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Neuroathletik: Macht Gehirntraining den Unterschied im Spitzensport?

Sportprofis wie Alexander Zverev schwören darauf: Neuroathletik. Die spezielle Trainingsmethode stellt das Nervensystem der Sportlerinnen und Sportler in den Fokus. Kann neurozentriertes Training womöglich über Sieg und Niederlage entscheiden?
Alexander Zverev rennt im Halbfinale der French Open gegen Casper Ruud einem Ball entgegen..
Der Tennisspieler Alexander Zverev ist nur einer von vielen Sportprofis, die auf Neuroathletik setzen, um ihre sportlichen Leistungen zu steigern.

48 Stunden in Miami – länger ist der Sportwissenschaftler Lars Lienhard Mitte März 2023 nicht vor Ort, um Deutschlands besten Tennisspieler Alexander Zverev zu trainieren. Der Tennisprofi steht nach einer monatelangen Pause erst seit Kurzem wieder auf dem Platz. Im Juni 2022 ist Alexander Zverev auf dem bisherigen Höhepunkt seiner Karriere: Olympiasieger und Nummer zwei der Welt. Doch im Halbfinale der French Open schreit Zverev plötzlich auf. Er knickt mit dem rechten Fuß um. Sieben Bänder reißen. Es folgen Operation und lange Reha; nach sieben Monaten kehrt er nun langsam in den Spitzensport zurück. Doch was kann Lars Lienhard Wertvolles bieten, dass Alexander Zverev ihn extra für ein paar Stunden nach Miami einfliegen lässt?

Wenige Tage zuvor erklärt der ehemalige Leistungssportler Lienhard den Kern seines Trainingsansatzes während eines Workshops in Reutlingen: »Laut klassischer Bewegungslehre ist Kraft ein körperliches Attribut und dessen zentralnervöse Steuerung spielt nur eine untergeordnete Rolle. Das stimmt aber nicht«, sagt er. »Muskeln führen nur die Bewegungsmuster aus, die das Gehirn ihnen aufträgt.« Der Bonner Sportwissenschaftler stellt das Nervensystem ins Zentrum seines Trainings. »Neuroathletik« heißt seine Trainingsmethode, die laut seiner Website auf revolutionären neurowissenschaftlichen Erkenntnissen basiert.

Neben Zverev trainiert Lienhard seit Jahren auch zahlreiche andere Profisportler, so etwa Fußballer Per Mertesacker, Kugelstoßerin Christina Schwanitz, Handballer Dominik Klein, Rodlerin Tatjana Hüfner oder 100-Meter-Sprinterin Gina Lückenkemper – allesamt Europa- und Weltmeister. Lars Lienhard betont, dass Neuroathletiktraining, kurz NAT, keine herkömmlichen Trainingspläne ersetze: »Gutes Training muss immer Elemente von Koordination, Kraft und Ausdauer enthalten. NAT verschiebt nur den Fokus.« Oft stagnieren Hochleistungssportlerinnen und -sportler an ihrer Leistungsgrenze. Wie erreichen sie mehr, werden schneller, springen höher, werfen weiter? Indem man ihnen unbekannte Trainingsreize setzt, sagen Sportwissenschaftler.

Gehirntraining für Spitzensportler

Das Besondere an NAT: Es beruft sich auf neuronale Plastizität, nimmt also an, dass das Gehirn ähnlich wie ein Muskel durch Training veränderbar ist. Diese Fähigkeit des Gehirns, sich zu reorganisieren, begleitet uns ein Leben lang. Denn sie spielt eine entscheidende Rolle, wenn wir etwas Neues lernen oder uns einprägen wollen. Durch Training werden bestimmte Verbindungen zwischen den Nervenzellen stärker, andere ohne Training womöglich schwächer. Neuroplastizität kann auch helfen, wenn unser Hirn Schaden nimmt, beispielsweise durch einen Schlaganfall. Manche Hirnschäden kann der Körper kompensieren, indem er die Funktionen des nun beschädigten Bereichs in andere Hirnareale verlegt. Doch inwiefern spielt die Formbarkeit des Gehirns für Sportlerinnen und Sportler eine Rolle?

Lienhards Ansatz ist es, durch Neuroathletiktraining die Kommunikation zwischen Gehirn und Körper zu verbessern und damit auch die Leistungsfähigkeit. Eine gute Leistung ist laut ihm nur möglich, wenn der Sportler oder die Sportlerin ausreichend hochwertige Informationen aus den Sinnesorganen erhält und das Gehirn jene Signale optimal analysiert und interpretiert. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, komme es zu Leistungseinschränkungen, so Lienhard.

