Kosmologie: Inventur des dunklen Alls
Mit dem Teleskopexperiment Dark Energy Survey (DES) vermessen Astronomen systematisch die Verteilung von Galaxien und bestimmen so indirekt die Menge an Dunkler Energie und Dunkler Materie im Universum. Inzwischen liegt die von vielen Kosmologen lang ersehnte Datenanalyse des ersten Betriebsjahres vor. Sie wurde im August 2017 auf der DES-Website veröffentlicht und beruht auf der Beobachtung von 26 Millionen Galaxien in einem großen Bereich des südlichen Sternenhimmels. Das Resultat weicht ein wenig von früheren Schätzungen ab, bestätigt aber im Grundsatz eine zentrale Erkenntnis der modernen Physik: Das Universum besteht zu 74 Prozent aus Dunkler Energie und zu 21 Prozent aus Dunkler Materie, während die normale, sichtbare Materie lediglich die verbliebenen 5 Prozent ausmacht.
Diese Ergebnisse beruhen auf den Daten der ersten Beobachtungsphase des Teleskops, die im August 2013 begann und sechs Monate andauerte. Seitdem gab es drei weitere Messdurchläufe. Im August 2017 startete das Experiment in seine fünfte und zunächst letzte regulär geplante Saison. Ein 400 Kopf starkes Team analysiert die Daten abschnittsweise und testet dabei die Theorien über die Natur der beiden unsichtbaren Substanzen, die den Kosmos beherrschen, vor allem der Dunklen Energie.
Beide Begriffe – Dunkle Energie und Dunkle Materie – sind letzten Endes nur Platzhalter für unbekannte Physik. Dunkle Energie bezieht sich auf etwas, das die Expansion des Universums beschleunigt. Diesen Effekt haben Astronomen zum ersten Mal im Jahr 1998 festgestellt. Auf Dunkle Materie schließen Astronomen schon seit einigen Jahrzehnten anhand von Beobachtungen ihrer anziehenden Wirkung auf normale, sichtbare Materie.
»Die gegenwärtige Materieverteilung erzählt uns also etwas von diesem kosmischen Tauziehen zwischen Dunkler Materie und Dunkler Energie«
Joshua Frieman
Das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Einflussgrößen beeinflusst die Verteilung von Galaxien. »Während sich das Universum entwickelt, lässt die Dunkle Materie einige Bereiche regelrecht verklumpen. Die Dunkle Energie hebt diese Einflüsse teilweise wieder auf, indem sie die Galaxien voneinander wegschiebt«, erläutert Joshua Frieman, Direktor des DES und Astrophysiker am Fermi National Accelerator Laboratory und an der Universität Chicago. »Die gegenwärtige Materieverteilung erzählt uns also etwas von diesem kosmischen Tauziehen zwischen Dunkler Materie und Dunkler Energie.«
Bislang stammen die genauesten Messwerte vom »kosmischen Mikrowellenhintergrund« – Strahlung aus der Frühzeit des Universums. Das Planck-Weltraumteleskop hat sie und die winzigen Schwankungen darin 2013 in extrem hoher Auflösung vermessen. Galaxien, die Jahrmilliarden dauernde Entwicklungen durchgemacht haben, weisen zwar eine komplexere und darum schwieriger zu interpretierende Geschichte auf als der Mikrowellenhintergrund. Aber Experten zufolge sollten Galaxien letztlich ein reicheres Bild liefern; schließlich decken sie das gesamte dreidimensionale Volumen des Alls ab, während der Mikrowellenhintergund nur ein zweidimensionaler Schnappschuss eines Augenblicks 380 000 Jahre nach dem Urknall ist. »Es steckt einfach sehr viel mehr Information in einem dreidimensionalen Volumen als in einer Fläche«, bekräftigt DES-Wissenschaftler Scott Dodelson.
