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Quantengravitation: Neues Leben für eine alte Theorie von Allem

Seit Jahrzehnten suchen Physiker nach einer Quantentheorie der Gravitation. Jetzt stößt ein Ansatz aus den 1970er Jahren erneut auf das Interesse der Forscher.
Ein Pendel symbolisiert die Kraft, die zwischen zwei Massen wirkt

25 Teilchen und vier Kräfte. Das sind die Bestandteile des Standardmodells der Teilchenphysik, der bislang besten Beschreibung der Physik für Alles. Das Standardmodell ist übersichtlich und einfach – und trotzdem ist niemand so ganz glücklich damit. Denn eine der Kräfte fügt sich nicht recht in das Modell ein: Die Gravitation ist anders.

Im Gegensatz zu den anderen drei Kräften – der elektromagnetischen, der starken und der schwachen Wechselwirkung – beschreibt keine Quantentheorie die Gravitation. Das ist nicht einfach nur ästhetisch unbefriedigend, es ist auch ein mathematisches Problem, denn wir wissen, dass Teilchen sowohl Quanteneigenschaften als auch Gravitationsfelder besitzen. Deshalb müssen diese Gravitationsfelder ebenso wie die Teilchen, die sie erzeugen, Quanteneigenschaften aufweisen. Doch eine Quantengravitation zu formulieren, ist eine harte Nuss.

In den 1960ern versuchten Richard Feynman und Bryce DeWitt die Gravitation mit denselben Verfahren zu quantisieren, die sich bei der Umwandlung des Elektromagnetismus in die Quantenelektrodynamik als erfolgreich erwiesen hatten. Aber diese Methoden führten bei der Gravitation unglücklicherweise zu einer unendlichen Anzahl von Unendlichkeiten. Diese Form der Quantisierung der Gravitation galt daher als unheilbar krank, brauchbar lediglich als Näherungslösung für schwache Gravitationsfelder.

Sabine Hossenfelder | Sabine Hossenfelder forscht am Frankfurt Institute for Advanced Studies zur Phänomenologie der Quantengravitation.

Seither haben Physikerinnen und Physiker zahlreiche andere Versuche unternommen, die Gravitation zu quantisieren – angetrieben von der Hoffnung, eine Theorie zu finden, die auch für starke Gravitationsfelder funktioniert. Die Versuche, dieses Ziel zu erreichen, hören auf die Namen Stringtheorie, Schleifenquantengravitation, kausale dynamische Triangulation und einige andere. Bislang gibt es für keine dieser Theorien experimentelle Beweise. Jede hat mathematische Vor- und Nachteile – und es ist keine Annäherung an eine endgültige Theorie in Sicht. Während diese Ansätze im Wettstreit um die Aufmerksamkeit der Physiker liegen, ist jedoch plötzlich eine alte Rivalin wieder in den Ring gestiegen: die asymptotisch sichere Gravitation.

Eine Frage der Energie

Diese Theorie wurde 1978 von Steven Weinberg vorgeschlagen, der ein Jahr später gemeinsam mit Sheldon Lee Glashow und Abdus Salam den Physik-Nobelpreis für die Vereinigung von elektromagnetischer und schwacher Wechselwirkung erhielt. Weinberg erkannte, dass die Probleme bei der naiven Quantisierung der Gravitation keineswegs das Todesurteil für die Theorie sind. Zwar sieht es so aus, als ob die Theorie bei einer Extrapolation zu hohen Energien zusammenbreche – aber dieser Fall tritt möglicherweise niemals ein. Um jedoch zu ergründen, was wirklich passiert, mussten die Forscher auf neue mathematische Verfahren warten, die erst in jüngster Vergangenheit entwickelt wurden.

