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Kernphysik: Physiker finden eine Methode, um neue Elemente herzustellen

Dank der Kernfusion mit Titanisotopen könnte das Periodensystem schon bald ein neues Element und damit eine weitere Reihe erhalten. Ist das der Beginn der lang ersehnten »Insel der Stabilität«?
Zwei Farben, die zusammentreffen
Wenn schwere Kerne aufeinanderprallen, können neue Elemente entstehen.

Kaum sind sie da, schon sind sie wieder weg. Neue, von Menschenhand geschaffene Elemente sind meist sehr kurzlebig. Je mehr Protonen und Neutronen zusammengepresst werden, desto zerbrechlicher ist das entstehende Element. Bisher sind alle Atomkerne mit mehr als 103 Protonen fast augenblicklich zerfallen. Doch es könnte einen Bereich im Periodensystem geben, in dem selbst extrem schwere Kerne relativ stabil sind. Diese hypothetische Region wird als »Insel der Stabilität« bezeichnet und gibt Fachleuten seit Jahrzehnten Rätsel auf. Doch nun haben Forschende am Lawrence Berkeley National Laboratory den Weg in Richtung dieser Insel bereitet.

Das Team um die Physikerin Jacklyn Gates hat Livermorium, das Element 116, mit einer neuartigen Methode erzeugt. Die Forschenden verwendeten einen Strahl aus seltenen Titan-50-Isotopen, statt den sonst üblichen Kalziumstrahl zu nutzen. Dafür erhitzten sie die Titanatome auf mehr als 1600 Grad Celsius und schossen sie mit Hilfe eines Teilchenbeschleunigers auf ruhende Plutoniumatome. Es ist zwar nicht das erste Mal, dass Livermorium erzeugt wurde, aber der neue Ansatz mit einem Titanstrahl ebnet den Weg für die Schaffung neuer, noch schwererer Elemente, die das Periodensystem erweitern könnten.

»Das ist wirklich bahnbrechend«, sagt der Physiker Hiromitsu Haba vom RIKEN in Japan, der nicht an der Studie beteiligt war. »Solche neuen Methoden sind nötig, um neue Elemente zu entdecken«, fügt Haba hinzu. Die neue Arbeit wurde im Juli 2024 auf der »Nuclear Structure«-Konferenz vorgestellt und der Fachzeitschrift »Physical Review Letters« zur Begutachtung vorgelegt.

Das Einmaleins der Kernfusion

Das Berkeley Lab beherbergt das 88-Inch-Zyklotron: einen kreisförmigen Teilchenbeschleuniger, der Ionen durch elektromagnetische Felder stark beschleunigt und gegen ruhende Atome prallen lässt. Mit solchen Maschinen lässt sich die Erzeugung neuer Elemente auf eine einfache mathematische Berechnung reduzieren: Um ein Element mit 116 Protonen zu bilden, müssen die beschleunigten Ionen und die ruhenden Atome zusammengerechnet 116 Protonen besitzen. Wie so oft in der Kernphysik ist die Umsetzung dieses Prinzips jedoch nicht ganz so einfach.

Bisher war Kalzium-48 das Isotop der Wahl für solche Fusionsreaktionen. Ähnlich wie die Elektronenhülle eines Atoms sind auch die Protonen und Neutronen innerhalb der Kerne in Schalen angeordnet. In »magischen« Kernen füllen entweder Protonen oder Neutronen eine Schale vollständig aus, was sie stabil macht – ähnlich wie Edelgase in der Chemie. Kerne können aber auch »doppelt magisch« sein, in diesem Fall sind die Schalen von Protonen und Neutronen ausgefüllt, wodurch sie besonders stabil sind. Kalzium-48 ist ein Beispiel für einen doppelt magischen Kern.

Allerdings hat Kalzium nur 20 Protonen, was den Nutzen für die Erzeugung schwererer Elemente einschränkt. Das schwerste stabile Element, das sich mit Kalzium-48 kombinieren lässt, ist Curium mit 96 Protonen. Die Verschmelzung von Kalzium und Curium liefert Livermorium, das Element 116. In der Vergangenheit wurde Kalzium-48 auch schon mit dem schwereren Berkelium (97 Protonen) zur Synthese von Element 117 verwendet, »aber Berkelium ist extrem schwierig herzustellen«, sagt Witold Nazarewicz, leitender Wissenschaftler an der Facility for Rare Isotope Beams an der Michigan State University, der nicht an der neuen Studie beteiligt war. »Für die meisten schwereren Elemente braucht man einen Strahl mit mehr Protonen als Kalzium-48.«

»Bis wir dieses Experiment durchführten, wusste niemand, wie einfach oder schwierig es sein würde, Dinge mit Titan herzustellen«Jacklyn Gates, Physikerin

Um einen solchen Strahl zu erzeugen, wandte sich das Forschungsteam des Berkeley Lab Titan-50 zu. Die Fachleute wollten einen Ionenstrahl aus Titan mit Plutonium zu Livermorium verschmelzen. »Bis wir dieses Experiment durchführten, wusste niemand, wie einfach oder schwierig es sein würde, Dinge mit Titan herzustellen«, sagt die Physikerin Jacklyn Gates, Hauptautorin der Studie.

