen erben (von jedem Elternteil eines), entwickeln sich zu weiblichen Kindern. Embryonen, die von ihrer Mutter ein X-Chromosom und von ihrem Vater ein Y-Chromosom erben, werden männlich. Allerdings wird eine von 5000 Frauen mit nur einem X-Chromosom geboren oder mit einem intakten X-Chromosom und einem halben Y-Chromosom. Diese Störung wird als Turner-Syndrom bezeichnet. Charakteristisch für das Turner-Syndrom sind Kleinwuchs, Unfruchtbarkeit und Defekte in verschiedenen Organen. Genetische Analysen von Patienten, die unter dem Turner-Syndrom leiden, haben zur Entdeckung von zwei Genen geführt, RPS4X und RPS4Y, die möglicherweise für einige dieser Syndrome verantwortlich sind.
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