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Neutronenzerfall: Doppelt so genau, aber genau so rätselhaft

Zwei Verfahren, zwei grundverschiedene Messergebnisse. Das jüngste Resultat einer Forschergruppe ist ein Wunder an Präzision, doch es hilft weniger weit als erhofft.
Magnetarray des UCNτ-Experiments am Los Alamos National National Laboratory

Ein Forscherteam hat die durchschnittliche Lebensdauer des Neutrons so genau wie nie zuvor gemessen. Demnach braucht das subatomare Teilchen im Schnitt 877,75 Sekunden, bis es zerfällt. Das zeigen Messungen an ultrakalten Neutronen, die in Magnetfeldern eingefangen wurden.

Auch wenn die Ergebnisse doppelt so genau sind wie die ähnlicher Messungen und gut mit den theoretischen Berechnungen übereinstimmen, können sie ein Grundproblem der Forschung nicht lösen: die Frage, warum sich die Neutronen bei einer anderen Art von Experiment fast zehn Sekunden länger dem Zerfall widersetzen.

Die neueste Messung wurde am 13. Oktober auf einer virtuellen Tagung der American Physical Society vorgestellt und im Fachmagazin »Physical Review Letters« veröffentlicht. Das Ergebnis sei sehr beeindruckend, sagt die Physikerin Shannon Hoogerheide, die am US National Institute of Standards and Technology (NIST) in Gaithersburg, Maryland, die Lebensdauer von Neutronen mit der konkurrierenden Technik misst.

Die meisten Neutronen kommen in der Natur in Atomkernen vor, wo sie, sofern diese nicht radioaktiv sind, praktisch ewig bestehen bleiben. Isolierte Neutronen jedoch, die etwa bei der Kernspaltung entstehen, sind instabil und zerfallen zu Protonen. Bei diesem Prozess gibt jedes zerfallende Neutron ein Elektron und ein Antineutrino ab.

Wie lange es genau dauert, bis ein Neutron zerfällt, ist vom Zufall abhängig. Im Schnitt aber ist der Zerfallsprozess nach gut einer Viertelstunde abgeschlossen. Um genau zu wissen, wie lange es dauert, bauten Daniel Salvat, ein experimenteller Kernphysiker an der University of Indiana in Bloomington, und seine Gruppe ein Experiment namens UCNτ am Los Alamos National Laboratory in New Mexico auf. Sie verlangsamten die Neutronen auf ultrakalte Temperaturen und platzierten sie in einer Vakuum-»Flasche«, einer Metallstruktur, die wie die Halfpipe beim Skateboardfahren geformt ist. Magnetische Felder am Boden der Flasche stellten sicher, dass die Neutronen nicht in der Oberfläche verschwanden.

Der Geist in der Flasche

Das Team hielt die Neutronen zwischen 20 Sekunden und fast einer halben Stunde in der Flasche. Immer wenn ein Neutron zerfiel, registrierten sie einen Lichtblitz. Am Ende eines jeden Zyklus sammelten und zählten sie die verbleibenden Neutronen, füllten die Flasche mit frischen Neutronen und begannen den Prozess von Neuem.

UCNτ begann vor mehr als zehn Jahren, aber für die jetzt bekannt gegebenen Ergebnisse – basierend auf Versuchsläufen in den Jahren 2017 und 2018 – nahm das Team mehrere Verbesserungen vor, die es ihnen ermöglichten, ihre Fehlermargen zu halbieren.

Die Messgenauigkeit liegt nun in einem Bereich, in dem der Wert mit den Vorhersagen der Theorie abgeglichen werden kann. Auch das Standardmodell der Teilchenphysik sagt einen Neutronenzerfall voraus und gibt einen Wert dafür an. Werden die Messergebnisse noch präziser, können Forscher sogar mit ihren Experimenten die Richtigkeit der Theorie überprüfen, meint Salvat.

