New Space: Wie Europa mit kleinen Raketen nach den Sternen greift
Europa hat ein neues Tor zum Weltraum – und es ist eisig: Es liegt in der nördlichsten Provinz Schwedens, nahe der verschlafenen und im Winter tief verschneiten Bergbaustadt Kiruna. Anfang Januar 2023 trafen sich hier geladene Gäste der Raumfahrtbranche mit Vertretern der politischen Prominenz des Kontinents, um den ersten schwedischen Weltraumbahnhof feierlich zu eröffnen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beschwor die europäische Unabhängigkeit und zitierte das »Final Frontier«, die letzte Grenze des unerforschten Universums aus der Star-Trek-Saga, die nun auch hier überschritten werden könne, bevor sie gemeinsam mit dem schwedischen König Carl Gustav und dem Premierminister des Landes ein gelb-blaues Band durchschnitt.
Schon seit 1964 werden vom gut 40 Kilometer entfernten Esrange-Komplex Höhenforschungsraketen in die obere Atmosphäre geschickt. Jetzt aber will man nach den Sternen greifen. Weltweit befindet sich die Raumfahrtbranche massiv im Aufschwung. Vielerorts werden neue Kleinraketen entwickelt und weitere Weltraumbahnhöfe aus dem Boden gestampft. Allein in Europa konkurriert der schwedische Startplatz mit Rampen in Großbritannien, Portugal und sogar Deutschland. Die Botschaft ist deutlich: Die europäische Raumfahrtbranche will sich von den USA und Russland emanzipieren.
Europa bangt um Zugang zum All
Für die Verantwortlichen innerhalb Europas Raumfahrtagentur (ESA) galten kleine Raketen bisher bestenfalls als nützliche Ergänzung zu den etablierten Modellen Ariane, Vega oder der russischen Sojus. Doch seit dem letzten Jahr steht es schlecht um Europas Raketen: Zunächst zog Russland im Frühjahr 2022 im Zuge gegenseitiger Sanktionen seine etablierte Sojus-Rakete vom europäischen Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guayana in Südamerika zurück; dann scheiterte am 21. Dezember 2022 auch noch der zweite Start der gerade neu entwickelten Vega C. Bis die Fehlerursache geklärt ist, muss die Rakete am Boden bleiben.
Das bisherige Arbeitspferd, die Ariane 5, ist inzwischen ein Auslaufmodell und wird in diesem Jahr ihre beiden letzten Flüge absolvieren. Die Fertigstellung ihrer Nachfolgerin, die Ariane 6, hat sich jedoch hoffnungslos verzögert. Die neue Trägerrakete wird seit 2015 entwickelt, doch ihr erster Start ist frühestens für Ende 2023 geplant, sofern keine weiteren Probleme auftreten. »Der Weltraumtransport ist eine der größten Herausforderungen, denen wir heute in Europa gegenüberstehen«, sagte ESA-Generaldirektor Josef Aschbacher im Januar 2023 gegenüber Spektrum.de.
Wer startet hunderte geplante Satelliten aus Europa?
Schon lange vor der russischen Invasion in der Ukraine sollten mehr Satelliten ins All befördert werden, als es Trägerraketen gab. Viele Projekte verzögerten sich oder mussten auf Eis gelegt werden. Weltweit gründeten sich deshalb zahlreiche neue Unternehmen, um diese Marktlücke zu stopfen. Zeitweise arbeiteten gut 150 Firmen an so genannten Microlaunchern, von denen derzeit noch immer mehr als hundert aktiv entwickelt werden. Vor allem der US-amerikanische Konzern SpaceX hat Investoren von der Notwendigkeit überzeugt, indem er den Markt für Kleinsatelliten – und damit auch für Kleinraketen – kurzerhand selbst anheizte: SpaceX startete in den letzten knapp vier Jahren die ersten 2000 Satelliten seines Satellitennetzwerks Starlink, das noch um ein Vielfaches anwachsen soll. Das Interesse an solchen Megakonstellationen ist dadurch weltweit gestiegen. Immer neue Satellitenschwärme sollen nun nicht nur wie Starlink schnelles Internet anbieten, sondern wahlweise auch minutiös die Erde beobachten oder Schiffe auf den Ozeanen überwachen. Die Europäische Union plant gemeinsam mit der ESA sogar, dem Starlink-Netzwerk Konkurrenz zu machen: Ein eigenständiges Netzwerk für schnelle Internetverbindungen mit sicheren Quantenschlüsseln soll ab 2024 aufgebaut werden.
