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Binge-Eating: Alles muss rein!

Erst kommt das Gelage, dann das böse Erwachen: Wer unter der Binge-Eating-Störung leidet, schaufelt oft riesige Nahrungsmengen in sich hinein – und schämt sich hinterher für das vermeintliche Versagen. Jetzt versuchen Forscher, neue Behandlungsansätze für die Störung zu finden.
Alles muss rein!

Kann denn Naschen Sünde sein? Wer sich die Reklame für Süßwaren einmal genauer betrachtet, kann rasch diesen Eindruck gewinnen. Von »Versuchungen« und »süßen Lastern« ist da die Rede. Und wer die eigene Diät bricht und sich einen Schokoriegel gönnt, der hat »gesündigt«. Was soll dieser alttestamentarische Duktus, wenn wir über Nahrung reden? Schließlich sollte Essen doch etwas Angenehmes sein, mit dem wir uns den Alltag versüßen!

In der traditionellen christlichen Glaubenslehre zählt die Völlerei zu den sieben Todsünden. Auch heute noch haftet hochkalorischen Lebensmitteln der Nimbus des Verbotenen an. In Zeiten von Nahrungsknappheit mag es nachvollziehbar gewesen sein, üppige Essgelage sozial zu ächten. Im Europa des 21. Jahrhunderts, wo jeder Discounter mit einer unüberschaubaren Fülle von Angeboten lockt, verfängt diese Erklärung aber nicht mehr. Statt mit Mangelernährung haben die meisten Industrienationen nun mit Übergewicht zu kämpfen. Der latente Tabu-Charakter von Nahrung hilft allerdings keineswegs dabei, die Misere zu lösen: Im Gegenteil, er ist vielmehr Teil des Problems.

In kaum einem Phänomen zeigt sich das so deutlich wie in der Binge-Eating-Störung. Die Betroffenen leiden unter häufig wiederkehrenden Essanfällen, bei denen sie in kurzer Zeit immense Nahrungsmengen in sich hineinstopfen – und das Gefühl haben, ihr Verhalten nicht mehr selbst kontrollieren zu können. Einige Patientinnen berichten von einem heftigen Druck, abnehmen zu müssen. Ihre Diätversuche gehen allerdings nach hinten los. Denn irgendwann bahnt sich der Hunger einen Weg. Das Resultat: Essen im Überfluss.

»Ich wollte mich mit dem Essen betäuben – besonders in krassen Drucksituationen«
Isabelle, Binge-Eating-Betroffene

»Bei mir fing es mit 13 an. Mein Körper hatte sich zu der Zeit stark verändert, ich war in der Pubertät«, erzählt Isabelle, die inzwischen 28 ist und selbst über Jahre an den Essattacken litt. »Ich wollte mich mit dem Essen betäuben – besonders in krassen Drucksituationen«, sagt sie. »Nach der Schule hatte ich immer ein kleines Zeitfenster, bevor der Bus kam. Da habe ich mir dann mehrere von diesen trockenen 19-Cent-Brötchen aus dem Supermarkt gekauft, dazu wahllos Süßigkeiten, und dann alles in mich hineingeschlungen. Um den guten Geschmack ging es mir nie, eher um das Völlegefühl«, so Isabelle. »Ich fühlte mich wie im Halbschlaf, als wären meine Gedanken in Watte gepackt. Es war wie eine Auszeit von mir selbst.« Unmittelbar nach den Essattacken hätte sie sich zunächst regelrecht erleichtert gefühlt: »Zumindest bestätigte sich dann mein eigenes Gefühl, ein Versager zu sein. Das schlechte Gewissen kam erst später.«

Was Isabelle beschreibt, ist recht typisch für die Störung: Mehrere Essanfälle pro Woche, gefühlter Kontrollverlust, Schuld- und Schamgefühle. Anders als bei der Bulimie leiten die Betroffenen aber keine Gegenmaßnahmen ein, um die zusätzlichen Kilos wieder loszuwerden. Viele nehmen deswegen stark zu. Die Störung zählt neben Bulimie und Magersucht zu den drei gängigsten Essstörungen. Ein bis zwei Prozent der Allgemeinbevölkerung trifft die Störung im Lauf des Lebens. In Abnehmkursen für Übergewichtige fanden Forscher sie sogar bei fast jedem dritten Teilnehmer. Das Geschlechterverhältnis ist im Vergleich zu den anderen Essstörungen relativ ausgewogen: Auf zwei betroffene Männer kommen etwa drei Frauen. Obwohl das Problem recht verbreitet ist, behandeln Kliniker und Wissenschaftler das Störungsbild eher stiefmütterlich. Die American Psychiatric Association (APA) adelte es erst 2013 zu einer offiziellen Diagnose, mit dem Erscheinen ihres Störungsmanuals DSM-5. Im ICD-10, dem Krankheitsverzeichnis der Weltgesundheitsorganisation (WHO), läuft die Störung nach wie vor nur in der Restkategorie – als »Essstörung, nicht näher bezeichnet«.

