Polarforschung: Neue Dynamik am Pol
Das Weiß der Arktis schwindet und macht dem Blau des Meeres Platz. Und was von der einstigen Eisbedeckung noch übrig bleibt, wird immer dünner. Das verändert auch die Ozeanströmungen - und stärkt womöglich den Golfstrom.
Nach Monaten auf See und tausenden Flugkilometern steht das eindeutige Fazit fest: "Das Eis der Arktis hat sich von seinem Tiefststand 2007 nicht erholt. Es schmolz wohl auch in diesem Sommer genauso stark ab wie im damaligen Rekordjahr", fasst Stefan Hendricks vom Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven die Ergebnisse der jüngsten Messfahrt der "Polarstern" im hohen Norden zusammen.
Mehr noch: Das Eis wird nicht nur weniger – was noch übrig bleibt, wird auch immer jünger und dünner. "Dort, wo das Meereis in den vergangenen Jahrzehnten hauptsächlich aus alten, dickeren Schollen bestand, fand sich dieses Jahr überwiegend dünnes einjähriges Eis", so Hendricks. Altes Eis erreicht Dicken von drei bis fünf Meter, die jungen Schollen dagegen nur eine von maximal 90 Zentimeter. Gleichzeitig setzt der Eismangel Rückkopplungseffekte in Gang, die das winterliche Zufrieren des Wassers bereits zu verzögern scheinen. "Auf unserer Expedition im Jahr 2007 stießen wir im September in der russischen Laptewsee bereits auf dünnes, neu gebildetes Eis. Diesmal war davon weit und breit nichts zu sehen. Die Wassertemperatur in zehn Meter Tiefe betrug noch drei Grad Celsius – so stark hatte die Sonne die eisfreien Meeresflächen erwärmt", erzählt Ursula Schauer vom AWI und wissenschaftliche Leiterin des Fahrtabschnitts durch die zentrale Arktis.
Klimawandel und Klimaschwankungen
Verantwortlich für diesen Trend sind auch natürliche Klimaschwankungen, die sich unter anderem in gewandelten atmosphärischen Strömungsmustern ausdrücken: Statt eines starken Islandtiefs mit seinem Gegenspieler Azorenhoch im Atlantik – und den pazifischen Pendants Aleutentief und Subtropenhoch – dominierte in den letzten zehn Jahren vermehrt der so genannte arktische Dipol. "Das Islandtief hat sich nach Osten in die Barentssee verlagert, und auf der westlichen Seite entwickelte sich eine Hochdruckanomalie über dem nördlichen Nordamerika", erklärt der Ozeanograf Rüdiger Gerdes vom AWI.
Während die Winde zuvor vornehmlich entlang der Breitenkreise wehten, was die Arktis einigermaßen stark gegen Einflüsse aus dem Süden abgeschirmt hat, findet nun ein intensiver Luftmassenaustausch entlang der Längengrade statt: Warme Luft dringt beispielsweise über dem Atlantik weit nach Norden vor. Die Folge: Plusgrade an der Hudson Bay oder auf Grönland im Januar, während Mitteleuropa zur gleichen Zeit unter klirrendem Frost zittert wie im letzten Winter. "Diese Wetterkonstellation war in den letzten zehn Jahren in der Arktis das beherrschende Muster", so Gerdes.
Der durch Menschenhand intensivierte Treibhauseffekt verstärkt nun diese natürlichen Zyklen noch: "Der massive Schwund, den wir momentan sehen, ist sicher durch den Klimawandel mitverursacht. Während der letzten Warmphase in den 1940er Jahren ging das Eis bei weitem nicht so stark zurück wie in den letzten Jahren", sagt Gerdes. Selbst während des mittelalterlichen Wärmeoptimums – das den Wikingern die Besiedlung Grönlands ermöglicht hatte – zog sich das Eis wohl nicht so weit zurück wie gegenwärtig. Zumindest gebe es hierfür keine gesicherten Hinweise, so der Arktisexperte.
Umwälzungen im hohen Norden
Unabhängig von den Ursachen haben diese Verluste weit reichende Folgen für das Ökosystem und die Dynamik des Nordpolarmeers. Den Wissenschaftlern gilt die Eisrandzone als eine Art "Garten des Arktischen Ozeans". Viele Planktonarten an der Basis der Nahrungskette haben sich an das Leben im Eis angepasst; bisweilen färben sie das Eis sogar braun, weil sie sich in dessen Salzwasserkanälchen massenhaft vermehren. Mit der Schmelze gelangen sie ins Freie und setzen dort ihr Populationswachstum fort: Es entsteht eine Algenblüte, die zahlreiche Pflanzenfresser anlockt, die wiederum von Raubtieren gejagt werden. Gerade an der Eiskante wimmelt es deshalb von Leben.
