Fünf Fakten über rätselhafte Kinderlähmung: Neues Kinderlähmungsvirus bleibt für Forscher ein Rätsel
Seit August 2014 sind mehr als 100 Kinder und Jugendliche in den USA an einer merkwürdigen Lähmung erkrankt: Viele hatten zuerst Fieber, dann verloren ihre Gliedmaßen allmählich die Kraft, mal nur ein Arm oder Bein, manchmal mehrere. Das Auftreten der Fälle korrelierte auffällig mit einer größeren Epidemie eines bis dahin kaum bekannten, über die Atemluft ansteckenden Erregers: dem EnterovirusD68 (EV-D68). Er gilt als hauptverdächtig, die Lähmungserscheinungen zu verursachen, von denen sich nur wenige Kinder wieder erholen konnten.
Bisher ist es den Forschern allerdings nicht gelungen, wasserdicht nachzuweisen, dass das Virus wirklich die Erkrankung hervorruft – und wie es die Symptome der Kinder verursachen könnte. Eine gerade erschienene Studie im Magazin "Lancet" vom Januar – sie nahm ein gehäuftes Auftreten neuer Fälle in Denver, USA, unter die Lupe – liefert wieder Hinweise auf einen Zusammenhang, aber erneut keinen endgültigen Beweis [1]. Was weiß man bis heute vom Virus? Und was muss noch aufgeklärt werden?
Der Steckbrief von EV-D68
Das Virus gehört zur Familie der Enteroviren, zu denen auch das Poliovirus und die Erreger des Allerweltsschnupfens zählen. Am meisten ähnelt es den Rhinoviren, die Atemwegserkrankungen auslösen. Zwar ist EV-D68 schon 1960 erstmals isoliert worden, es blieb aber unter den weltweit zirkulierenden Viren relativ selten. Seit August 2014 hat sich das geändert: In den USA trat es in mehr als 1000 Fällen von Atemwegserkrankungen in Erscheinung, die teilweise sehr ernst verliefen. Auch in Frankreich gab es Fälle. John Watson, Epidemiologe an den US-Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta im Bundesstaat Georgia, hat das Virus als das USA-weit häufigste Enterovirus des vergangenen Jahres ausgemacht: "Das wäre dann eine Premiere", so der Experte. Die Analyse der Gensequenz von in St. Louis aufgetretenen Viren [2] zeigt, dass der in den USA zirkulierende EV-D68-Stamm besonders nahe mit einem Stamm verwandt ist, der im Jahr 2011 in Thailand eine Art von Lungenentzündung bei drei Kindern verursacht hatte [3].
Was spricht dafür, dass EV-68D die Lähmung auslöst?
Vor allem eine zeitliche Korrelation fällt ins Auge: Die Lähmungen traten stets gemeinsam mit größeren Ausbrüchen von EV-D68 auf, fasst Watson zusammen, der den Zusammenhang für das CDC-Virusteam untersucht. Forscher haben EV-68D im Nasensekret von acht der 41 Patienten nachweisen können, die nach Lähmungssymptomen darauf getestet wurden; bei neun weiteren Personen fand man zudem verwandte Viren [4].
Die "Lancet"-Studie unterfüttert den Verdacht weiter. Darin hatte ein Team um Samuel Dominguez vom Children’s Hospital Colorado in Aurora einen Cluster von 12 Fällen der Lähmungserscheinungen beschrieben, die zwischen August und Oktober 2014 aufzutreten begannen: Ziemlich plötzlich war die Zahl der Klinikbesuche wegen Symptomen von Atemwegserkrankungen nach oben gegangen. Acht von elf der betroffenen Kinder hatten Enteroviren im Nasensekret, fünf davon EV-D68. Zudem zeigten sich bei MRT-Untersuchungen merkwürdige Läsionen im Nervengewebe von Stammhirn und Rückenmark – eigentlich charakteristische Merkmale etwa von Polio und anderen Enteroviren. Der stärkste Hinweis auf die Verantwortung des Virus wäre aber, wenn die Erreger tatsächlich in der Zerebralflüssigkeit nachgewiesen würden, meint Watson. Das gelang allerdings bis dato weder dem Team um Dominguez noch anderen Medizinern.
Wie könnte man einen möglichen Zusammenhang noch bestätigen?
Es wäre denkbar, dass EV-D68 oder ein anderes Enterovirus eine Immunsystemantwort auslöst, die dann Kollateralschäden am Nervengewebe verursacht. Forscher vom University of Texas Southwestern Medical Center in Dallas möchten das Blut von Kindern mit Lähmungserscheinungen untersuchen, um darin möglicherweise schädliche Substanzen aufzuspüren. Testen würden sie dies an im Labor gezüchteten Motoneuronen, berichtet die "New York Times". Ein Team der Johns Hopkins University in Baltimore, Maryland, möchte die Genome von Betroffenen mit denen ihrer Geschwister vergleichen, um womöglich einer genetischen Ursache auf die Spur zu kommen. Weiter bleibt aber möglich, dass das gemeinsame Auftreten von EV-D68 und der Lähmungserkrankung rein zufällig war.
Lassen sich EV-D68-Infektionen behandeln?
Eine allgemein anerkannte Therapie gegen Enteroviren existiert nicht. Ein Team um den Virologen Michael Rossmann von der Purdue University in West Lafayette, Indiana, konnte den molekularen Aufbau von EV-D68 analysieren [5] und erkannte, dass ein derzeit noch nicht zugelassener Wirkstoff gegen andere Rhinoviren an einer Bindungsstelle des Virus andockt, die dieses während der Infektion benötigt. Die Substanz – Plecoranil – verhindert die Replikation der Rhinoviren in menschlichen Zellen. Ihre Entwicklung war aber nach ersten klinischen Tests abgebrochen worden, in denen sich gezeigt hatte, dass sie auch die durch gängige Empfängnisverhütungsmittel angestoßenen hormonellen Prozesse stört. Zwar wäre dies kein Problem, wenn der Wirkstoff bei Kindern eingesetzt wird, meint Rossmann – wahrscheinlich aber wären Pharmafirmen nicht an einer Weiterentwicklung interessiert, weil die geringen Fallzahlen den Einsatz unprofitabel machen könnten.
Kommen steigende Fallzahlen auf uns zu?
Die Gesundheitsbehörden werfen darauf derzeit einen sehr genauen Blick. Enteroviren zirkulieren ständig in der Bevölkerung, und die Zahl der Infektionen erreicht in Europa und Nordamerika normalerweise im Spätsommer und Herbst einen Höchststand. Alles deutet darauf hin, dass die Zahl neuer EV-D68-Fälle seit Oktober 2014 deutlich sinkt; es bleibt aber abzuwarten, ob das Virus im Herbst dieses Jahres ein Comeback erlebt. Bessere Testverfahren und eine flächendeckende Überwachung dürften der Forschung mit genaueren Daten helfen, glaubt die Genforscherin Kristine Wylie von der Washington University in St. Louis, Missouri, die die Sequenzierung von EV-D68 [2] geleitet hatte. "Alle warten darauf, was das kommende Jahr bringen wird: mehr dieser Viren – oder womöglich doch ganz andere?"Der Text ist im Original "Mystery childhood paralysis stumps researchers" in "Nature" erschienen.
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