Essen, um den Stress zu vergessen

Vieles zur Binge-Eating-Störung liegt noch im Dunkeln: Über die genauen Entstehungsmechanismen ist beispielsweise noch ziemlich wenig bekannt. Etwas mehr weiß man immerhin über die Prozesse, die zu einer Aufrechterhaltung der Symptome beitragen. »Menschen mit einer Binge-Eating-Störung berichten häufig von dysfunktionalen Strategien zur Regulierung ihrer Emotionen«, so Jennifer Svaldi. Die Professorin erforscht an der Universität Tübingen die psychologischen Mechanismen, die der Essstörung zu Grunde liegen. »Die Betroffenen weisen häufig eine Grübelneigung auf, außerdem unterdrücken sie öfter ihre Gefühle und sind schlechter darin, unangenehme Emotionen zu akzeptieren«, so Svaldi. Soll heißen: In Stressmomenten greifen sie häufiger zu völlig ineffektiven Gegenmaßnahmen.

Dass diese missglückten Anti-Stress-Taktiken tatsächlich auch zur Entstehung der Essattacken beitragen, konnte Svaldi zusammen mit ihrem Team in einem kuriosen Experiment zeigen. Dazu lud sie rund 80 übergewichtige Frauen ins Labor ein, von denen die Hälfte eine diagnostizierte Binge-Eating-Störung hatte. Die Teilnehmerinnen sollten sich eine Szene aus dem Spielfilm »Der Champ« ansehen. Der Film hat den Ruf, einer der traurigsten der Welt zu sein – so wollten die Forscher eine emotional belastende Situation heraufbeschwören. Doch zuvor mussten sich die Versuchspersonen noch einem Stressbewältigungstraining unterziehen. Die eine Hälfte der Teilnehmerinnen sollte neutral bleiben und ihren Gefühlsausdruck verbergen, so weit es ging – eine Methode, die nachweislich sehr schlecht funktioniert und unter Patientinnen mit Binge-Eating-Störung recht verbreitet ist. Die andere Hälfte bekam eine weitaus nützlichere Strategie an die Hand: kognitive Neubewertung. Dafür bat man die Teilnehmerinnen, im Geiste ein wenig Abstand vom Filmmaterial zu nehmen und einen eher objektiven Blick auf das Geschehen zu entwickeln.

Serie »Die sieben Todsünden«

Stolz, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid, Trägheit – das sind in der christlichen Glaubenslehre die sieben Todsünden. Dabei ist der Begriff »Todsünde« im Grunde irreführend, denn gemeint sind eigentlich sieben Laster, die Menschen erst zu Sündern werden lassen. Auf »Spektrum.de« stellen wir alle sieben Todsünden unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten vor.

Teil 1: Dürfen wir stolz sein?
Teil 2: Bloß nicht ausrasten!
Teil 3: Die Kirschen in Nachbars Garten
Teil 4: Wann Lust zur Last wird
Teil 5: Alles muss rein!

Nach dem zweifelhaften Filmgenuss ging es ans Büfett. Dort sollten sich die Teilnehmerinnen an zwei Schalen mit Keksen und Schokolinsen bedienen. Angeblich ging es dabei um einen Geschmackstest. Der jedoch wurde nie ausgewertet. Tatsächlich interessierten sich die Forscher nur dafür, wie viel von den Süßwaren die Probandinnen kosteten. Zwar nahmen sie alle eher kleine Mengen zu sich, dennoch ließen sich gewisse Unterschiede zwischen den Gruppen ausmachen: Die Binge-Eating-Patientinnen aßen messbar mehr als die übrigen Teilnehmerinnen. Auch die Art des Stresstrainings wirkte sich auf das Naschverhalten aus. Wer seine Gefühlsausbrüche unterdrücken sollte, griff bei der Verkostung stärker zu. Wer sich hingegen bemühte, seine Gefühle kognitiv neu zu bewerten, hielt sich am Büfett eher zurück. Offenbar verspürten diese Teilnehmerinnen weniger den Drang, ihren Kummer mit Schokolade zu betäuben.