Damit all diese Pläne verwirklicht werden können, sind neue Raketen nötig. Die staatlichen Raumfahrtagenturen investieren entsprechend, vor allem aber unterstützen private Geldgeber die Emporkömmlinge: Einer davon ist Isar Aerospace, ein Start-up der Technischen Universität München, das es geschafft hat, mehr als 150 Millionen Euro privates Kapital einzuwerben.
Ein weiteres junges deutsches Unternehmen, die Rocket Factory Augsburg (RFA), wird dagegen hauptsächlich von seiner Muttergesellschaft, dem Raumfahrtunternehmen OHB, finanziert. Beide bayerischen Unternehmen erhielten jeweils rund elf Millionen Euro aus dem deutschen Raumfahrtetat über das Boost-Programm der Europäischen Weltraumorganisation – und sie wollen noch in diesem Jahr ihre ersten Microlauncher abheben lassen. Insgesamt entwickeln allein in Europa 45 Unternehmen außerhalb Russlands neue Kleinraketen.
Harte Konkurrenz im Raketenbau
Dass die beiden deutschen Unternehmen in Konkurrenz zueinander stehen, wird offensichtlich, wenn man das Großraumbüro von Isar Aerospace in Ottobrunn bei München betritt: An der Wand hängt eine Zeichnung, auf der ein Satellit mit dem Isar-Logo einen zweiten Satelliten mittels eines Laserstrahls attackiert – auf dem wiederum prangt das Logo der Augsburger Mitbewerber. Doch, so betont ein Mitarbeiter von Isar Aerospace, der Wettkampf werde freundschaftlich geführt.
All die neuen Raketen, die derzeit entwickelt werden, müssen sich aber auch global durchsetzen: Anfang dieses Jahres wäre beinahe Großbritannien das erste Land geworden, das Raketen vom europäischen Kontinent starten lässt. Tatsächlich aber scheiterte das Vorhaben, die Kleinrakete LauncherOne des US-Unternehmens Virgin Orbit von einem Trägerflugzeug aus ins All zu schicken. Sie wurde zwar planmäßig ausgeklinkt, erreichte jedoch nicht den gewünschten Orbit. Ein Fehler in der Oberstufe vermasselte die Premiere und führte zum Verlust der Rakete sowie der neun Kleinsatelliten an Bord.
Fest steht: Europäische Unternehmen sind vergleichsweise spät in dieses Rennen gestartet. SpaceX, aber auch die von Neuseeland startende US-Firma RocketLab haben weit mehr als ein Jahrzehnt Vorsprung. Uneinholbar? Jules Varma vom European Space Policy Institute (ESPI) in Wien hat in einer Studie aus dem Jahr 2021 den New-Space-Markt in Europa analysiert und dabei festgestellt, dass private und staatliche Investoren zwar derzeit noch zurückhaltender sind als in den USA, aber gerade in jüngerer Vergangenheit so viel Geld wie nie in den hiesigen New-Space-Bereich geflossen ist. Allein im Jahr 2021 waren es 600 Millionen Euro von privaten Investoren, eine Verdreifachung innerhalb von nur drei Jahren.
Auch die europäischen Raumfahrtagenturen unterstützen zunehmend die Kommerzialisierung der Raumfahrt, allerdings machen diese öffentlichen Fördergelder aktuell nur zwei Prozent der Investitionen aus, die die Neuunternehmen insgesamt empfangen haben. Aus Sicht der auf Sicherheit bedachten Raumfahrtagenturen ist das finanzielle Risiko einfach zu groß: Noch ist nicht klar, ob es einen Markt für all diese Raketenbauer gibt. »Vielleicht schaffen es auch nur ein oder zwei der Unternehmen«, sagt Jules Varma. »Wie viele wirklich gebraucht werden, das ist am Ende die Eine-Milliarde-Euro-Frage.«
Neue Raketenbahnhöfe ringen um Kunden
Der Hype beruht auf der Hoffnung, dass die Zahl der Satelliten in den nächsten Jahren stark zunehmen wird. Darauf setzt auch die German Offshore Spaceport Alliance, eine Initiative, die einen Weltraumbahnhof in den deutschen Hoheitsgewässern in der Nordsee betreiben möchte. Auf der Webseite der Initiative wagen die Verantwortlichen eine Prognose, wonach sich die Zahl der zu startenden Satelliten in diesem Jahrzehnt vervierfachen wird, auf weltweit mehr als 900 Satelliten pro Jahr bis 2028.