Der erste Schritt in Lars Lienhards Training sind demnach spezifische Bewegungs- und Wahrnehmungstests. Mit ihnen will er feststellen, ob die Sportlerin oder der Sportler bei bestimmten Aufgaben ein Defizit hat. Im zweiten Schritt versucht er, mit einem individuellen Training gezielt die dafür verantwortlichen Hirnareale zu aktivieren, um funktionelle und anatomische Anpassungen des Gehirns an diesen Stellen hervorzurufen. Lars Lienhard prüft, wie sich das vestibuläre, das visuelle und das propriozeptive System der Sportprofis verhält, also der Gleichgewichtssinn, der Sehsinn sowie die Wahrnehmung der eigenen Körperhaltung im Raum – und wie das Gehirn diese Informationen besser kombinieren und verarbeiten kann.

Für Außenstehende mag das mitunter merkwürdig wirken. So lässt Lienhard seine Schützlinge den Kopf schütteln und nicken, die Augen kreisen oder den Finger anschauen, während er immer näher zur Nase geführt wird. Liegestütze für die Augen nennt er das. Für jedes Informationssystem des Körpers steht ihm eine Vielfalt an Trainingsmethoden zur Verfügung. Großes Ziel sei es, so Lienhard, dass das Gehirn durch gezieltes Training einen besseren Bewegungsentwurf lernt, den die Muskeln dann ausführen. »Die Qualität der Bewegung steigt. Dadurch ist mehr körperliche Leistung möglich«, fasst Lars Lienhard zusammen. »Bringt unser Training dann einen Prozentpunkt mehr Leistung – in einem Bereich mit einer enorm hohen Leistungsdichte –, bedeutet es den Unterschied zwischen Niederlage und Sieg.« Gemeinsam mit seiner Frau, der ehemaligen Leistungstänzerin Ulla Lienhard, schrieb er ab 2018 die ersten Bücher zur Neuroathletik für den deutschen Markt. Neben der Leistungssteigerung seien weitere Ziele des Neuroathletiktrainings, Verletzungsrisiken zu minimieren, erlittene Verletzungen schneller zu rehabilitieren, Schmerzzustände zu beeinflussen und Stresssituationen besser zu bewältigen.

»Der Begriff ›Neuro‹ klingt vor allem sexy und ist verkaufsfördernd«Stefan Schneider, Sportmediziner

Auch Stefan Schneider ist in der Weiterentwicklung gesundheitsorientierter Sport- und Bewegungsprogramme federführend. Der Sportwissenschaftler leitet an der Deutschen Sporthochschule Köln das Zentrum für integrative Physiologie im Weltraum (ZiP) und liefert europäischen Astronauten die wissenschaftlichen Grundlagen für ihr Training. »Moderne Trainingskonzepte betrachten neben den biomechanischen und physiologischen Ebenen auch die Psyche, die Motivation, die Ernährung und das soziale Umfeld von Athleten.« Hinter NAT stecke für ihn nicht mehr als ein seit Jahrzehnten gängiges Training der Sensomotorik. Am Beispiel des Dreisprungs erklärt er: »Blicken Athleten nach oben, richtet sich ihr Oberkörper auf, die Hüfte streckt sich und sie springen höher ab. Das lässt sich natürlich als Neuroathletiktraining bezeichnen, schließlich sind bei der Blickführung Neurone beteiligt. Doch der Begriff ›Neuro‹ klingt vor allem sexy und ist verkaufsfördernd.« Für ihn suggeriere der Begriff nur ein modernes Trainingskonzept. Revolutionär sei es jedoch nicht, da es in der Trainingspraxis schon lange angewendet werde.

Tatsächlich erschien bereits 1968 ein Handbuch mit dem Titel »Daily Sensorimotor Training Activities«, das die NAT-Grundideen enthält. Allerdings richtete es sich an Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern, um die sensomotorischen Fähigkeiten von Kindern zu trainieren. Anfang der 2000er Jahre hat wiederum der US-Chiropraktiker Eric Cobb sein Unternehmen Z-Health gegründet. Cobb integriert Inhalte der funktionellen Neurologie in klassisches Athletiktraining und bietet neben Trainingsprogrammen auch Ausbildungen für Menschen an, die sich auf neurozentriertes Training spezialisieren wollen. Einer seiner ersten Schüler war Lars Lienhard. Gemeinsam schrieben sie das Buch »Neuronale Heilung«. Lienhard ist es, der das Konzept seit 2010 unter dem Namen Neuroathletik im deutschsprachigen Raum verbreitet.