Bessere Gefühlsregulation hilft gegen Essattacken

Innerhalb der Wände des psychologischen Labors schien sich Svaldis These also zu bestätigen: Die missglückten Anti-Stress-Strategien führten tatsächlich zu einem Mehr an Nahrungsaufnahme. Doch würde sich Svaldis These auch unter realistischen Bedingungen bewähren? »In einer aktuellen Studie haben wir 80 Männer und Frauen mit Binge-Eating-Störung mit einem iPod ausgestattet. Mehrmals täglich sollten sie über das Gerät ihren Alltag protokollieren. Mit diesen Abfragen sammelten wir Daten von knapp 300 Essanfällen«, berichtet Svaldi über ihre Studie.

Es zeigte sich: Verwendeten die Teilnehmer in einer Risikosituation eine wirksame Regulationsstrategie wie etwa Akzeptanz oder kognitive Neubewertung, senkte sich die Wahrscheinlichkeit für einen Essanfall um bis zu 97 Prozent. Umgekehrt erhöhte sich das Risiko für eine Attacke, je mehr sie versuchten, dysfunktionale Strategien anzuwenden – etwa die erwähnte Gefühlsunterdrückung oder Grübeln.

Nun arbeitet Svaldi an einem emotionalen Kompetenztraining speziell für Menschen mit Binge-Eating-Störung. Diese Art der Behandlung zielt also nicht direkt auf eine Änderung des Essverhaltens ab, sondern konzentriert sich allein auf die Fähigkeiten zur Gefühlsregulation. »Die kognitive Verhaltenstherapie ist bislang die Goldstandardtherapie für die Behandlung der Binge-Eating-Störung«, so die Forscherin. In Therapiestudien schlägt eine solche Behandlung bei rund 60 Prozent der Betroffenen an. »Wenn wir das verbessern wollen, müssen wir Puzzlearbeit leisten und die Ergebnisse solcher Studien in aktuell wirksame Therapien integrieren, um so maßgeschneiderte Behandlungen anbieten zu können«, fasst Svaldi zusammen.

Essen aus Verlegenheit über das eigene Essen

Das englische Wörtchen »binge« steht für Gelage, Überkonsum. Das ist nicht auf die Nahrungsaufnahme beschränkt: Wer sich ganze Serienstaffeln am Stück reinzieht, gilt als »Binge-Watcher«. Üppige Sauforgien bezeichnet man auch als »Binge-Drinking«. Generell haben Exzesse einen schlechten Ruf. Als tugendhaft gilt die Mäßigung, der Verzicht. Das spiegelt sich auch in Stereotypen wider: Dicke Menschen haben zum Beispiel mit dem Vorurteil zu kämpfen, sie seien träge, charakterfaul, ungezügelt. Dabei sind die Ursachen für Adipositas vielschichtig – banale Ratschläge wie »Iss doch einfach weniger!« sind da keine Hilfe. Gerade Patientinnen und Patienten mit Binge-Eating-Störung wollen oft selbst dringend abnehmen – und scheitern an den überzogenen Anforderungen, die sie an sich selbst stellen. Einige Betroffene berichten davon, schon allein aus Verlegenheit über ihr eigenes Essverhalten mehr zu essen.

Die übertriebenen Erwartungen entstehen freilich nicht im luftleeren Raum. Frauenzeitschriften sind beispielsweise voll mit Abnehmtipps und Lästereien über Promis, die ein paar Kilos mehr an den Hüften haben. Doch sind medial vermittelte Körperideale wirklich schuld an Essstörungen wie der Binge-Eating-Störung? Vieles deutet darauf hin, dass diese idealisierten Körperbilder eine notwendige, für sich genommen aber noch keine hinreichende Entstehungsbedingung für eine Binge-Eating-Störung sind. Schließlich leidet nur ein kleiner Teil der Menschen an dieser Störung. Manche scheinen also weitaus anfälliger für solche sozialen Erwartungen zu sein als andere. Woran liegt das?