Wie flexibel die Tier- und Pflanzenarten der Region auf die Umwälzungen in ihrem Ökosystem reagieren können, zeigt erst die Zukunft. Etwas einfacher lassen sich hingegen die Entwicklungen in der Zirkulation des Meeres prognostizieren, da sie physikalischen Gesetzen folgen. Noch exportieren Strömungen in der Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen mit driftendem Eis große Mengen an Süßwasser aus der Arktis nach Süden. Als Wasserlinsen reisen sie zum Teil bis in die Subtropen, wo sie schließlich verdunsten. "Wenn das Eis wegfällt, muss der Ozean den gesamten Süßwassertransport allein leisten. Bis sich dieses System einspielt, wird Süßwasser im Ozean gespeichert – und das hat Folgen", erklärt Gerdes. Im letzten Frühling meldeten Meeresforscher bereits, dass sie eine riesige Süßwasserlinse in der Arktis entdeckt hatten.
Überraschung für den Golfstrom
Durch die Ansammlung des Süßwassers steigt der Meeresspiegel im zentralen Nordpolarmeer, was wiederum die gegen Strömungen rund um die Region verstärkt. "Das Gebiet isoliert sich stärker und beeinflusst den Austausch zwischen Pazifik, Atlantik und Nordpolarmeer", so der Forscher weiter. Dadurch verringert sich erst einmal die stabilisierende Wirkung, die das einströmende Süßwasser im Nordatlantik sonst verursacht: Es ist leichter als Salzwasser, schwimmt dadurch quasi auf diesem auf und behindert dadurch die Durchmischung.
Verringert sich dieser Einfluss, dürfte sich die Tiefenwasserbildung in der Grönlandsee verstärken: Hier stürzen in jeder Sekunde bis zu 17 Millionen Kubikmeter Wasser in die Tiefe – das 20-Fache der Abflussmenge aller Flüsse weltweit. Gleichzeitig ziehen sie an der Oberfläche warmes Wasser aus den Tropen und Subtropen nach, die Großbritannien, Norwegen und dem russischen Hafen Murmansk ihr recht mildes Klima bescheren.
Daran dürfte sich auch nichts ändern, wenn die Region in den nächsten Jahren wieder von der momentanen natürlichen Warm- in eine neuerliche Kaltphase übergeht, denkt Rüdiger Gerdes: "Langfristig bestimmen die steigenden Treibhausgaskonzentrationen die Temperaturen. Das ist der entscheidende Prozess für die Arktis und damit für das Eis bis zum Ende des Jahrhunderts. Das gesamte mehrjährige Eis wird deswegen in den nächsten Jahrzehnten verschwinden."
Mehr noch: Das Eis wird nicht nur weniger – was noch übrig bleibt, wird auch immer jünger und dünner. "Dort, wo das Meereis in den vergangenen Jahrzehnten hauptsächlich aus alten, dickeren Schollen bestand, fand sich dieses Jahr überwiegend dünnes einjähriges Eis", so Hendricks. Altes Eis erreicht Dicken von drei bis fünf Meter, die jungen Schollen dagegen nur eine von maximal 90 Zentimeter. Gleichzeitig setzt der Eismangel Rückkopplungseffekte in Gang, die das winterliche Zufrieren des Wassers bereits zu verzögern scheinen. "Auf unserer Expedition im Jahr 2007 stießen wir im September in der russischen Laptewsee bereits auf dünnes, neu gebildetes Eis. Diesmal war davon weit und breit nichts zu sehen. Die Wassertemperatur in zehn Meter Tiefe betrug noch drei Grad Celsius – so stark hatte die Sonne die eisfreien Meeresflächen erwärmt", erzählt Ursula Schauer vom AWI und wissenschaftliche Leiterin des Fahrtabschnitts durch die zentrale Arktis.
