Neuer ESA-Chef Aschbacher: »Wir müssen bereit sein, mehr Risiko einzugehen«
Seit 1. März leitet der österreichische Geophysiker und Meteorologe Josef Aschbacher die Europäische Raumfahrtorganisation ESA. Er folgt auf den Deutschen Johann-Dietrich Wörner, dessen Vertrag als Generaldirektor nicht verlängert worden ist. Aschbacher übernimmt die ESA mit ihrem Jahresbudget von 6,5 Milliarden Euro in einer für sie heiklen Situation. Einerseits ist die Raumfahrtagentur, insbesondere in der Wissenschaft und der Erdbeobachtung, erfolgreich und weltweit angesehen. Andererseits droht gleich von zwei Seiten Konkurrenz: Die Europäische Union, deren Länder nur teilweise mit den 22 ESA-Mitgliedsstaaten übereinstimmen, will sich zur führenden Kraft in Europas Raumfahrt aufschwingen. Und private Unternehmen, allen voran in den USA, lassen die mitunter behäbigen Agenturen alt aussehen. Die ESA, so viel ist klar, steht unter Druck.
Herr Aschbacher, wird es die ESA in fünf Jahren noch geben?
Das ist natürlich eine sehr provokante Frage. Aber ja: Die ESA wird es noch geben, und sie wird in fünf Jahren sogar viel stärker und viel wichtiger sein als heute.
Was macht Sie so sicher?
Ich bin gerade dabei, eine »Agenda 2025« zu entwerfen. Das kurze Dokument, das Ende des Monats fertig sein soll, wird die Grundlagen dafür legen, den Weltraum in Europa zu stärken und eine Stufe höher zu klettern. Der treibende Motor, um diese Ziele zu verwirklichen, wird dann die ESA sein.
Das klingt etwas blumig. Was genau soll drinstehen in dieser Agenda?
Noch ist sie nicht ganz fertig, und viel wird davon abhängen, wie die Mitgliedsländer auf meine Vorschläge reagieren. Doch einer der Eckpunkte ist sicherlich, dass wir die Kommerzialisierung in Europa vorantreiben müssen. Sie kennen ja SpaceX und Blue Origin und viele andere Unternehmen und, was diese in den vergangenen Jahren geleistet haben. Der Weltraum ist heute viel kommerzieller als noch vor fünf oder zehn Jahren. Das ist ein Faktum, ganz egal, ob es die ESA gibt oder nicht.
»Wir haben leider keinen Elon Musk und auch keinen Jeff Bezos«
Wird die ESA durch all diese privaten Aktivitäten nicht an Bedeutung verlieren?
Nein, im Gegenteil. Es wird allerdings meine Aufgabe sein, die ESA, die europäische Industrie, Wirtschaft und Bevölkerung bestmöglich darauf vorzubereiten, sich aktiv an diesem Wandel zu beteiligen. Und aktiv heißt, neue Firmen entstehen zu lassen, neue Ideen zu verwirklichen und Teil dieses privaten Ökosystems zu werden.
Jetzt konkret, wie wollen Sie das erreichen?
Als ich 2016 Direktor für Erdbeobachtung geworden bin und gesehen habe, wie schnell die Kommerzialisierung voranschreitet, sind wir ins Silicon Valley geflogen und haben mit all diesen Firmen gesprochen: mit SpaceX, Google, Planet Labs und so weiter. Daraus habe ich drei Lehren gezogen, die noch immer aktuell sind: Erstens, man braucht talentierte Leute mit fantastischen Ideen, die getrieben sind und ihre Visionen auch verwirklichen wollen.
Europa braucht einen Elon Musk?
Wir haben leider keinen Elon Musk und auch keinen Jeff Bezos. Als ESA initiieren wir jedoch sehr viele Projekte, bei denen es um neue Technologien geht. Forschung und Entwicklung gehören zu unseren grundlegenden Aufgaben. Dies müssen wir viel stärker nutzen, um Talente zu fördern und um ein Umfeld zu kreieren, in dem Neues entstehen kann. Ganz wichtig dabei ist – und das ist die zweite Lehre aus dem Silicon Valley – ein leichterer Zugang zu Geld, zu Wagniskapital.
