Neue Sachlichkeit : »Die Rückorientierung zur Anschauung der Dinge«
Herr Keazor, vor 100 Jahren konzipierte der Direktor der Mannheimer Kunsthalle, Gustav Friedrich Hartlaub, die epochemachende Ausstellung »Die Neue Sachlichkeit«. Wie kam es dazu?
Hartlaub war ein junger Direktor, 1923 ins Amt gekommen, der schnell einen Akzent setzen wollte. Er engagierte sich sehr für die Förderung zeitgenössischer Kunst und insbesondere für den Expressionismus. Indem er die Neue Sachlichkeit als eine Gegenreaktion auf den Expressionismus auffasste, fand er sein Thema.
Was kennzeichnet die Bild- und Formensprache der Neuen Sachlichkeit?
Das ist schwer auf wenige Stichpunkte zu bringen, schon 1925 gab es hierzu verschiedene Vorstellungen. Was man aber übergreifend sagen kann: Es lässt sich generell eine Rückbesinnung auf die Realität, die »Sachen« – also die Objekte –, deren Stofflichkeit sowie die Menschen beobachten. Das »Neu« in »Neue Sachlichkeit« sollte daher auch nicht im Sinne des ganz Neuen, Unerhörten, verstanden werden, sondern eher als »erneut«, als eine Rückkehr, und zwar in diesem Fall zu den Dingen, zum Grundsätzlichen.
Hartlaub differenzierte zwischen zwei Strömungen der Neuen Sachlichkeit, einer »veristischen« und einer »klassizistischen«. Was unterscheidet die beiden?
Der Verismus schaut vor allem auf soziale Extreme, der Klassizismus orientiert sich auf eine gewisse Überzeitlichkeit hin, typisch sind hier unter anderem Architekturdarstellungen und Stillleben, aber auch Porträts. Der Verismus ist schonungsloser und zum Teil anklagend, der Klassizismus hingegen kühler, distanzierter, formstrenger – oder, wenn Sie so wollen, »sachlicher«.
Wer prägte den Begriff »Neue Sachlichkeit« als Erster?
Meines Wissens war das tatsächlich Hartlaub. Er verwendete ihn schon zwei Jahre vor der Ausstellung in Briefen an Bekannte, Freunde und Künstler, in denen er sein Vorhaben skizzierte.
Wie ging Hartlaub bei der Planung seiner Ausstellung vor?
Er orientierte sich im Vorfeld umfassend und tauschte sich mit anderen Experten aus. Sehr wichtig war für ihn sein Kollege Franz Roh. Dieser hatte ursprünglich selbst eine ähnliche Ausstellung geplant, veröffentlichte aber stattdessen 1925 sein Buch »Nach-Expressionismus« zum selben Themenkreis. Der Untertitel lautete »Magischer Realismus – Probleme der neuesten europäischen Malerei«. Darin schreibt Roh, dass er Hartlaub mit einer Liste von Künstlern versorgt habe, die für eine solche Ausstellung in Frage kamen – und Hartlaub dankt Roh umgekehrt in einer Vorbemerkung des Ausstellungskatalogs eben dafür.
Die Mannheimer Kunsthalle zeigt jetzt die Sonderausstellung »Die Neue Sachlichkeit – ein Jahrhundertjubiläum«, und Sie selbst halten Ihre aktuelle Vorlesung zum Thema direkt neben den Originalwerken statt wie sonst im Hörsaal an der Universität Heidelberg. Welche Erkenntnisse zur Neuen Sachlichkeit haben sich durch die Arbeit an der Ausstellung ergeben?
Hartlaub bewies mit seiner Ausstellung und dem titelgebenden Sammelbegriff zweifellos ein gutes Gespür für die sich abzeichnenden Dynamiken in der damaligen zeitgenössischen Kunst. Inzwischen sehen wir aber, dass sein Blick in mehrfacher Hinsicht zeitgebunden war.
Inwiefern?
Zum einen konnte er in seiner Schau natürlich nur zeigen, was er bis 1925 überblicken konnte. Daher entgingen ihm wichtige Positionen, die wir heute zur Neuen Sachlichkeit rechnen, wie zum Beispiel diejenige Franz Radziwills – dessen Werke erst ab 1927 Eingang in öffentliche Sammlungen fanden. Zum anderen war in der Ausstellung von 1925 wegen der damals noch überwiegend fehlenden gesellschaftlichen Würdigung keine einzige Künstlerin vertreten. Dies hat im Falle Hartlaubs zum Teil sicherlich auch damit zu tun, dass einige Künstlerinnen wie zum Beispiel Lotte Laserstein oder Hanna Nagel ihre Ausbildung erst nach 1925 abgeschlossen hatten.
Und Hartlaub zeigte keine internationale Kunst ...