Seit 1980 – dem Beginn der Satellitenerfassung – ist die durchschnittliche Ausdehnung des arktischen Meereises im September um 3,5 Millionen Quadratkilometer zurückgegangen: 2011 betrug sie nur noch 4,3 Millionen Quadratkilometer. Jedes Jahr schwindet die sommerliche Eisbedeckung durchschnittlich um rund 80 000 Quadratkilometer, eine Fläche so groß wie Österreich. Und nichts deutet darauf hin, dass sich dieser Trend langfristig umkehrt, denn die Arktis erwärmt sich gegenwärtig stärker als fast jede andere Region der Erde. Seit etwa 1900 stiegen die Temperaturen vor Ort um durchschnittlich 1,5 Grad Celsius, in Teilen Alaskas und Kanadas sogar um drei bis vier Grad Celsius.
Klimawandel und Klimaschwankungen
Verantwortlich für diesen Trend sind auch natürliche Klimaschwankungen, die sich unter anderem in gewandelten atmosphärischen Strömungsmustern ausdrücken: Statt eines starken Islandtiefs mit seinem Gegenspieler Azorenhoch im Atlantik – und den pazifischen Pendants Aleutentief und Subtropenhoch – dominierte in den letzten zehn Jahren vermehrt der so genannte arktische Dipol. "Das Islandtief hat sich nach Osten in die Barentssee verlagert, und auf der westlichen Seite entwickelte sich eine Hochdruckanomalie über dem nördlichen Nordamerika", erklärt der Ozeanograf Rüdiger Gerdes vom AWI.
Während die Winde zuvor vornehmlich entlang der Breitenkreise wehten, was die Arktis einigermaßen stark gegen Einflüsse aus dem Süden abgeschirmt hat, findet nun ein intensiver Luftmassenaustausch entlang der Längengrade statt: Warme Luft dringt beispielsweise über dem Atlantik weit nach Norden vor. Die Folge: Plusgrade an der Hudson Bay oder auf Grönland im Januar, während Mitteleuropa zur gleichen Zeit unter klirrendem Frost zittert wie im letzten Winter. "Diese Wetterkonstellation war in den letzten zehn Jahren in der Arktis das beherrschende Muster", so Gerdes.
Eine noch größere Rolle spielt die Nordatlantische Multidekadale Oszillation, eine im Rhythmus von 50 bis 70 Jahren ablaufende Schwankung der Ozeanströmungen. Ihre Mechanismen sind bis heute nicht genau verstanden, doch bringt sie mit ihren kalten und warmen Phasen messbare Temperaturveränderungen im atlantischen Oberflächenwasser, die sich wiederum in der Ausdehnung des arktischen Meereises niederschlagen. Während des Zweiten Weltkriegs zum Beispiel zog sich das Eis ebenfalls zurück, weil das Meer eine Warmphase durchlief. Anfang der 1980er dehnte sich der weiße Teppich dagegen aus, weil sich das Wasser abkühlte.
Der durch Menschenhand intensivierte Treibhauseffekt verstärkt nun diese natürlichen Zyklen noch: "Der massive Schwund, den wir momentan sehen, ist sicher durch den Klimawandel mitverursacht. Während der letzten Warmphase in den 1940er Jahren ging das Eis bei weitem nicht so stark zurück wie in den letzten Jahren", sagt Gerdes. Selbst während des mittelalterlichen Wärmeoptimums – das den Wikingern die Besiedlung Grönlands ermöglicht hatte – zog sich das Eis wohl nicht so weit zurück wie gegenwärtig. Zumindest gebe es hierfür keine gesicherten Hinweise, so der Arktisexperte.
Umwälzungen im hohen Norden
Unabhängig von den Ursachen haben diese Verluste weit reichende Folgen für das Ökosystem und die Dynamik des Nordpolarmeers. Den Wissenschaftlern gilt die Eisrandzone als eine Art "Garten des Arktischen Ozeans". Viele Planktonarten an der Basis der Nahrungskette haben sich an das Leben im Eis angepasst; bisweilen färben sie das Eis sogar braun, weil sie sich in dessen Salzwasserkanälchen massenhaft vermehren. Mit der Schmelze gelangen sie ins Freie und setzen dort ihr Populationswachstum fort: Es entsteht eine Algenblüte, die zahlreiche Pflanzenfresser anlockt, die wiederum von Raubtieren gejagt werden. Gerade an der Eiskante wimmelt es deshalb von Leben.
