Teilchenphysik: Unentdeckte Energiezustände sollen Neutronenrätsel lösen
Die Bausteine unserer Welt sind instabil. Neutronen, die zusammen mit Protonen in den Kernen von Atomen stecken, zerfallen. Sobald man sie aus dem Atomkern befreit, überdauern sie im Durchschnitt lediglich knapp eine Viertelstunde – wie lang genau, das versuchen Fachleute seit den 1990er Jahren mit ausgeklügelten Experimenten zu beziffern. Doch je nach Messverfahren unterscheiden sich die Werte deutlich voneinander. Manche vermuten gar das Werk unbekannter Teilchen und wähnen hinter dem »Neutronenrätsel« eine der spannendsten Fährten auf der Suche nach neuer Physik.
Jetzt haben die theoretischen Physiker Benjamin Koch und Felix Hummel von der TU Wien eine mögliche Lösung vorgestellt. Ihrer im Oktober 2024 erschienenen Fachpublikation zufolge könnte die Diskrepanz daran liegen, dass das Neutron bislang unentdeckte energiereichere Zustände einnehmen kann. Ein solches angeregtes Neutron würde etwas länger leben als sein normales Gegenstück, und je nach Untersuchungsmethode schlüge sich das unterschiedlich in den Daten nieder.
Bei der Vermessung des Neutrons gibt es zwei grundverschiedene Ansätze. Der eine basiert auf Teilchenstrahlen. Hier strömen Neutronen langsam durch ein elektromagnetisches Feld. Wegen ihrer neutralen Ladung spüren sie es nicht. Doch sobald sie auf dem Weg zerfallen, entstehen geladene Teilchen, die vom Feld eingefangen und gezählt werden. Das zweite Konzept beruht auf so genannten Flaschenfallen. Einmal hineinbeförderte Neutronen bleiben dort gespeichert, bis sie zerfallen. Wenn man zu verschiedenen Zeitpunkten nachschaut, wie viele Neutronen noch in der Flasche übrig sind, kann man daraus ihre Lebensdauer berechnen.
Seit inzwischen drei Jahrzehnten zeigt sich bei allen derartigen Experimenten: Neutronen überdauern in einem Teilchenstrahl rund zehn Sekunden länger als in einer Flasche. Die Diskrepanz scheint nicht darauf zu beruhen, dass eines der beiden konkurrierenden Konzepte mangelhaft wäre. Die jeweiligen Teams haben ihre Techniken im Lauf der letzten Jahrzehnte stetig verbessert und gründlich auf mögliche systematische Fehler abgeklopft. So sanken die Ungenauigkeiten – aber der Unterschied blieb bestehen.
Nun vermuten Koch und Hummel die Ursache bei angeregten Zuständen des Neutrons. Anregungen sind in der Atomphysik grundsätzlich wohlbekannt. So stecken Atome, die zuvor aufgenommene Energie abgeben, hinter dem Leuchten von Polarlichtern und Feuerwerk. Doch im Fall von Neutronen, spekulieren die beiden in ihrer Veröffentlichung, könnten solche Anregungen im starken Verbund des Atomkerns nicht stattfinden. Sie würden sich nur bei den freien Teilchen bemerkbar machen. In einem solchen angeregten Zustand unterschiede sich dann die Zerfallswahrscheinlichkeit von derjenigen eines Neutrons im normalen Grundzustand.
Kleiner Energieunterschied mit großer Wirkung
Das würde erklären, warum Neutronen im Teilchenstrahl länger leben. Denn dort landen sie nur wenige Millisekunden nach ihrer Erzeugung, und viele von ihnen befinden sich demnach noch im angeregten Zustand, der ihren Zerfall verzögert. Bei der Flaschenfalle hingegen dauert es einige Minuten, bis sich die Neutronen dort ansammeln und die Messungen überhaupt beginnen können. Bis dahin wären praktisch alle Neutronen bereits im Grundzustand.
Anhand der Diskrepanzen aus den Strahl- und Flaschenexperimenten berechneten die beiden Physiker, wie lange solch ein angeregter Zustand anhalten müsste, um sich entsprechend auszuwirken: mindestens einige Millisekunden, höchstens wenige hundert Sekunden. Nun hoffen sie auf Laborversuche, die den hypothetischen Effekt berücksichtigen (und so die Messzeit-Diskrepanz beseitigen) oder ihn sogar gezielt aufspüren. Dazu machen sie in ihrer Publikation mehrere Vorschläge. Beispielsweise könnten die Teilchenstrahl-Teams ihren Aufbau so auslegen, dass sie erst zu späteren Zeitpunkten Daten nehmen, wenn die Anregung abgeklungen ist. Oder andersherum könnten die Flaschenfallen-Arbeitsgruppen früher nachschauen, um noch angeregte Neutronen zu erwischen. Möglicherweise ließen sich außerdem die elektromagnetischen Signaturen des Übergangs vom angeregten in den Grundzustand direkt detektieren – oder umgekehrt die Neutronen mit entsprechender Strahlung gezielt wieder anregen.
Wie konnte eine solche fundamentale Eigenschaft eines derart allgegenwärtigen Teilchens bislang übersehen werden?
Aber warum wäre eine solche grundlegende Eigenschaft eines derart allgegenwärtigen und umfassend untersuchten Teilchens wie dem Neutron bislang überhaupt übersehen worden? Koch und Hummel führen dafür einige Gründe an, die sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen: Es wurde schlicht nie gezielt danach gesucht. Unter den Eigenheiten diverser Experimente könnten die angeregten Neutronenzustände nicht aufgefallen sein, weil das Augenmerk auf anderen Effekten lag. Eventuell tauchen verdächtige Signale sogar in vorhandenen Daten auf, wenn man danach Ausschau hält; oder speziell darauf ausgelegte neue Messkampagnen sollten rasch fündig werden.
Wenn die Forscher mit ihrer Hypothese Recht behalten, würde die Lösung des Neutronenrätsels zwar keine völlig fremdartigen Teilchen offenbaren, aber sie wäre immer noch deutlich spannender als irgendein unerkannter systematischer Fehler ganz ohne neue Physik (das wiederum ist in der Teilchenphysik ein ebenso häufiges wie ernüchterndes Fazit). Die Konsequenzen würden im Wortsinn weit reichen: Schließlich sind Neutronen bereits Sekundenbruchteile nach dem Urknall massenhaft entstanden. Wenn sie andere Energien tragen können als bisher bekannt, hätte das somit nicht nur Auswirkungen auf die Modelle unserer heutigen Welt, sondern auch auf jene zur frühen Entwicklung des Kosmos.
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