Um diese zu gewinnen, hat das Team vom DES einen Winkelbereich von 1300 Quadratgrad des Universums untersucht – das entspricht der Gesamtfläche von 6500 Vollmonden am Himmel – und zwar bis zu acht Milliarden Lichtjahre weit ins All hinaus. Die Wissenschaftler analysierten in diesem Raumbereich die Abstände zwischen den Galaxien. Sie überprüften auch optische Verzerrungen, die als schwacher Gravitationslinseneffekt bekannt sind und anzeigen, wie viel raumkrümmende Dunkle Materie zwischen den Galaxien und der Erde liegt. Bereits jetzt sind die Messungen präziser als sämtliche vorhergehenden entsprechenden Kartierungen, und zum ersten Mal können sie sich mit der Genauigkeit des Planck-Satelliten messen. Eine der Hauptfragen lautet: Unterscheidet sich das neue Ergebnis von den bisherigen Abschätzungen? Ein Vergleich würde zeigen, ob die Kosmologen ein konsistentes Bild davon haben, wie sich das Universum von seinem frühesten Zustand bis zum heutigen entwickelt hat. Dodelson erklärt: »Mit Planck ließ sich bestimmen, wie viel Dunkle Energie es heute geben sollte«, nämlich indem man vom Zustand des Universums zur Entstehungszeit der Strahlung zum jetzigen extrapoliert. »Wir hingegen messen, wie viel Dunkle Energie es heute wirklich gibt.«
»Wir hatten endlich eine Antwort, die nicht völlig absurd und obendrein relativ genau war«
Gary Bernstein
Die Wissenschaftler vom DES haben sechs Monate gebraucht, um die Datenmengen zu verarbeiten, und zwar ohne zwischendrin auf die Resultate zu schauen – als Schutzmaßnahme gegen eine unbewusste Einflussnahme auf die Auswertung. Erst am 7. Juli 2017 haben sich die Arbeitsgruppen auf einer Videokonferenz gegenseitig über ihre Ergebnisse informiert. Die Teamleiter arbeiteten eine finale Checkliste ab, und dann startete ein Mitarbeiter ein Computerprogramm, um das lang ersehnte Diagramm zu erzeugen: Die DES-Messung des Anteils im Universum, der aus Materie besteht, zusammen mit der älteren Abschätzung durch Planck. »Jeder von uns sah die Antwort zur gleichen Zeit. Spannender hätte es nicht sein können«, erinnert sich der Astrophysiker Gary Bernstein von der University of Pennsylvania.
Planck hatte den Gesamtanteil an Materie – Dunkler sowie regulärer – zu rund 33 Prozent des heutigen Kosmos bestimmt, plus oder minus zwei bis drei Prozentpunkte. Die neuen DES-Messungen ergaben 26 Prozent, mit Fehlerbereichen, die ähnlich groß waren wie die von Planck. Als das Diagramm erschien, brach Jubel aus. »Wir sahen zwar, dass sich die Bereiche nur zu einem kleinen Teil überlappten«, sagt Bernstein. »Aber wir hatten endlich überhaupt eine Antwort, die zunächst einmal nicht völlig absurd und obendrein relativ genau war.«
Messungen gefährden Standardmodell der Kosmologie
Statistisch gesehen widersprechen sich beide Resultate nicht. Bei den gegebenen Unsicherheiten liegen die 26 Prozent von DES und die 33 Prozent von Planck nur eine bis eineinhalb Standardabweichungen auseinander, während man in der modernen Physik einen Abstand von fünf Standardabweichungen benötigt, um von einer Entdeckung zu sprechen. Das Missverhältnis zwischen beiden Messungen sticht zwar ins Auge, aber vorerst betrachten Frieman und sein Team die Ergebnisse als übereinstimmend. Ob die Diskrepanz mit mehr Daten stärker wird oder verschwindet, wird sich mit der nächsten Analyse zeigen, die voraussichtlich die gesamten ersten drei Beobachtungsjahre abdecken wird.
