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Serra da Capivara: Die übernatürlichen Ideen der Archäologin Niède Guidon

Als junge Archäologin in den 1970er Jahren entdeckte Niède Guidon den archäologischen Reichtum der Serra da Capivara – und begann, die verarmte Gegend in die Gegenwart zu holen.
Eine Strichzeichnung in roter Farbe zeigt ein menschliches Wesen mit langem Kleid, das mit beiden Armen ein Tier mit Geweih in die Höhe stemmt.
Viele Wände der Serra da Capivara sind über und über bemalt. Was die Formen und Figuren einst bedeuteten, ist heute kaum noch zu ergründen.

Niède Guidon ist nicht mehr zu sprechen. Mit ihren 92 Jahren hat sie so viel geredet und geschafft – jetzt sollen andere ran.

Und dennoch begegnet sie mir auf Schritt und Tritt bei meiner Reise zum UNESCO-Kulturerbe Serra da Capivara. Die »Wasserschwein-Berge« bieten dem Auge eine spektakuläre Landschaft, vor allem aber einen unglaublichen Reichtum an archäologischen Funden: prähistorische Felszeichnungen in einer Dichte, wie es sie nirgendwo sonst auf der Welt gibt. Mehr noch, zu Füßen der über und über bemalten Wände traten Funde zu Tage, die alte, längst sicher geglaubte Gewissheiten über die Besiedlung des amerikanischen Doppelkontinents ins Wanken brachten. Funde, die in der Mehrzahl von einer einzelnen Archäologin gemacht wurden.

»Diese Region atmet Niède Guidon«, sagt Antoniel da Silva Santana.

Antoniel ist Parkwächter und mein Guide, er hat acht Jahre direkt für Niède Guidon gearbeitet, nun ist er Mitarbeiter des Chico-Mendes-Instituts für Naturschutz und Biodiversität, das die Oberaufsicht über den Nationalpark übernommen hat.

»Professora Niède« nennt er sie ehrfurchtsvoll. »Alles, was ich durchgemacht habe, alle Veränderungen in meinem Leben, habe ich Professora Niède zu verdanken. Denn bevor ich hier gearbeitet habe, habe ich gewildert. Ich habe mit meinem Vater auf dem Land gelebt und alle haben wir hier gejagt. Vor allem Gürteltiere. Das war unsere Kultur im Nordosten.«

Viel mehr als magere Landwirtschaft und Bergbau gab es nicht in diesem trockenen Landstrich, dem Sertão. Noch bis in die 1980er Jahre hatten die »Coroneles« das Land unter sich aufgeteilt: Ex-Militärs, die als Großgrundbesitzer die Einheimischen in einer Art Leibeigenschaft hielten. Dann aber kam Niède Guidon und hatte Ideen für die Region dabei. Das gefiel den Mächtigen nicht. Es kam zu Morddrohungen.

Zerklüftetes Land | Die Serra da Capivara ist durchzogen von unzähligen Schluchten, Höhlen und Felsüberhängen. Früher herrschte hier eine tropische Flora und Fauna, heute überdeckt die Caatinga das Land.

Nichts aber schien sie aufhalten zu können, auch nicht die ständig wechselnden Politiker in der Hauptstadt Brasilia oder ihre Kritiker in akademischen Zirkeln. Heute ist in der Region niemand so allgegenwärtig wie Professora Niède. Im Grunde, so bestätigt mir jeder meiner Gesprächspartner, habe diese Gegend alles, was sie hat, ihr zu verdanken: die Schaffung des Nationalparks Serra da Capivara, seine Anerkennung als UNESCO-Kulturerbe, die Errichtung zweier Museen, einer Stiftung und eines Forschungsinstituts. Und noch einiges mehr.

Guidon lebt zurückgezogen in der Ortschaft São Raimundo Nonato, einem nicht sonderlich ansehnlichen Provinzstädtchen mit etwas über 30 000 Einwohnern. Es wäre nur ein weiteres unter Dutzenden ähnlichen im Bundesstaat Piauí, gäbe es hier nicht die von ihr geschaffene Forschungseinrichtung Sergio Mota. Auch das Museo do Homem Americano liegt hier: das Museum des amerikanischen Menschen – ebenfalls ein geistiges Kind der Archäologin.

Vor Kurzem habe sie sich mit dem Chikungunya-Virus infiziert, das sie sehr schwächte, erzählt mir Antoniel. Ohnehin meide sie seit der Pandemie die Öffentlichkeit. Ein Interview für eine deutsche Journalistin? Keine Chance.