In Quantentheorien hängen alle Wechselwirkungen von der Energie ab, bei der sie stattfinden. Die Theorie verändert sich also energieabhängig, weil eine Wechselwirkung wichtiger, eine andere unwichtiger wird. Diese Veränderung lässt sich quantifizieren, indem man berechnet, wie die Parameter der Theorie von der Energie abhängen. Die starke Kernkraft beispielsweise ist schwach bei hohen Energien, weil ein als »Kopplungskonstante« bezeichneter Parameter dann gegen null geht. Diese Eigenschaft wird als »asymptotische Freiheit« bezeichnet und war 2004 einen weiteren Physik-Nobelpreis wert, der an Frank Wilczek, David Gross und David Politzer ging.

Eine asymptotisch freie Theorie zeigt auch bei hohen Energien ein anständiges Benehmen und verursacht dort keine Probleme. Zwar ist die Quantisierung der Gravitation nicht von dieser Art. Aber, wie Weinberg feststellte, reicht für die Quantengravitation ein schwächeres Kriterium aus: Die Forscher müssen die Theorie bei hohen Energien lediglich mit einer endlichen Anzahl von Parametern beschreiben. Im Gegensatz dazu erfordert die naive Extrapolation eine unendliche Anzahl Parameter. Außerdem sollte keiner dieser Parameter unendlich groß werden. Diese beiden Bedingungen – die Anzahl der Parameter bleibt endlich und die Parameter selbst bleiben ebenfalls endlich – macht eine Theorie »asymptotisch sicher«.

Brave Theorie in allen Lagen

Anders ausgedrückt, die Gravitation wäre asymptotisch sicher, wenn die Theorie sich bei hohen Energien genauso anständig verhält wie bei niedrigen Energien. Für sich allein genommen ist das keine große Erkenntnis. Weinbergs entscheidende Einsicht dabei ist vielmehr, dass dieses anständige Verhalten bei hohen Energien nicht zwangsläufig im Widerspruch zu dem steht, was wir bereits aus den Arbeiten von DeWitt und Feynman über die Theorie bei niedrigen Energien wissen.

Die Idee einer asymptotisch sicheren Gravitation ist bereits vier Jahrzehnte alt. Doch erst Forschungsarbeiten von Christof Wetterich von der Universität Heidelberg und Martin Reuter von der Universität Mainz führten Ende der 1990er Jahre zu einem wachsenden Interesse an der asymptotisch sicheren Gravitation. Wetterich und Reuter lieferten den mathematischen Formalismus, mit dem sich berechnen lässt, was mit der Quantentheorie der Gravitation bei hohen Energien geschieht. Das ermöglicht es, mit der Theorie bei niedrigen Energien zu beginnen und die neuen mathematischen Methoden zu benutzen, um herauszufinden, wie sich die asymptotische Sicherheit erreichen lässt.

Gravitation auf Quantenebene

Ist Gravitation also tatsächlich asymptotisch sicher? Bislang hat das niemand bewiesen, aber die Forscher haben eine Reihe unabhängiger Argumente, die dafür sprechen. Erstens zeigen Untersuchungen von Gravitationstheorien in Raumzeiten mit weniger Dimensionen – die sich einfacher durchführen lassen –, dass die Gravitation dort asymptotisch sicher ist. Zweitens unterstützen die Ergebnisse von Näherungsrechnungen die asymptotische Sicherheit. Und drittens haben Forscher ihre Methoden an einfacheren, nichtgravitativen Theorien getestet und dabei gezeigt, dass diese Methoden verlässlich sind.

Erste Vorhersagen

Das Hauptproblem bei dieser Herangehensweise ist, dass die Berechnungen im vollständigen (unendlichdimensionalen!) Theorieraum nicht möglich sind. Um die Berechnungen durchführbar zu machen, beschränken sich die Forscher auf einen kleinen Ausschnitt dieses Raums. Doch die so erhaltenen Ergebnisse liefern uns auch nur beschränkt Erkenntnisse. Obwohl also die vorhandenen Berechnungen konsistent mit der asymptotischen Sicherheit sind, sind diese Ergebnisse nicht beweiskräftig. Und es gibt noch eine weitere Frage, die bislang unbeantwortet geblieben ist: Selbst wenn die Theorie asymptotisch sicher ist, könnte sie bei hohen Energien physikalisch unsinnig werden, weil sie gegen essenzielle Elemente der Quantentheorie verstößt.