Sollten sich die möglichen Unterschiede zwischen den Messungen am kosmischen Mikrowellenhintergrund und an den Galaxienverteilungen als echt herausstellen, brächte das einige theoretische Probleme mit sich und könnte sogar das so genannte Lambda-CDM-Modell der Kosmologie gefährden, die Standardtheorie der Entwicklung unseres Universums. Gemäß dem Lambda-CDM-Modell ist Dunkle Energie die »kosmologische Konstante«, die in Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie durch den griechischen Buchstaben Lambda abgekürzt wird. Diese übt eine Art negativen Druck aus und lässt das All expandieren. In dem frisch geformten Raum entsteht neue Dunkle Energie; so bleibt ihre Dichte stets gleich. Ihre Gesamtmenge wächst so im Verhältnis zu Dunkler Materie und beschleunigt die Expansion des Universums mit der Zeit immer stärker.
Diese zunehmende Ausdehnung haben zwei Gruppen von Astronomen erstmals im Jahr 1998 festgestellt. Ihre Entdeckung hat den beiden Teamleitern 2011 den Physiknobelpreis eingebracht und legt nahe, dass die kosmologische Konstante einen positiven, aber geringen Wert besitzt. Bernstein merkt an: »Es gibt keine gute Theorie, die erklärt, warum dieser Wert so klein sein sollte.«
Alternative Modelle zur Dunklen Energie
Auf der anderen Seite könnte es sich bei Dunkler Energie aber auch um etwas anderes handeln. Frieman hat alternative Modelle zur Dunklen Energie untersucht, bevor er – in der Hoffnung, seine Ideen und die anderer Forscher testen zu können – im Jahr 2003 das DES mitbegründete. Die heute führende alternative Theorie betrachtet Dunkle Energie als ein Feld, das den Raum durchdringt und sich allmählich verändert. Die neue Analyse von DES verbessert die Bestimmung eines Parameters, der zwischen diesen Ansätzen unterscheidet. Wenn Dunkle Energie eine kosmologische Konstante ist, dann muss das Verhältnis von negativem Druck und Dichte den bisherigen Messungen zufolge strikt auf –1 festgelegt sein. Kosmologen nennen diesen Wert w-Parameter. Wenn Dunkle Energie ein sich entwickelndes Feld ist, dann könnte w mit der Zeit auch andere Werte als –1 annehmen.
Kombiniert mit früheren Messungen legen die Daten aus dem ersten Jahr von DES den w-Parameter in der Tat auf –1 fest, plus oder minus etwa 0,04. Die gegenwärtige Genauigkeit ist jedoch noch nicht groß genug, um sagen zu können, ob wir es mit einer echten Konstante oder einem dynamischen Feld zu tun haben. Die Wissenschaftler von DES werden die Fehlerbalken in ihrer nächsten Analyse enger ziehen – 2018 sollte es so weit sein. Dabei werden sie auch die Entwicklung des w-Parameters im Lauf der Zeit untersuchen, indem sie seinen Wert in unterschiedlichen kosmischen Entfernungen bestimmen.
Größere Galaxienkartierungen könnten notwendig werden, um w und andere kosmologische Parameter genauer festzuzurren. In den frühen 2020er Jahren soll das ambitionierte Large Synoptic Survey Telescope (LSST) beginnen, Licht von 20 Milliarden Galaxien und anderen kosmologischen Objekten zu sammeln und eine noch präzisere Karte der Materieverteilung im Universum zu liefern. »Mit den Vermessungen vom DES und dem darauf folgenden LSST sind die Aussichten für die Kosmologie ziemlich gut«, sagt Dodelson. »Die Datenauswertung ist schwieriger als beim kosmischen Mikrowellenhintergrund, weil dieser einfacher strukturiert ist. Das hat aber auch seine positive Seite: Für junge Leute in dem Gebiet wird es eine Menge Arbeit geben.«
Das Original ist unter dem Titel »Scientists Unveil New Inventory of Universe’s Dark Contents« am 3. August 2017 im »Quanta-Magazine« erschienen.
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