Evidenz oder …

Während zahlreiche Profisportlerinnen und -sportler Lienhards Trainingskonzept folgen, macht Stefan Schneider auf einen Knackpunkt aufmerksam: »Welche Neuroübung verbessert tatsächlich die Performance und was ist vielmehr auf einen motivationalen Placeboeffekt zurückzuführen?« Eine Abgrenzung ist oft schwierig. Meist liegen nur anekdotische Berichte vor, evidenzbasierte Forschungsarbeiten fehlen. Als wissenschaftlich valide haben sich allerdings beispielsweise lebensgroße Videosimulationen erwiesen, die Schlüsselsituationen sportlicher Wettkämpfe nachstellen. Werden sie etwa ins Tennistraining eingebunden, lernen Leistungssportlerinnen und -sportler, die Bewegungsrichtung ihrer Kontrahenten vorauszusehen. Auch zum Quiet Eye – also der Dauer des allerletzten Blicks vor einer Bewegungsausführung – existieren Publikationen. Es entscheidet maßgeblich darüber, wie gut ein Ziel etwa beim Dart oder im Basketball getroffen wird. Entsprechende Blickstrategien lassen sich trainieren. Ebenso wirkt sich visuelles Training positiv auf die Tiefenwahrnehmung und die Reaktionszeit aus und reduziert die Häufigkeit von Gehirnerschütterungen bei Baseball- und Footballspielern.

»Die Zunge liefert mehr sensorische Informationen ans Gehirn als der gesamte Rumpf. Wird sie stimuliert, aktiviert das wichtige motorische Bereiche und Nerven im Stammhirn«Ulla Lienhard, ehemalige Leistungstänzerin und Mitgründerin der Neuro Athletic Training GmbH

Schwierig ist eine Einschätzung, wenn es an wissenschaftlichen Studien zur Trainingseffizienz mangelt. Zwar beruhen die Annahmen der Neuroathletik auf neurowissenschaftlicher Grundlagenforschung, sie werden in der Anwendung aber unterschiedlich interpretiert. Im Rahmen ihres Neuroathletiktrainings leckt 100-Meter-Europameisterin Gina Lückenkemper beispielsweise an einer Neun-Volt-Batterie. Dabei geschieht laut Ulla Lienhard Folgendes: »Die Zunge liefert mehr sensorische Informationen ans Gehirn als der gesamte Rumpf. Wird sie stimuliert, aktiviert das wichtige motorische Bereiche und Nerven im Stammhirn.« Die Athletin würde deshalb im Anschluss trainierte Bewegungsmuster schneller erlernen und diese nachhaltiger abrufen können. Tatsächlich dient die Zunge als effektive Schnittstelle, um elektrische Signale an das zentrale Nervensystem zu senden. In einer Pilotstudie mit 20 Multiple-Sklerose-Patientinnen und -Patienten verstärkte ein solches sensorisches Vorbahnen, wie es Lienhard nennt, Übungen, die das Gangbild verbessern. Die US-Arzneimittelbehörde hat 2021 einen Neuromodulationsstimulator der Zunge zur Behandlung von Gangstörungen genehmigt. Der Neurowissenschaftler Stefan Schneider ist nicht überzeugt: »Batterien zu lecken, fokussiert Aufmerksamkeit und konditioniert den Körper auf die Wettkampfsituation. Das ist nicht mehr als ein klassischer pawlowscher Reflex.«

Batterie lecken für den Erfolg | Die zweifache Europameisterin Gina Lückenkemper hat 2016 erstmals mit Lars Lienhard zusammengearbeitet. Ein Inhalt ihres Trainings war unter anderem, vor bestimmten Einheiten an einer Neun-Volt-Batterie zu lecken. Auch eine Augenklappe kommt bei manchen Trainings zum Einsatz.

… Placebo?

Ähnlich kritisch sieht er andere Studien, auf die NAT-Befürworter verweisen. So erreichten 18 Studienteilnehmer bei Extensions- und Flexionsübungen ihrer Knie ein 30 Prozent höheres Drehmoment, wenn sie ihre Zunge an den Gaumen drückten. Erneut soll die Zunge motorische Gehirnareale aktivieren. »Bei Kraftanstrengungen pressen wir die Luft in der Lunge unwillkürlich zusammen – ähnlich einem Valsalva-Manöver«, sagt Stefan Schneider. Bei dieser Atemtechnik, die jeder von uns vom Druckausgleich im Flugzeug kennt, legt man die Zunge an den Gaumen und verschließt den Ausgang der Luftröhre, um durch Anspannung der Atemmuskulatur Druck aufzubauen. »Daraus lässt sich aber nicht folgern, dass vorherige Zungenübungen einen kausalen Effekt auf eine spätere Kraftanstrengung haben«, sagt Stefan Schneider. Fakt ist: Bisher existieren keinerlei wissenschaftliche Studien, die bildgebend, physiologisch oder auf Basis von Neurotransmittern die Trainingseffekte belegen, die NAT-Befürworter im zentralen Nervensystem postulieren.

