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Ornithologie: Neuer Rhythmus

Natur verrückt: Narzissen blühen, Störche klappern, Frösche wandern - und das alles bereits im Februar. Die Erderwärmung macht auch vor Deutschlands Natur nicht halt und zeigt sich unter anderem deutlich im Vogelzug.
Klassischer Zugvogel: der Weißstorch
Er war lange nur einer der Lebenspartner von Deutschlands bekanntester Störchin, doch nun macht er selber Schlagzeilen: Jonas, der mit der Weißstorchdame "Prinzesschen" über mehrere Jahre hinweg Nachwuchs zeugte, ist bereits wieder aus dem Winterquartier zu seinem heimatlichen Horst in Sachsen-Anhalt zurückkehrt – mehr als zwei Wochen früher als üblich und erwartet. Und vielleicht bietet er wie Prinzesschen, die bis zu ihrem Tod Anfang des Jahres indirekt Überragendes für die ornithologische Forschung geleistet hat, neue Erkenntnisse zum jährlichen Vogelzug.

Vogelschwarm | Der Klimawandel macht sich auch beim Vogelzug deutlich bemerkbar: Manche Arten wandern gar nicht mehr, andere nur noch kurze Strecken.
Denn Jonas' zeitige Heimkehr ist in diesem milden Winter beileibe kein Einzelfall in der Vogelwelt, und er steht symptomatisch für die Entwicklung der letzten Jahre. Zunehmend registrieren Forscher wie Katrin Böhning-Gaese von der Universität Mainz oder Peter Berthold von der Vogelwarte Radolfzell, dass sich viele Zugvögel auf den Klimawandel einstellen und früher aus dem Winterquartier nach Hause reisen, sich neuen Zielen zuwenden oder gar ganzjährig vor Ort bleiben.

Neue Zugrouten

Die Mönchsgrasmücke ist dafür ein klassisches Beispiel: Der kleine Singvogel verbrachte bis vor rund einem halben Jahrhundert die kalte Jahreszeit in den warmen Regionen des westlichen Mittelmeers inklusive Nordafrikas. Dort gibt es auch im Winter ausreichend Insekten und Beeren, um das eigene Überleben zu gewähren, während Mittel- und Nordeuropa regelmäßiger als heute unter Schnee und Eis verschwanden. Zu Beginn der 1960er Jahre änderten jedoch manche Individuen ihr Verhalten und flogen statt nach Spanien plötzlich nach Südengland. Eine weise Entscheidung: Im Einflussbereich des mildernden Golfstroms und angesichts der damals beginnenden zaghaften Erderwärmung boten nun Cornwall und Devon den Tieren ebenfalls ein winterliches Auskommen – unterstützt durch vogelfreundliche Gärten der nicht minder vogelfreundlichen Briten.

Der kürzere Weg von England beispielsweise nach Süddeutschland, wo sie im Sommer brüten, verschafft den plötzlich westwärts wandernden Mönchsgrasmücken im Frühling einen wichtigen Vorteil gegenüber den Fernfliegern. Sie sind zudem robuster gegenüber schlechtem Wetter, kommen früher im Brutgebiet an, besetzen die besten Reviere und sind weniger vom Flug ausgelaugt. Und sie beginnen gleich mit Verpaarung und Eiablage, weil ihre Geschlechtsorgane bereits knapp zehn Tage eher in Brutstimmung sind als die der aus Südeuropa einfliegenden Konkurrenz. Die Folge: Britannienreisende bekommen größere Gelege, bringen mehr Junge durch und setzen sich langsam in der Gesamtpopulation durch. Oder aber die beiden Gruppen entwickeln sich genetisch auseinander, wie bei den Mönchsgrasmücken bereits nachgewiesen – wenngleich noch in gemäßigtem Umfang, da sich die Vögel alle untereinander noch ohne Probleme fortpflanzen können.

Daheim geblieben

Manche Art spart sich die Reise gleich völlig und bleiben selbst während der kalten Jahreszeit in Deutschland – allenfalls bei extremen Schlechtwetterperioden weichen sie regional aus. Die Mainzer Vogelzugforscherin Böhning-Gaese merkt an, dass diesen Winter beispielsweise Rotkehlchen und Zilzalpe in großer Zahl ortstreu waren, anstatt in den Mittelmeerraum zu flüchten. Beide stehen symptomatisch für Kurzstreckenzieher, die sich schneller an die veränderten Klimabedingungen anpassen als ihre fernziehende Konkurrenz, so die Ornithologin. Sie folgen damit anderen Spezies wie etwa der Amsel, die sich schon vor Jahrzehnten vom Teilzieher zum reinen Standvogel fortentwickelt hat.