Sie wollen die ESA jetzt aber nicht zur Investmentbank umbauen?
Nein, wir sind und bleiben eine Weltraumagentur. Allerdings ich will Partnerschaften mit mehreren Venture-Capital-Firmen eingehen. Dahinter steckt ein einfacher Gedanke: Als ESA helfen wir einerseits Start-ups, neue Ideen zu verwirklichen. Wir kennen uns aber andererseits auch aus mit der technischen Evaluierung von Ideen, und wir kennen die Community, was für Geldgeber interessant sein dürfte. Diese beiden Aspekte, Ideen und Geld, wollen wir zusammenbringen.
Und die dritte Lehre?
Kommerziell erfolgreich ist nur, wer schnell und dynamisch agiert, andernfalls klaut einem die Konkurrenz das Geschäft. Das heißt, auch als ESA müssen wir unsere Prozesse schlanker und schneller anlegen. Doch vor allem müssen wir bereit sein, mehr Risiken einzugehen.
So wie SpaceX? Die haben gerade innerhalb weniger Monate drei Prototypen ihres neuen Starship-Raumschiffs bei Testflügen zerstört. Europa hingegen entwickelt seit sechs Jahren sehr vorsichtig und sehr risikoscheu die neue Ariane 6 …
Womöglich kann Elon Musk solche Tests einfach besser verkaufen, während bei uns nach einem Misserfolg jeder in Trauerstimmung verfällt. Da hat Europa sicher Nachholbedarf. Aber ja: Diese »Fail fast, fail forward«-Devise aus dem Silicon Valley – testen, scheitern, verbessern, wieder testen – sollte auch für uns Vorbild sein. Vielleicht nicht bei den ganz großen Raketen, sicherlich jedoch in Bereichen, die weniger Geld kosten und bei denen man aus jedem Fehlschlag viel lernen kann.
Stichwort große Raketen: Bleibt es beim zuletzt auf Mitte 2022 verschobenen Erstflug der Ariane 6?
Mitte 2022 ist nach wie vor das Ziel. Ich bin ja noch nicht so lange im Amt, doch ich habe direkt am ersten Tag eine Arbeitsgruppe eingerichtet, um das Datum zu verifizieren. Wir müssen die Ariane 6 im Jahr 2022 unbedingt starten – um die weiteren Ausgaben für ihre Entwicklung zu limitieren, aber auch, um sie endlich nutzen zu können. Insofern hat dieses Thema oberste Priorität.
»Es gibt in Deutschland eine aktive Start-up-Szene für neue Technologien«
Trotzdem gibt es, insbesondere aus der Industrie, schon Forderungen nach einer Nachfolgerakete. Wie stehen Sie dazu?
Das ist etwas früh. Jetzt starten wir erst einmal erfolgreich die Ariane 6 wie die neue Vega-C und nutzen sie dann auch. Aber es stimmt, die Entwicklung hört nicht auf. Wir müssen uns daher überlegen, wie es weitergehen soll. Wiederverwendung ist ein Schlagwort, aber auch neue Treibstoffe. Das sind genau die Konzepte, an denen wir arbeiten, um zu sehen, in welche Richtung die nächste Generation gehen könnte.
Wenn Sie 2030 mit einer wiederverwendbaren Ariane auf den Markt kommen – einer Technologie, die SpaceX seit Jahren erfolgreich einsetzt –, hinken Sie dann dem Markt nicht wieder hoffnungslos hinterher? Müsste, um in der Silicon-Valley-Sprache zu bleiben, nicht die nächste disruptive Entwicklung aus Europa kommen?
Erstens hoffe ich, dass es etwas schneller geht als 2030. Zum anderen ist der Markt sehr dynamisch. Es gibt, gerade in Deutschland, eine aktive Start-up-Szene für neue Technologien und neue Raketen, von denen die erste bereits in zwei Jahren fliegen soll. Dieser Wettbewerb ist absolut willkommen. Er ist genau das, was wir brauchen.