»Unter Stress kann ich mich nicht mehr auf mein Spiegelbild verlassen«
Isabelle, Binge-Eating-Betroffene

Antonios Dakanalis von der Universität Mailand-Bicocca hat sich zusammen mit seiner Arbeitsgruppe auf die Suche nach dem fehlenden Glied gemacht. Dazu beobachtete das Forscherteam fast 700 italienische Teenager über einen Zeitraum von drei Jahren. Einmal jährlich bat es die Schülerinnen und Schüler zu einem standardisierten Interview. Mit diesen Längsschnittdaten prüften die Forscher ein Modell, das vorhersagen sollte, wie es zu den Essanfällen kommt. Laut Dakanalis und seinen Kollegen fängt alles mit einem besonderen Verarbeitungsstil an: So genannte »Internalisierer« würden dazu neigen, sich Idealbilder aus den Medien besonders rasch einzuverleiben. Sie würden dann ihren eigenen Körper zunehmend aus der Rolle eines fremden Beobachters betrachten und bewerten – Dakanalis spricht hier von »Selbst-Objektifizierung«. Dieses Verhalten ziehe weitere Probleme nach sich: Schamgefühle und Ängste in Bezug auf den eigenen Körper. Am Schluss der Kette stünden dann restriktive Diäten und Essanfälle, wie sie etwa für die Binge-Eating-Störung typisch sind.

Idealbilder aus den Medien verstärken Störung womöglich

Tatsächlich konnte Dakanalis diesen Verlauf anhand seiner Daten erfolgreich nachzeichnen: Die jeweiligen Glieder seines vermuteten Kausalmodells nutzte er, um die Konsequenzen im Folgejahr vorherzusagen. Dakanalis' Forschungsarbeit ist wertvoll, weil sie im Gegensatz zu vielen anderen Studien die Entwicklung der Jugendlichen über einen langen Zeitraum verfolgt. Die einzelnen Entwicklungsschritte sollte man dennoch mit Vorsicht genießen: Es ist möglich, dass ein anderes Modell die Daten ebenso gut erklären könnte wie seine Theorie.

Wie bei anderen Essstörungen auch konkurrieren bei der Binge-Eating-Störung verschiedene Erklärungsversuche. Einige Forscher rücken die emotionale Komponente der Störung in den Fokus, wie etwa Jennifer Svaldi. Andere untersuchen, wie die Betroffenen sich mediale Rollenbilder einverleiben – siehe Antonios Dakanalis' Theorie. Wieder andere Modelle konzentrieren sich auf neuronale Vorgänge. Diese betrachten beispielsweise, wie das Belohnungszentrum im Gehirn nahrungsbezogene Reize verarbeitet.

Mittlerweile existieren zahlreiche Therapieansätze: Bei einigen Trainingsprogrammen geht es ausschließlich um die Gewichtsabnahme; psychotherapeutische Ansätze dagegen integrieren noch kognitive und emotionale Prozesse mit in die Behandlung. Letztlich setzen manche Psychiater auch auf ein Arzneimittel namens Lisdexamfetamin, mit dem sonst eher Kinder mit ADHS behandelt werden.

Isabelle hat ihre Essstörung inzwischen hinter sich gelassen. Bis dahin war es allerdings ein langer Weg. Nach der Binge-Eating-Phase durchlebte Isabelle eine längere Periode mit Bulimie – sie versuchte, ihren Essanfällen mit Abführtabletten und Erbrechen entgegenzuwirken. »Ich habe eine längere ambulante Psychotherapie und zwei Klinikaufenthalte hinter mir. Leider hat das überhaupt nicht geholfen«, sagt sie und lacht. »Damals habe ich meiner Therapeutin nur erzählt, was ich mir sonst auch selbst in meinem Kopf erzählt habe. In der Zwischenzeit habe ich aber viele Techniken an der Hand, um Drucksituationen besser zu meistern.«

Ob sie hin und wieder noch Essanfälle habe? Isabelle verneint – die letzte Attacke liege schon lange zurück. »Es ist aber immer noch meine Achillesferse. Wenn ich sehr unter Stress bin, habe ich schnell das Gefühl, dick zu sein. Dann kann ich mich nicht mehr auf mein Spiegelbild verlassen – stündlich sehe ich anders aus. Das kann sehr gruselig sein«, sagt Isabelle. Was ihr dann helfe? »Zulassen. Nicht dagegen ankämpfen, sondern ganz in Ruhe schauen, was gerade los ist. Und dann: tief durchatmen.«

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