Rotkehlchen | Das Rotkehlchen bleibt in milden Wintern meist in Deutschland. Es kann aber auch in die Ferne ziehen – und nutzt dann seinen Magnetkompass.
Selbst ein klassischer Zugvogel wie der Kranich – dessen keilförmige Flugformation symbolisch für die Vogelwanderung steht – verbrachte die letzten Monate zu Tausenden in den norddeutschen Niederungen, statt nach Marokko, Spanien oder Südfrankreich zu schweifen. In früheren Jahren wagten dies stets nur wenige hundert Tiere. Neben dem milden Wetter spielten dabei auch die fast dauerhaft vorhandenen südwestliche Luftströmungen eine Rolle, die Mitteleuropa nicht nur von Eis und Schnee frei hielten, sondern gleichermaßen den Kranichen stärkeren Gegenwind beschert hätten. Angesichts des reichlich auf deutschen Feldern verbliebenen Futters entschieden sich deshalb viele der Schreitvögel für das Überwintern. Von den Abgereisten kehrten zudem wegen der in ganz Europa frühlingshaften Wetterlagen viele ebenfalls früh zurück, sodass bereits im Januar erhöhte Balzaktivitäten verzeichnet wurden – rund vier Wochen vor der normalen Zeit.

Fernreisende mit Problemen

Sofern das Wetter also mitspielt und ausreichend Futter vorhanden ist, lässt es sich in Deutschland gut überwintern. Für viele Fernzieher wie Schwalben, Schnäpper oder Laubsänger bietet das jedoch keine Option, da es ihnen als Insektenfressern hier im Winter noch an geeigneter Nahrung mangelt. Sie müssen in tropische Gefilde ausweichen, wo es ganzjährig genügend Beute gibt. Auch sie kehren teilweise nach Angabe von Böhning-Gaese früher aus dem Exil zurück, doch kommen die meisten Arten im Allgemeinen deutlich schlechter weg als die Kurzstreckenzieher.

Dies trifft beispielsweise auf den Trauerschnäpper zu – ihn verschlägt es ins tropische Westafrika –, der seiner langzeitigen biologischen Uhr treu bleibt und seit Beginn der wissenschaftlichen Aufzeichnungen stets zur gleichen Zeit nach Europa zurückkehrt. Während früher jedoch seine Jungenaufzucht mit dem Populationshöhepunkt vieler Insektenlarven zusammenfiel, spreizt sich seit mindestens zwanzig Jahren diese Schere immer weiter auseinander: Das Frühjahr setzt zeitiger ein und die Pflanzen treiben früher ihre Blätter aus, weshalb sich viele Kerbtiere eher entwickeln und ausbreiten.

Die Trauerschnäpper reagieren darauf mit früherem Eierlegen – nach niederländischen Daten wurde es um durchschnittlich 8,5 Tage vorgezogen –, sodass den Weibchen weniger Zeit zur Erholung nach dem langen Flug bleibt, was sie körperlich schwächt und sich nachteilig auf die Brut auswirkt. Dennoch verpassen sie häufig die lebensnotwendigen Insektenschwärme, der Nachwuchs verhungert und die Population schrumpft – wie in den Niederlanden geschehen, wo die Zahl der Trauerschnäpper während der letzten zwanzig Jahre insgesamt um achtzig Prozent abnahm. Neben den ökologischen Problemen in den Zug- und Überwinterungsgebieten ist auch dieser Nahrungsmangel zur falschen Zeit ein wichtiger Grund, warum so viele fernziehende Vogelarten auf der Roten Liste der gefährdeten Arten stehen.

Kranichrast im eigenen Schutzgebiet | Seit 1994 kauft die von Heinz Sielmann gegründete Stiftung große Landflächen vor allem im Osten Deutschlands, um die Natur und ihre Tier- und Pflanzenarten zu schützen. In Sielmanns Naturlandschaft Wanninchen rasten alljährlich tausende Kraniche auf ihrem Zug ins Winterquartier – in diesem Jahr überwinternden sogar viele der Tiere gleich hier.
Doch auch hier ist offensichtlich nicht alles verloren, wie eine Untersuchung des Max-Planck-Instituts für Ornithologie andeutet. Demnach steuern mindestens zehn Vogelarten, die bislang ausschließlich nach Zentral- und Südafrika flogen, zunehmend den naheliegenden Mittelmeerraum an, um dort zu überwintern – etwa Fischadler, Mehlschwalbe oder Gartenrotschwanz. Von dort aus starten sie sogar früher wieder nach Mitteleuropa: Die Tageslängenunterschiede geben ihnen den Takt vor. Dadurch kommen sie auch früher in Brutstimmung und kompensieren damit zumindest etwas den Startvorteil der heimischen Standvögel und Kurzstreckenzieher, die wegen der Erwärmung laufend früher zu brüten beginnen. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, könnten die ehemaligen Fernreisenden ihre Bestandsverluste vielleicht wieder aufholen.

Und Jonas? Ist er nun ebenfalls ein Beispiel für diese rasche evolutionäre Anpassungsgabe? Katrin Böhning-Gaese warnt in diesem Fall vor voreiligen Schlussfolgerungen: Weil Meister Adebar hierzulande lange Zeit in einem gefährlichen Abwärtstrend gefangen war, wurden zur Stützung des Bestandes Tiere aus Marokko ausgewildert. Sie aber waren schon immer Standvögel und Ziehen in ihren Genen nicht verankert. Sofern sie sich nicht abreisenden Artgenossen anschlossen, war es gut möglich, dass sie einfach vor Ort blieben – unterstützt durch Fütterungen wohlmeinender Menschen. In diesem Sinne muss Jonas wohl noch zulegen, damit ihn Ornithologen ähnlich ernst nehmen wie seine verflossene Partnerin Prinzesschen.

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