Längst konkurrieren nicht nur die neuen Trägerraketen untereinander, sondern auch die Startplätze um die Raketen. Neben Schweden baut ebenso Norwegen auf der Insel Andøya im Nordpolarmeer eine Startrampe. Großbritannien entwickelt sogar sieben Startplätze: Von Südengland, Wales und Südschottland sollen Raketen mit Flugzeugen abheben, an drei Standorten im Norden Schottlands sollen sie zudem vertikal starten können.
Die deutschen Pläne für Raketenstarts von schwimmenden Plattformen in der Nordsee scheinen im Vergleich zur Konkurrenz improvisiert: Auf dem Festland ist Mitteleuropa viel zu dicht besiedelt, um von dort bedenkenlos ins All aufbrechen zu können. Deshalb sollen die Raketen in eine vorgefertigte Box geladen und an Bord eines gecharterten Schiffs zur äußersten Spitze der Wirtschaftszone gebracht werden, wo sie dann aufgerichtet und ins All geschossen werden. So würden sie in nördlicher Richtung kein besiedeltes Gebiet kreuzen.
Allerdings ist bislang keine Box fertiggestellt, wie Sabine von der Recke, Sprecherin der German Offshore Spaceport Alliance, bestätigt. Man warte auf die technischen Vorgaben der Raketenanbieter. Entsprechend wird auch die erste Rakete der Rocket Factory Augsburg zunächst von einer der zu Großbritannien gehörenden nördlichen Shetland-Inseln abheben. Trotzdem plant das Konsortium, an dem auch OHB beteiligt ist, noch in diesem Jahr einen ersten Versuch, von der Nordsee aus zu starten. Vermutlich werde es zunächst eine Höhenforschungsrakete sein, die noch nicht das All erreichen muss. Solche Raketen sind kleiner und können mit einer eigenen Startvorrichtung aufs Schiff geladen werden. »Das macht es für den Anfang etwas einfacher«, sagt Sabine von der Recke.
EU und ESA hoffen auf Erfolg der Kleinraketen
Die neuen Kleinraketen dürften der lange verzögerten Ariane 6 sowie der kürzlich havarierten Vega C nicht unmittelbar den Rang ablaufen. Josef Aschbacher hofft aber, mit ihnen die Engpässe beim Start kleinerer Satelliten überbrücken zu können. Der ESA-Generaldirektor will das Rennen zwischen den Anbietern deshalb anheizen, um deren Raketen so schnell wie möglich auf die Startrampe zu bringen. Dafür soll seine Raumfahrtagentur Starts zusichern und Verträge mit den Start-ups für zukünftige ESA-Missionen abschließen. »Mein Plan ist, diese Verträge bereits vor dem ersten Start zu unterzeichnen, um den Anbietern die Sicherheit zu geben, dass wir als Kunde da sind, wenn die Raketen bereit sind«, sagt Aschbacher.
Für Nutzlasten von über einer Tonne oder solche, die in höhere Umlaufbahnen oder ins Planetensystem geschossen werden sollen, fehlt den neuen Trägern noch die Schubkraft. Daher müssen die schwereren Satelliten, darunter das Weltraumteleskop Euclid der ESA sowie ein italienischer Erdbeobachtungssatellit, von einer Falcon-9-Rakete von SpaceX gestartet werden – also von der transatlantischen Konkurrenz.
Die Betreiber der neuen Weltraumbahnhöfe hoffen derweil, dass es zumindest einzelnen Start-ups gelingt, schon bald wie angekündigt ihre ersten Raketen starttauglich zu bekommen und die neuen Anlagen auszulasten. Bei der German Offshore Spaceport Alliance ist man davon überzeugt, sich gegen die anderen Startplätze durchsetzen zu können. Immerhin müssen die Betreiber des neuen nordschwedischen Weltraumbahnhofs laut Experten bei Norwegen eine Startfreigabe erbitten, da dessen Territorium überflogen wird. Norwegen wiederum möchte jedoch selbst seinen Startplatz Andøya auslasten. Das schreit förmlich nach Konfliktpotenzial.
Norwegische wie britische Weltraumbahnhöfe liegen zudem außerhalb der Europäischen Union. Viele laufende und geplante europäische Satellitenprojekte werden jedoch von der EU finanziert, und die Beamten in Brüssel bestehen bisher darauf, dass sie auch von Unions-Territorium gestartet werden. »Neben dem französischen Kourou ist die deutsche Offshore-Plattform in der Nordsee daher die ideale Wahl«, sagt Sabine von der Recke überzeugt. Das Rennen aber ist frühestens dann entschieden, wenn es gelingt, die ersten Satelliten aus Europa heil in den Orbit zu bringen – und das neue Tor zum Weltraum tatsächlich aufzustoßen.
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