Ulla Lienhard widerspricht nicht: »Die Wirksamkeit von Neuroathletiktraining ist nicht ausreichend untersucht. Dies ist aber nicht Aufgabe der Anwender der Methodik, sondern der Universitäten und Forschungsinstitute.« Was macht ein Überprüfen so schwierig? Stefan Schneider sagt, dass die Fallzahlen das Problem seien. »In der Wissenschaft quantifizieren und standardisieren wir über eine große Anzahl an Testpersonen, aber im Hochleistungssport ist nichts standardisiert.« Trainingspläne seien so individuell, dass sie für jeden Sportler neu gedacht werden müssen. »Höchstleistung lässt sich eben nur über individuelle Förderung rauskitzeln. Das verhindert oftmals eine wissenschaftliche Herangehensweise«, sagt Stefan Schneider.

Nicht über Nacht

30 bis 40 Tage dauert es, bis sich das Nervensystem an neue Reize anpasst, wenn die Trainingsübung regelmäßig ausgeführt wird. Um die Effizienz eines Neurotrainings zu quantifizieren, müssten alle anderen Einflussfaktoren – von sonstigen Trainingseinheiten über Ernährung bis hin zum Schlafrhythmus – während dieser Zeit konstant bleiben. Im Individualsport ist das unmöglich.

Einfacher wäre es im Nachwuchsbereich und im Mannschaftssport. Auch hier gibt es bislang noch keine groß angelegten Studien. »Die Herausforderung besteht darin, genug Mannschaften aus dem Leistungssport für eine valide Aussage zu gewinnen«, sagt Jan-Ingwer Callsen-Bracker. Der ehemalige Bundesligaprofi baut in der Akademie des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) seit 2019 den Bereich neurozentriertes Training auf. Seit 2021 ist er Teil des Trainerstabs der deutschen Fußballnationalmannschaft der Frauen. In Zusammenarbeit mit der Universität des Saarlandes und der Universität Paderborn rekrutierte die DFB-Akademie zwei Regionalliga-Mannschaften, um ihr neurozentriertes Training auf eine wissenschaftliche Basis zu setzen. Beide Mannschaften absolvierten über 28 Wochen ein randomisiertes und standardisiertes Programm an Neuroübungen für die Blickführung, das Körpergefühl und das Gleichgewicht. Regelmäßig wurden ihre visuelle Wahrnehmungsfähigkeit bei Bewegungen, ihre vestibulären Funktionen und ihre Fähigkeit, Bälle anzunehmen und präzise zu passen, gemessen. Die Studienergebnisse sollen noch 2023 vorgestellt werden.

»Bisher hat sich Neuroathletik als nicht quantifizierbar erwiesen. Noch bleibt es anekdotisch, was aber nicht heißt, dass es nicht funktioniert!«Stefan Schneider, Sportmediziner

Der Kölner Sportmediziner Stefan Schneider resümiert: »Bisher hat sich Neuroathletik als nicht quantifizierbar erwiesen. Noch bleibt es anekdotisch, was aber nicht heißt, dass es nicht funktioniert!« Schließlich basierten die wenigsten Trainingsmethoden auf wissenschaftlich fundierten Wirksamkeitsstudien an hunderten Teilnehmern. Trainern bleibt nichts anderes übrig, als ihren Erfolg am Trainingsfortschritt ihrer Schützlinge zu messen. So verweisen Ulla und Lars Lienhard auf tausende Trainingseinheiten, in denen sich die Defizite ihrer Athleten messbar besserten. Jan-Ingwer Callsen-Bracker führt die positiven Rückmeldungen von Spielerinnen und der medizinischen Abteilung der Frauenfußballnationalmannschaft an. Martina Voss-Tecklenburg, bis November 2023 Bundestrainerin, erklärte: »Wir sind von Jans Detailarbeit in den letzten zwei Jahren total überzeugt. Er hilft vielen Spielerinnen beim Lösen von Kompensationsmustern. Dadurch leistet er einen wertvollen Beitrag zur Leistungsoptimierung.«

Jan-Ingwer Callsen-Bracker | Der Neuroathletiktrainer arbeitet unter anderem mit Spielerinnen der deutschen Fußballnationalmannschaft, hier mit Klara Bühl vom FC Bayern München.

