Neurodegenerative Krankheiten: Neuer Ansatz gegen multiple Sklerose?
Bei der multiplen Sklerose (MS) attackiert und zerstört das Immunsystem das Nervengewebe der Betroffenen – ein Angriff, dem Mediziner vor allem dadurch begegnen, dass sie die Aggressivität des Immunsystems herunterregeln. Das wiederum macht die Patienten verwundbarer gegenüber anderen Krankheitserregern. Viel besser geeignet wäre daher eine Therapie, die lediglich die MS-spezifische Reaktion verhindert und dabei die übrige Körperabwehr unversehrt lässt.
Eine Technik, mit der dies funktionieren könnte, haben nun Stephen Miller und Kollegen der Northwestern University in Chicago untersucht. Bei Experimenten an Mäusen, die unter einer Tiermodellvariante von MS litten, zeigte ihr Ansatz erste Erfolge. Denselben Ansatz testeten darüber hinaus Christoph Heesen vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und sein Team in einer so genannten Phase-I-Studie auf Verträglichkeit bei Patienten.
Die Erkrankung entsteht, wenn – aus bisher unbekannten Gründen – die T-Zellen des Immunsystems den Mantel von Nervenzellausläufern, die Myelinscheide, attackieren. Dabei identifizieren sie so genannte Myelinpeptide fälschlicherweise als körperfremde Strukturen und lösen damit eine entzündliche Immunreaktion aus, die die Myelinscheide abbaut. Nervenzellen leiten in der Folge ihre Signale nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr weiter. Lähmungen oder auch Erblindung können die Folge sein. Welche Myelinpeptide den T-Zellen als Angriffspunkt dienen, unterscheidet sich von Fall zu Fall, ebenso wie die damit verbundenen Krankheitserscheinungen.
Die Forscher um Miller entwickelten nun ein Verfahren, bei dem eine Auswahl von Myelinpeptiden an weiße Blutkörperchen der Maus gebunden und den Tieren injiziert wird. Durch die Bindung an körpereigene Blutzellen soll ein Toleranz erzeugender Mechanismus genutzt werden, der tagtäglich im Körper stattfindet: Absterbende weiße Blutkörperchen werden von speziellen Zellen in Milz und Leber aufgenommen, verdaut und ihre Bestandteile den T-Zellen so präsentiert, dass sie keine Immunantwort gegen eigenes Gewebe auslösen. Durch die künstliche Bindung an weiße Blutkörperchen sollen spezifische Autoantigene, wie in diesem Fall die Myelinpeptide, in den Mechanismus der Tolerierung eingeschleust werden.
Bei ihren Versuchsmäusen zeigte das Verfahren Wirkung. Doch was im Tier funktioniert, hilft dem Menschen noch lange nicht. Bevor von einer wirksamen Therapie gesprochen werden kann, muss das Verfahren drei klinische Phasen durchlaufen. Die erste Phase, die die grundsätzliche Verträglichkeit an menschlichen Patienten erprobt, führten Christoph Heesen und Kollegen bereits durch: Neun MS-Betroffenen wurde eine hohe Zahl weißer Blutkörperchen entnommen und mit sieben verschiedenen Myelinpeptiden beladen. Nach diesem Prozedere reinjizierten sie die Zellen und beobachteten die Behandelten über Monate. Die Patienten zeigten keine Unverträglichkeit, und die Zahl von T-Zellen, die das eigene Körpergewebe attackierten, sank.
"Nach all dem muss jedoch klar gesagt werden, dass dies im Tier prima funktioniert; aber unsere Studie sollte noch nicht als Evidenz dafür gewertet werden, dass es bei der MS auch wirkt", äußert sich Roland Martin vom Universitätsspital Zürich, der an Heesens Studie beteiligt war. In Zürich laufen nun die Vorbereitungen der Phase-II-Studie, die vor allem Patienten in frühen Krankheitsstadien umfasst, da die Forscher den größten Therapieeffekt in der Vorbeugung des Myelinabbaus sehen.
"Bei Patienten im fortgeschrittenen Stadium muss man Verfahren finden, die geschädigte Nervenzellen schützen und wieder aufbauen. Diese sind bisher nicht vorhanden. Unser Verfahren und generell tolerisierende Ansätze sollten so früh wie möglich eingesetzt werden", erläutert Martin. Die tatsächliche Wirksamkeit muss schließlich eine folgende Phase-III-Studie beweisen.
Eine der Stärken dieser Therapie könnte gleichzeitig eine Schwäche sein: Theoretisch müsste die Behandlung nur ein einziges Mal durchgeführt werden, um Toleranz zu erzeugen. Allerdings ist das Verfahren aufwändig und teuer – ein wichtiger Faktor, der es erschwert, Unterstützung von Firmen zu finden. In noch ferner Zukunft wäre hier sowohl eine Form personalisierter Medizin denkbar, bei der Patienten mit spezifischen Autoantigenen gezielt behandelt werden könnten, als auch eine Anwendung bei anderen Immunkrankheiten.
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