Richtig, der Untertitel der Ausstellung lautete ja sogar »Deutsche Malerei seit dem Expressionismus«. Allerdings wissen wir heute, dass Hartlaub ursprünglich geplant hatte, auch Künstler wie Pablo Picasso und den in Kiew geborenen Bildhauer Alexander Archipenko in seiner Ausstellung vertreten zu sehen.
Die Neue Sachlichkeit wird meist als eine ästhetische Antwort auf die tief greifenden politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der 1920er Jahre aufgefasst. Soziale Unruhen, technologische Umwälzungen, ideologische Grabenkämpfe – was triggerte die Künstlerinnen und Künstler besonders?
Da waren zuallererst natürlich die Erschütterungen des Ersten Weltkriegs, der zuvor gehegte Utopien einer vereinten Menschheit regelrecht hinwegfegte. Seine Materialschlachten offenbarten erstmals auch die Schattenseiten des durchaus als faszinierend empfundenen technologischen Fortschritts. Als Reaktion auf den Krieg entstand das tiefe Bedürfnis, in ästhetischer Hinsicht wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen und erst einmal eine Art Bestandsaufnahme der Situation vorzunehmen. Dann erlebte man den Wirtschaftsaufschwung ab 1924, der auch in Deutschland eine Blütezeit in Kunst, Kultur und Wissenschaft ermöglichte, von der aber längst nicht alle Menschen gleichermaßen profitierten. Die entstehenden Spannungen wurden von den Künstlerinnen und Künstlern mit großem Interesse verfolgt.
Verstehen Sie die Neue Sachlichkeit wie Hartlaub seinerzeit auch als eine Reaktion innerhalb der Kunst selbst, insbesondere auf den Expressionismus?
Ja, dies lässt sich nicht nur anhand der Darstellungen von Hartlaub und seinem Kollegen Franz Roh gut nachvollziehen, sondern auch an dem von ihnen nachgezeichneten Stilwandel bei maßgeblichen Künstlerinnen und Künstlern. Alexander Kanoldt, Carlo Mense und Franz Radziwill etwa hatten zuvor im Sinne des Expressionismus gearbeitet, wandten sich nun aber zum Teil sehr vehement von ihrem früheren Œuvre ab, das für Auflösung und Zertrümmerung zu stehen schien. Stattdessen vertraten sie nun jene Stilrichtung, die von Hartlaub eben als »Neue Sachlichkeit« und von Roh als »Nach-Expressionismus« beziehungsweise »Magischer Realismus« bezeichnet wurde.
Hartlaubs Begriff wurde schnell auf andere Kunstformen übertragen, auch in der Literatur, im Film und in der Architektur sprechen wir von der Periode der Neuen Sachlichkeit. Welches sind die übergreifenden stilistischen Kennzeichen?
Es ging um die Rückorientierung hin zur Anschauung der Dinge, also eine Rückbesinnung auf die Realität, die Objekte, deren Stofflichkeit sowie die Menschen. In der Fotografie erarbeitete August Sander ab 1925 Aufnahmen der Menschen unterschiedlichster Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen; sein Kollege Karl Blossfeldt wiederum machte extreme Vergrößerungen von Pflanzen. Das entdeckten dann auch bildende Künstler. Eine Schriftstellerin wie Irmgard Keun gab in ihrem 1932 erschienenen Roman »Das kunstseidene Mädchen« scheinbar Einblicke in das Tagebuch einer Stenotypistin, die vom Ruhm träumt, aber zuletzt obdach- und mittelos endet. Keun lässt ihre Protagonistin nicht umsonst ihre Notate wie das Drehbuch zu einem Stummfilm schreiben, da sie von dort ihre Vorbilder bezieht. Tatsächlich aber präsentierte sich ein Film wie Fritz Langs »M – Eine Stadt sucht einen Mörder« von 1931 demgegenüber als ein »Tatsachenbericht« beziehungsweise eine »Film-Reportage«.
Und in der Musik?
Mit einem Werk wie Ernst Kreneks »Jonny spielt auf« von 1927 finden neben dem Jazz auch technische Errungenschaften des Alltags wie Automobil, Grammophon und eine Sirene Eingang auf die Opernbühne. Überall hielt also eine große Aufmerksamkeit auf Phänomene der Alltagsrealität Einzug. Dass diese just auch durch Gebrauchsgegenstände und Bauten weiter verbessert werden sollte, war ja auch Anliegen des 1919 gegründeten Bauhaus, das auf Nüchternheit und Sachlichkeit setzte.
Wie wurde die Neue Sachlichkeit von der zeitgenössischen Gesellschaft und Kritik aufgenommen?