Trotzdem sind Physiker bereits in der Lage, die Ideen hinter der asymptotischen Sicherheit zu überprüfen. Denn wenn die Gravitation asymptotisch sicher ist, sich also bei hohen Energien anständig verhält, dann beschränkt das die Anzahl der Elementarteilchen, die existieren können. Und damit steht die asymptotisch sichere Gravitation im Widerspruch zu einigen anderen Ansätzen für eine große vereinheitlichte Theorie.

Verschmelzende Neutronensterne | Die Gravitationswellen zweier Neutronensterne könnten in den letzten Momenten der Kollision entscheidende Hinweise auf eine Quantentheorie der Gravitation geben.

Die einfachste Version der Supersymmetrie beispielsweise – eine lange Zeit populäre Theorie, die zu jedem bekannten Elementarteilchen die Existenz eines Partnerpartikels voraussagt – ist nicht asymptotisch sicher. Auch Experimente am LHC haben diese einfachste Form der Supersymmetrie ebenso wie eine Reihe anderer Ergänzungen des Standardmodells inzwischen ausgeschlossen. Doch die Physiker hätten allein durch die Untersuchung des asymptotischen Verhaltens diese Theorien bereits als nicht erfolgversprechend verwerfen können.

Eine weitere Untersuchung zeigte kürzlich, dass die asymptotische Sicherheit auch zu Beschränkungen der Massen der Elementarteilchen führt: Die Massendifferenz zwischen Top- und Bottom-Quark darf einen bestimmten Wert nicht überschreiten. Wäre die Masse des Top-Quarks also nicht bereits gemessen worden, so könnte man sie aus der asymptotischen Sicherheit vorhersagen.

Schlüssel zu verborgenen Realitäten?

All diese Berechnungen basieren auf Näherungen, die sich als nicht vollständig gerechtfertigt erweisen könnten. Sie zeigen gleichwohl, wie mächtig die angewendete Methode ist. Die wichtigste Schlussfolgerung ist, dass die Physik bei Energien, bei denen die Wechselwirkungen vereinigt sind – Energien, die gemeinhin als experimentell hoffnungslos unerreichbar gelten –, mit der Physik bei niedrigen Energien verwoben ist. Die Forderung nach asymptotischer Sicherheit verbindet beide Bereiche.

Wann immer ich mit Kollegen spreche, die selbst nicht auf dem Gebiet der asymptotisch sicheren Gravitation arbeiten, bezeichnen sie diesen Ansatz als »enttäuschend«. Diese Auffassung basiert meiner Ansicht nach auf der Vorstellung, aus der asymptotisch sicheren Gravitation lasse sich nichts Neues lernen, bei ihr passiere in allen Energiebereichen ein und dasselbe, nichts als weitere Quantenfeldtheorie, alles »business as usual«.

Doch die asymptotische Sicherheit liefert uns nicht nur eine Verbindung zwischen experimentell erreichbaren niedrigen Energien und unerreichbar hohen Energien, wie in den obigen Beispielen geschildert. Der Ansatz erweist sich darüber hinaus als nicht notwendigerweise im Widerspruch mit anderen Ansätzen zur Quantisierung der Gravitation. Denn die für die asymptotische Sicherheit zentral notwendige Extrapolation schließt nicht aus, dass es eine grundlegendere Beschreibung der Raumzeit gibt – etwa mit Strings oder einem Netz von Knoten –, die sich erst bei hohen Energien zeigt. Weit entfernt davon, enttäuschend zu sein, könnte die asymptotische Sicherheit sich uns als eine Möglichkeit erschließen, endlich das bekannte Universum mit dem Quantenverhalten der Raumzeit zu verbinden.

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