Ruthenium-106: Neue Spur bei radioaktiver Wolke
Im September und Oktober 2017 registrierten Messstationen in Deutschland und Österreich erhöhte Konzentrationen an Ruthenium-106 in der Atmosphäre. Auch andere Stationen von Norwegen bis Griechenland, von der Ukraine bis in die Schweiz meldeten, dass sie das Isotop nachgewiesen hatten. Schnell deuteten Analysen auf eine Quelle in Russland hin, was der russische Wetterdienst schließlich im November bestätigte. Wer das radioaktive Element freigesetzt hat und warum dies geschehen war, ist bis heute jedoch nicht bekannt. Gesichert ist nur, dass das Ruthenium auf Grund seiner geringen Konzentration in der Umwelt nicht gesundheitsgefährdend war – und dass es sich nicht um einen Reaktorunfall gehandelt hat: In diesem Fall hätten die Detektoren noch zahlreiche weitere radioaktive Substanzen nachgewiesen. Stattdessen vermutet das französische Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire (IRSN) laut "Science" eine andere Fehlerquelle mit Bezug auf das Laboratori Nazionali del Gran Sasso in Italien, wo unterirdisch Elementarteilchen untersucht werden.
Demnach kam es in einer Nuklearanlage in Majak im südlichen Ural – berühmt-berüchtigt für einen der schwersten Atomunfälle der Welt – zu einem Leck, als Techniker radioaktives Material für ein Experiment am Gran-Sasso-Labor abfüllen wollten. Die nicht näher benannte Fabrik extrahiert Isotope von ausrangierten Kernbrennstäben. Laut dem Report des IRSN sollte dabei eine Kapsel mit dem Isotop Cer-144 hergestellt werden, das am Gran Sasso benötigt werde. Dieses Projekt solle als mögliche Unfallursache untersucht werden, so das IRSN. Für diese Hypothese spreche unter anderem, dass das Experiment im Gran Sasso zumindest momentan abgesagt sei: Es soll nach sterilen Neutrinos suchen, die zu den großen Rätseln der Teilchenphysik gehören.
Die geschätzte Menge an freigesetztem Ruthenium deute darauf hin, dass mehrere Tonnen benutzter Brennstäbe weiterverarbeitet worden sein müssen. Zudem spreche das nachgewiesene Verhältnis von Ruthenium-106 zu Ruthenium-103 – das schneller zerfällt – dafür, dass das Material erst vor ein bis zwei Jahren aus einem Reaktor geholt wurde, so die französischen Nuklearexperten. Normalerweise lässt man die Brennstäbe mindestens ein Jahrzehnt abkühlen, bevor man sie weiterverarbeitet. Auch das weise auf eine Anfrage nach Material mit erhöhter Radioaktivität hin, wie sie in manchen Studien benötigt wird – was ebenfalls auf eine Versuchsanordnung im Gran Sasso zur Suche nach sterilen Neutrinos passe, sagt das IRSN. Der Teilchenphysiker Marco Pallavicini von der Universität Genua bestätigt in "Science", dass das Gran-Sasso-Labor einen Vetrag mit der Mayak Production Association hat – welche eine Cer-Kapsel produzieren und Anfang 2018 liefern sollte. Dezember 2017 habe die Firma jedoch verkündet, dass sie die gewünschte hohe Radioaktivität nicht erreichen könne, weshalb das Experiment am Gran Sasso letztlich abgeblasen wurde, so Pallavicini. Von einem "Leck" habe die Firme jedoch nichts erwähnt.
Jean-Christophe Gariel vom IRSN spekuliert, dass es beim Abtrennen des Cers zu einem unkontrollierten Temperaturanstieg gekommen sein könnte: Dadurch wurde Ruthenium aus dem Material zu gasförmigem Rutheniumoxid umgewandelt, welches durch Filteranlagen in die Atmosphäre gelangte. In der kühlen Luft wurden daraus kleine, aber widerständige Partikel, die letztlich über große Teile Europas verdriftet wurden. Das Institut für nukleare Sicherheit der Russischen Akademie der Wissenschaften nannte dieses Szenario eine "gute Hypothese", verneint sie jedoch: Der Separationsprozess sei nie in eine heiße Phase gelangt und hätte zudem erst Ende Oktober stattgefunden – nach dem Auftauchen der Wolke. Die tatsächliche Quelle kenne man dagegen noch nicht. Der von "Science" befragte Physiker Frank von Hippel von der Princeton University hält die IRSN-Analyse hingegen für schlüssig. Die geschätzte Menge an freigesetztem Ruthenium-106 entspräche dem Umfang an Cer-144, den das Gran-Sasso-Experiment benötigt hätte – sofern beide Isotope in einem typischen Verhältnis im Ausgangsmaterial vorgelegen hätten.
Für die Bevölkerung in Europa habe angesichts der winzigen Konzentrationen in der Atmosphäre keine Gefahr bestanden, so von Hippel. In Majak selbst könnten Menschen in Nähe der Produktionsanlage jedoch durchaus gesundheitsschädliche Dosen abbekommen haben, meint der Experte.
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