Revolution oder Evolution?

Kurzum: Die multifaktorielle Natur moderner Trainingskonzepte lässt im Dunkeln, welche Trainingsform wie viel Prozentanteile zum Fitnesserfolg beisteuert. So hat Alexander Zverev nach seinem in Paris 2022 erlittenen siebenfachen Bänderriss mittlerweile zu seiner alten Form zurückgefunden. Ein Jahr nach seiner Verletzung stand er wieder im Halbfinale der French Open 2023, musste sich dann allerdings geschlagen geben. Beruht dieser Erfolg nach langer Verletzungspause auch auf Lienhards Neurotraining? Eine Antwort ist schwierig. Was Neuroathletik aber mit Sicherheit ermöglicht, ist ein Perspektivenwechsel. Es verändert die Sichtweise auf Bewegung und Sport – und auf die Art, wie sich Bewegungsqualität und Leistungsfähigkeit beeinflussen lassen. Sowohl Lienhard als auch Callsen-Bracker sehen Neuroathletik weniger als Revolution, sondern mehr als Evolution.

Was bedeutet das für den Hobbysportler? »Nur anhand einer individuellen Anamnese und der Verletzungshistorie lässt sich erkennen, wo Neuroathletiktraining ansetzen sollte. Denn jeder Mensch reagiert anders. Was für den einen funktioniert, gilt nicht zwangsläufig für den anderen«, sagt Lars Lienhard. Callsen-Bracker stimmt zu: »Effektiv ist nur ein spezifisches Individualtraining mit klarer Zielsetzung nach einer vorangegangenen Diagnostik.« Neuroübungen, die sich für alle Sportarten und Leistungsstufen eignen, existieren nicht. Entsprechend raten beide Trainer von Youtube-Videos à la »Die drei besten Wege, um …« ab. Interessierte Hobbysportlerinnen und -sportler wenden sich am besten an eine Person vom Fach, deren Referenzen über Instagram-Kanäle hinausgehen. Denn Neuroathletiktrainer ist kein geschützter Berufstitel. Jeder kann sich so nennen. Virtuelle Angebote halten meist nicht, was sie versprechen (siehe Infokasten).

Das sieht auch Stefan Schneider so: »Für wissenschaftliche Expertise sind Sportinstitute von Universitäten die besten Ansprechpartner. Denn sie orientieren sich nicht primär an Klickraten und wirtschaftlichem Erfolg, sondern sind dem Erkenntnisgewinn verpflichtet.« Wer mehr für seine Gesundheit machen möchte, wendet sich laut Schneider am besten an die Sportvereine vor Ort: »Für Fitness- und Freizeitsportlerinnen und -sportler machen sie sehr gute Angebote. Darüber hinaus kann man sich für ein paar Wochen ja mal einen Personal Trainer nehmen, der ganzheitlich berät und nach persönlichen Zielen und Defiziten schaut.«

Lässt sich sportliche Leistungsfähigkeit virtuell verbessern?

Gehirntrainingsprogramme von Anbietern wie BrainHQ, CogniFit, Cogmed, Dynavision, Lumosity oder Neurotracker drillen das Arbeitsgedächtnis, die selektive Aufmerksamkeit, die Bewegungswahrnehmung oder die Fähigkeit, schnelle Entscheidungen zu treffen – also für den sportlichen Wettkampf wertvolle Fähigkeiten. Entsprechend locken sie auch Sportlerinnen und Sportler an.

Vorsicht ist trotzdem geboten: Die Marketingaussagen der meisten Anbieter suggerieren mehr, als ihre Produkte trotz angeblicher wissenschaftlicher Validierung halten. Selten existieren handfeste Beweise, dass sich die Verwendung ihrer Produkte auf sportliche Szenarien übertragen lässt. Oft treffen angepriesene Studien Aussagen auf Basis weniger Versuchspersonen, werten nicht aus, ob Lerneffekte noch nach Wochen bestehen, oder wurden nicht von kommerziell unabhängigen Forschern überprüft. Auch fußen sie häufig auf Eigenberichten von Teilnehmenden, so dass Placeboeffekte nicht auszuschließen sind.

Kurz gesagt: Gehirntrainings-Apps für den Sportbereich machen Spaß und verbessern spezifisch die trainierten virtuellen Fähigkeiten. Für reale Wettkampfvorteile existiert allerdings kaum wissenschaftliche Evidenz.

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