Noch ist umstritten, ob der arktische Ozean wegen des Eisrückgangs und der damit verbundenen Lichtzunahme "produktiver" wird. Zu Verschiebungen im Ökosystem dürfte es jedoch auf alle Fälle kommen, meint Rüdiger Gerdes: "Im Nordpolarmeer existieren Lebensgemeinschaften, die sich speziell an ganzjähriges Eis angepasst haben – etwa verschiedene Krebsarten, die an der Eisunterseite leben. Sie drohen mit diesem Eis zu verschwinden. Dafür profitieren natürlich Ökosysteme, die auf saisonales Eis angewiesen sind." Statt Eis- und Kieselalgen könnten dann die kleineren Dinoflagellaten des offenen Wassers die Grundlage des Lebens bilden. Während Eisbären und Robben sich mit dem schwindenden Eisschollen zurückziehen müssten, breiten sich Wale und verschiedene Seevögel nach Norden aus.
Wie flexibel die Tier- und Pflanzenarten der Region auf die Umwälzungen in ihrem Ökosystem reagieren können, zeigt erst die Zukunft. Etwas einfacher lassen sich hingegen die Entwicklungen in der Zirkulation des Meeres prognostizieren, da sie physikalischen Gesetzen folgen. Noch exportieren Strömungen in der Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen mit driftendem Eis große Mengen an Süßwasser aus der Arktis nach Süden. Als Wasserlinsen reisen sie zum Teil bis in die Subtropen, wo sie schließlich verdunsten. "Wenn das Eis wegfällt, muss der Ozean den gesamten Süßwassertransport allein leisten. Bis sich dieses System einspielt, wird Süßwasser im Ozean gespeichert – und das hat Folgen", erklärt Gerdes. Im letzten Frühling meldeten Meeresforscher bereits, dass sie eine riesige Süßwasserlinse in der Arktis entdeckt hatten.
Überraschung für den Golfstrom
Durch die Ansammlung des Süßwassers steigt der Meeresspiegel im zentralen Nordpolarmeer, was wiederum die gegen Strömungen rund um die Region verstärkt. "Das Gebiet isoliert sich stärker und beeinflusst den Austausch zwischen Pazifik, Atlantik und Nordpolarmeer", so der Forscher weiter. Dadurch verringert sich erst einmal die stabilisierende Wirkung, die das einströmende Süßwasser im Nordatlantik sonst verursacht: Es ist leichter als Salzwasser, schwimmt dadurch quasi auf diesem auf und behindert dadurch die Durchmischung.
Verringert sich dieser Einfluss, dürfte sich die Tiefenwasserbildung in der Grönlandsee verstärken: Hier stürzen in jeder Sekunde bis zu 17 Millionen Kubikmeter Wasser in die Tiefe – das 20-Fache der Abflussmenge aller Flüsse weltweit. Gleichzeitig ziehen sie an der Oberfläche warmes Wasser aus den Tropen und Subtropen nach, die Großbritannien, Norwegen und dem russischen Hafen Murmansk ihr recht mildes Klima bescheren.
Und noch ein Effekt treibt den ozeanischen Wasserfall womöglich bald weiter an: "Die Transportwege des Süßwassers verändern sich ebenfalls, da es zukünftig wohl viel stärker an die ozeanischen Randströme des Atlantiks gebunden sein wird. Diese orientieren sich an der Topografie und verlaufen entlang der Kontinentränder. Auch dadurch gelangt weniger Süßwasser in das zentrale europäische Nordmeer", weist Gerdes auf einen weiteren Punkt hin. Befürchtungen, dass das für Nordeuropa so wichtige Golfstromsystem durch die Schmelze lahmen könnte, werden damit die Spitze genommen: "Die Verlagerung des Süßwassertransports wirkt anderen Prozessen entgegen, die die Tiefenwasserbildung eher schwächen – etwa die Erwärmung des Ozeans selbst oder intensivere Regen- und Schneefälle in der Region."
Daran dürfte sich auch nichts ändern, wenn die Region in den nächsten Jahren wieder von der momentanen natürlichen Warm- in eine neuerliche Kaltphase übergeht, denkt Rüdiger Gerdes: "Langfristig bestimmen die steigenden Treibhausgaskonzentrationen die Temperaturen. Das ist der entscheidende Prozess für die Arktis und damit für das Eis bis zum Ende des Jahrhunderts. Das gesamte mehrjährige Eis wird deswegen in den nächsten Jahrzehnten verschwinden."
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