Im Gegensatz zur ESA hat die US-Raumfahrtbehörde NASA schon früh auf kommerzielle Raketenentwicklung gesetzt.
Ja, doch wir müssen uns auch auf einem anderen Gebiet der NASA annähern: In Europa sind die Ausgaben für den Weltraum viel geringer als in den USA oder auch in China. Das Budget in Amerika liegt zum Beispiel sechs- bis siebenmal höher, trotzdem sind wir Europäer im Wissenschaftsbereich oder in der Erdbeobachtung weltweit führend. Das ist fantastisch. Nur glaube ich, dass wir Gefahr laufen, aus diesem Rennen herauszufallen, wenn wir nicht weiterhin stark in Innovation investieren. Und weiter investieren heißt: näher an die Stufe der NASA heranzukommen.
Ausgerechnet nach Corona, wenn überall gespart werden muss, wollen Sie mehr Geld für die Raumfahrt bekommen?
Ich werde vorschlagen, nächstes Jahr einen »Space Summit«, einen Weltraumgipfel mit den Staats- und Regierungschefs der ESA, aber auch der EU zu organisieren. Dabei soll es um die Frage gehen: Wo will Europa in den nächsten Dekaden im Weltraum hinkommen? Und: Sind unsere Investitionen dafür ausreichend? Gerade nach Corona soll dieser Gipfel auch helfen, neue Energie zu tanken und Inspiration, Projekte, Ideen, Träume zu kreieren. Das braucht Europa.
Der amerikanische Traum, 2024 wieder Menschen zum Mond zu bringen, wurde zunächst belächelt. Mittlerweile hat er sogar den Präsidentenwechsel überstanden und scheint immer mehr Fahrt aufzunehmen, wenn auch vielleicht mit anderem Datum. Braucht Europa ebenfalls so ein Leuchtturmprojekt, solch eine Vision?
Ja, auf jeden Fall. Mein Traum wäre es, dass die europäischen Staatschefs nächstes Jahr aufstehen und sagen: Wir wollen im kommenden Jahrzehnt eine europäische Frau auf dem Mars sehen, und ihr als ESA macht das – bitte schön! – möglich. So wie US-Präsident John F. Kennedy 1961 in seiner Rede an der Rice University den Auftrag zur Mondlandung gegeben hat.
Immerhin suchen Sie gerade Astronautinnen und Astronauten. Wie stellen Sie sicher, dass künftig mehr Frauen ins All fliegen? Mit einer Quote?
Nein, eine Frauenquote wird es nicht geben. Allerdings wollen wir Frauen verstärkt animieren, sich zu bewerben – das geht hin bis zu Kampagnen in Zeitschriften und auf Kanälen, die von Frauen besonders intensiv genutzt werden.
Wenn sich aber doch nur 20 Prozent Frauen bewerben, kommen dann auch nur 20 Prozent in die Endauswahl?
Das ist nicht gesagt, es können auch 100 Prozent sein. Letztlich zählt die Qualifikation. Aber natürlich: Je mehr Kandidatinnen sich bewerben, umso höher ist die Chance, dass die Auswahl auch auf Astronautinnen fällt.
Einige Ihrer Raumfahrer haben zuletzt auch mit China trainiert. Demnächst möchte die Volksrepublik sogar eine eigene Raumstation starten. Wollen Sie künftig verstärkt mit der Volksrepublik zusammenarbeiten?
Grundsätzlich gilt: Die ESA ist offen für jegliche Zusammenarbeit. So eine Kooperation muss jedoch stets fair und zum Vorteil beider Partner sein. Bekommen wir das hin, können wir auch stärker mit China kooperieren.
Trotz der Menschenrechtslage vor Ort?
Das wird bei einer Entscheidung sicher mit reinspielen, wir haben da sehr hohe Prinzipien bei der ESA. Wenn ich meine Agenda 2025 vorstelle, werden Sie sehen, dass wir uns nicht nur als Weltraumagentur verstehen, sondern dass wir auch für gesellschaftliche Ziele eintreten: Dazu gehören Nachhaltigkeit und Klimaschutz, aber ganz sicher auch die Menschenrechte.
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