Im Gegensatz zum doppelt magischen Kalzium-48 weist Titan-50 keine besondere Stabilität auf. Das verringert die Wahrscheinlichkeit erfolgreicher Fusionen, selbst wenn es zu Kollisionen kommt. »Es ist, als ob man nur alle zehn Tage oder noch seltener ein synthetisiertes Atom sieht, anstatt jeden Tag eines zu erzeugen«, erklärt Gates. Außerdem hat Titan einen fast doppelt so hohen Schmelzpunkt wie Kalzium, was seine Verarbeitung erschwert. Trotz dieser Herausforderungen erwies sich Titan-50 als bester Kandidat, um Elemente zu schaffen, die für Kalzium unerreichbar sind.

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Sobald die Titanisotope vorbereitet und der Zyklotron in Betrieb war, hieß es für die Forschenden: warten. Die Wahrscheinlichkeit, dass es überhaupt zu einer Kollision zwischen zwei Atomkernen kommt, ist äußerst gering. »Wenn man ein Atom auf die Größe eines Fußballfeldes aufbläst, hat der Kern die Größe einer Erbse«, sagt Gates. »Wir beschossen unser Ziel mit sechs Billionen Titanteilchen pro Sekunde, um eine statistische Chance zu haben, auch nur in die Nähe des Kerns zu kommen.« Dieses hochintensive Bombardement und die Seltenheit erfolgreicher Kollisionen führten dazu, dass die Erzeugung nachweisbarer Mengen des gewünschten Livermoriums ganze 22 Tage dauerte.

Auf der Suche nach der Insel der Stabilität

Der erfolgreiche Einsatz von Titan-50 ist ein bedeutender Fortschritt auf dem Gebiet der Schwerionenforschung. Neben einer Machbarkeitsstudie liefert das Experiment auch wichtige Daten zum Wirkungsquerschnitt eines Titan-50-Teilchenstrahls – ein Maß für die Wahrscheinlichkeit, mit der es zu Wechselwirkungen mit den Isotopen kommt.

Das nächste Ziel ist die Erzeugung des Elements 120. Dafür sind Kollisionen von Titan mit Californium erforderlich. Ein Kern mit 120 Protonen wäre das schwerste bisher hergestellte Element im Periodensystem und würde diesem eine neue Reihe hinzufügen. »Es gibt keinen Grund, warum man das Element 120 nicht mit dieser Methode synthetisieren kann«, sagt Haba. Theoretischen Modellen zufolge sollte es relativ langlebig sein, weil es in den Bereich der hypothetischen Insel der Stabilität fällt.

»Es ist der Zugang zu einem ganz neuen Teil der Chemie«Jacklyn Gates, Physikerin

Allerdings liefern die theoretischen Modelle kaum Informationen zur genauen Energie, welche die Titanstrahlen bei der Kollision mit Californium haben sollten. »Wir suchen nach Kernen in einem extremen Bereich, der theoretisch immer noch schwer vorherzusagen ist«, sagt Haba. Hier kann die neue Arbeit wertvolle Erkenntnisse liefern. »Die Studie enthält Daten zu experimentellen Wirkungsquerschnitten. Jetzt wissen wir, welches theoretische Modell am zuverlässigsten ist«, erklärt Nazarewicz.

Die Erschaffung des Elements 120 könnte noch mehrere Jahre erfordern. Doch die Entdeckung verspricht neue Einblicke in die Struktur von Elektronenhüllen und das Periodensystem, was weit reichende Auswirkungen auf die Kernphysik, die Materialwissenschaft und andere Bereiche haben könnte. »Das Element 120 würde g-Orbitale besitzen«, sagt Gates und bezieht sich dabei auf eine vorhergesagte Elektronenkonfiguration, die noch nie beobachtet wurde. »Es ist der Zugang zu einem ganz neuen Teil der Chemie.«

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  • Quellen
Gates, J. M. et al.: Towards the Discovery of New Elements: Production of Livermorium (Z=116) with 50Ti. ArXiv: 2407.16079, 2024

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