Doch die Sache hat einen Haken: Neben der »Flaschentechnik« zur Messung der Neutronenlebensdauer gibt es noch die »Strahlmethode«, wie sie beispielsweise Hoogerheide verwendet. Dabei wird der Zerfall der Teilchen bestimmt, während sich diese in einem Strahl bewegen. Bis vor etwa 15 Jahren stimmten die Ergebnisse dieser beiden Arten von Experimenten innerhalb ihrer Fehlergrenzen weitgehend überein. Doch als die Methoden immer präziser wurden, begannen sie, getrennte Wege zu gehen. Die Neutronen in Strahlen scheinen im Durchschnitt länger zu leben: ungefähr neun bis zehn Sekunden.

Beeinflusst »neue Physik« das Zerfallsgeschehen?

Warum das so ist, ist offen. An der Geschwindigkeit der Neutronen im Strahl kann es nicht liegen, sie werden so weit heruntergekühlt, dass relativistische Effekte, wie sie etwa die Lebensdauer von Myonen verlängern, vernachlässigbar sind. Und so gilt der Neutronenzerfall manchen inzwischen als eins der größten Rätsel der modernen Physik. Eine Antwort könnte womöglich Hinweise auf noch unverstandene physikalische Phänomene geben, beispielsweise haben Fachleute bereits darüber spekuliert, dass sich einige Neutronen beim Zerfall in Dunkle-Materie-Teilchen umwandeln. Das würde bei der Messung in der Flasche eine kürzere Lebensdauer vorgaukeln.

Strahlungsdetektor | Am National Institute of Standards and Technology schießt ein Neutronenstrahl durch ringförmige Detektoren. Diese registrieren, wenn sich ein Neutron in ein Proton umwandelt.

Klar ist, dass auch die jüngste Messung von UCNτ die Lücke nicht schließen kann. »Selbst im Lichte dieses neuen Ergebnisses bleibt die Diskrepanz fast unverändert«, sagt Anatolii Serebrov vom Petersburger Institut für Kernphysik in Gatschina, Russland. Er war es, der 2005 mit einem hochpräzisen Flaschenexperiment erstmals auf die Diskrepanz hinwies.

Um das Dilemma der Neutronenlebensdauer zu lösen, haben der Physiker David Lawrence von der Johns Hopkins University in Baltimore, Maryland, und seine Mitarbeiter ein drittes Messverfahren entwickelt. Es soll die Lebensdauer mit Neutronendetektoren auf Raumsonden messen. »Es wäre wirklich nützlich, eine dritte Möglichkeit zu haben«, sagt er.

Die Methode beruht auf der Tatsache, dass die meisten Planeten Neutronen ausstoßen, wenn sie von kosmischer Strahlung getroffen werden. Viele dieser Neutronen können der Schwerkraft des Himmelskörpers jedoch nicht entkommen und regnen schließlich wieder auf ihn herab – doch bis dahin haben sich einige von ihnen in Protonen verwandelt. Vergleicht man die Zahl der in den Weltraum ausgestoßenen Neutronen mit der Zahl der zurückkehrenden Neutronen, so kann man die Lebensdauer der Neutronen abschätzen. »Ein Teil der Neutronen geht nach oben, zerfällt und kommt nie wieder zurück«, sagt Lawrence. Er fügt hinzu, dass ein solches Experiment idealerweise mit einer kleinen, nur für diesen Zweck entwickelten Sonde in der Umlaufbahn der Venus durchgeführt werden könnte, da deren Kohlendioxidatmosphäre Neutronen nicht gut absorbiert.

Zugleich werden auch auf der Erde noch genauere Messergebnisse erwartet. Das UCNτ-Team arbeitet an mehreren Verbesserungen, um die Präzision noch weiter zu erhöhen. Hoogerheide und ihre Kollegen am NIST tun derzeit dasselbe mit ihrer Strahltechnik; sie erwarten, dass die Präzision um etwa einen Faktor 10 verbessert werden könne.

Update (21.10.21): Der Text wurde um einen Hinweis darauf ergänzt, dass relativistische Effekte im Neutronenstrahl nicht als Erklärung für die zeitliche Diskrepanz ausreichen.

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