Sehr unterschiedlich: In Mannheim reagierte man auch mit einem gewissen Befremden auf die Ausstellung, da es sich bei der Kunsthalle um eine bürgerliche Gründung handelte, mit der man eine andere Art von Kunst assoziiert hatte. Von anderen wurde die Neue Sachlichkeit hingegen als erfrischende Kunstrichtung begrüßt. Der Erfolg sowohl der Ausstellung wie auch der dort gezeigten Kunst kann daran ersehen werden, dass die Mannheimer Schau von anderen Häusern in Dresden, Chemnitz, Erfurt und Dessau übernommen wurde. Außerdem gab es andernorts recht schnell weitere Ausstellungen mit ganz ähnlichen Titeln, zum Beispiel noch 1925 in Stuttgart die Schau »Maler der Neuen Sachlichkeit«.
Wie entwickelte sich die Kunst der Neuen Sachlichkeit weiter?
Ich würde eher von einer sich aus der Rückschau abzeichnenden Ausdifferenzierung in verschiedene Unterströmungen sprechen. Insbesondere der Magische Realismus, mit dem Roh sein Buch 1925 im Untertitel überschrieben hatte, wurde innerhalb der Neuen Sachlichkeit zu einer sehr starken Stimme, die sich dann nach dem Zweiten Weltkrieg in der bildenden Kunst wie in der Literatur weiter fortsetzte.
Wie positionierten sich die verschiedenen Unterströmungen im Hinblick auf den Nationalsozialismus?
Hier sind teils erstaunliche Ambiguitäten zu beobachten, und zwar sowohl auf Seiten der Künstlerinnen und Künstler als auch der Machthaber. Ein Maler wie Kanoldt, der seine Werke als in einem deutschnational konservativen Stil gehalten begriff, wurde vor 1933 bereits Mitglied der NSDAP. Demgegenüber erachtete Franz Radziwill seine im Stil des Magischen Realismus gehaltenen Bilder als widerständig gegenüber der von den Nationalsozialisten propagierten Ästhetik – und dies, obwohl sich deren Beharren auf realistischer Darstellung mit den Werken des Künstlers gut zu vertragen schien.
Radziwills Werke wurden Ende der 1930er als »entartete Kunst« verunglimpft. Was fassten die Nazis unter diesen Begriff?
Es ging weniger um den Stil als vielmehr um die Motivwahl und letztlich vor allem um die Herkunft der Künstler, welche darüber entschied, ob ein Werk von den Nazis als »entartet« gebrandmarkt wurde oder nicht. Radziwills Bilder landeten in nationalsozialistischen Feme-Ausstellungen – also Ausstellungen, in denen moderne Kunst verfemt wurde –, während ein Künstler wie der Berliner Maler Hasso von Hugo nie Probleme bekam. Reichsminister Rudolf Heß und Reichsernährungsminister Walther Darré sammelten sogar privat Werke der Neuen Sachlichkeit, etwa die von Georg Schrimpf. Eine Malerin wie Lotte Laserstein hingegen wurde ausschließlich wegen ihrer Klassifizierung als »Dreivierteljüdin« vom Regime verfolgt. Zum Glück konnte sie nach Schweden emigrieren, verlor aber zum Beispiel ihre Mutter, die im KZ Ravensbrück ermordet wurde.
Wie wurde die Neue Sachlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg rezipiert?
Vielleicht macht es eher Sinn, von einer Fortführung der Neuen Sachlichkeit zu sprechen, denn ein Künstler wie Franz Radziwill malte nach dem Zweiten Weltkrieg in diesem Stil weiter. Und auch ein Maler wie der US-Amerikaner Edward Hopper – um den Blick einmal nach außerhalb von Deutschland zu richten – hatte bereits vor 1925 begonnen, in diesem Stil zu arbeiten, und führte diesen fort. Wo man hingegen so etwas wie eine indirekte Rezeption der Neuen Sachlichkeit ausmachen kann, ist in der fotorealistischen Kunst der späten 1960er und frühen 1970er Jahre, die ja interessanterweise auch eine Gegenreaktion auf den abstrakten Expressionismus war.
Bei allen Unterschieden gibt es Parallelen unserer Zeit zu den 1920ern: Finanzkrise, Pandemie, Krieg in Europa, neue Medien und darin ausgetragene weltanschauliche Gefechte. Sehen Sie in der Gegenwartskunst auch eine Konzentration auf das Grundsätzliche wie vor 100 Jahren?
Der maßgebliche Unterschied ist, dass heutzutage mehr noch als in den 1920er Jahren unglaublich viele Ansätze in der Kunst parallel laufen. Daher findet man momentan zwar auch die eine oder andere Tendenz hin zurück zum Objekt und zur Realität, gerade etwa im Kontext des Gegensatzes von »digital« und »analog«. Aber angesichts der Fülle an nebeneinander herlaufenden Strömungen bildet sich hier wohl keine vergleichsweise so stark vernehmbare Stimme mehr aus wie seinerzeit durch die gemeinsamen Richtungen der Neuen Sachlichkeit.
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