Um mehr über Niède Guidon herauszufinden, muss ich mich an die Menschen aus ihrem Umfeld halten. An Menschen wie Antoniel. Oder an einige jener durchsetzungsstarken Frauen, die die brasilianisch-französische Archäologin an den Fuß der Serra geholt hat. »Sie hat ein weibliches Team zusammengestellt, das sich auf ihre ›übernatürlichen Ideen‹ eingelassen hat«, sagt Girleide Oliveira, Chefin eines Keramikbetriebs, den Guidon einst gründete. Außer ihr kamen noch Rosa Trakalo aus Uruguay und die Architektin Elizabete Buco aus São Paulo hinzu, später die Archäologin und Ethnologin Marian Rodrigues, die aktuell den Nationalpark für das Chico-Mendes-Institut für Biodiversität leitet.

Die Serra da Capivara

Und auch einige Männer zählten und zählen zu ihren Mitstreitern. So etwa Uwe Weibrecht, der als Leiter des Nationalparks eine Zeit lang unter Niède Guidon gearbeitet hat. In seiner Casa do Barrerinho bin ich am Abend zuvor abgestiegen.

Der Tag am Rande der Serra da Capivara beginnt um halb sechs mit einem Konzert. Die blaue Stunde gehört allein den Vögeln. Ihr Gesang dringt weit hinaus in die Caatinga, die trockene Steppe aus übermannshohen Dornbüschen, die den Nationalpark mit einem dichten Gestrüpp bedecken. Die Vegetation ist hart im Nehmen, sie kann Jahre der Trockenheit überstehen, und mit den ersten Regengüssen sprießen die Blüten, noch vor den Blättern.

Uwe Weibrechts Gästehaus liegt nahe am Haupteingang zum Park. Der gelernte Krankenpfleger aus Deutschland engagiert sich seit Beginn der Nullerjahre in dem von ihm gegründeten Verein ProBrasil für die Bedürftigen im Land. Mit der Casa setzt er auf nachhaltigen Tourismus, hier betreibt er ein Ökoprojekt samt Baumschule, in der er mit seinem Team die Gewächse der Caatinga züchtet und an lokale Initiativen abgibt.

Es sei »kaum zu ermessen«, wie wichtig sie für die Entwicklung der Region gewesen ist, erzählt er mir von Niède Guidon. Von den meisten Bewohnern und politisch Aktiven der Gegend sei das noch gar nicht voll verstanden worden. Kaum zu glauben, wenn man bedenkt, wie omnipräsent sie hier ist.

Im Nordosten Brasiliens erinnert nichts an den feuchten Regenwald, wie man ihn von Brasilien kennt; nur die Regengüsse, die im März einmal am Tag herunterrauschen, haben tropische Ausmaße. So trocken wie heute war die Landschaft allerdings nicht immer. Vor etwa 13 000 Jahren herrschte in der Serra da Capivara ein feuchtwarmes Klima mit einer überbordenden Pflanzenwelt. Es gab genug Vegetation, an der sich Riesenfaultiere und elefantenartige Mastodonten sattfressen konnten. Dadurch gab es auch ausreichend Beute für die Jäger der lokalen Fauna: für die Säbelzahnkatzen ebenso wie für jenen geschickten Zweibeiner, der von Asien kommend aus dem hohen Norden eingewandert ist.

Wand der Pedra Furada | An einer gewaltigen Felsformation, dem »durchlochten Stein«, findet sich neben dieser Felskunst auch jener Überhang, unter dem die Ausgräber als Erstes nach uralten Steinwerkzeugen suchten.

Das Kalksteinmassiv ist durchlöchert von Felsüberhängen und Höhlen. Es ist eine Landschaft, der man ansieht, dass sie attraktiv war für prähistorische Menschen. Genau dort haben sie ihre Abertausende Malereien und Gravuren hinterlassen. Es sind so viele Bilder, dass ich bei meinen drei Tagestouren nur einen Bruchteil davon erkunden kann. 1354 archäologische Stätten hat man hier insgesamt verzeichnet, 183 davon sind für Besucher zugänglich.

Entdeckungen für ein ganzes Leben

Diese Felszeichnungen waren es, die Niède Guidon in die Serra brachten. Bis in die 1960er Jahre waren sie lediglich der lokalen Bevölkerung bekannt. Die Leute hielten sie für Zeichnungen von Indigenen aus der jüngeren Vergangenheit und interessierten sich nicht dafür. Bis 1963 Niède Guidon in São Paulo einen Kongress über die Felsmalereien des benachbarten Bundesstaats Minas Gerais organisierte und jemand aus dem Bundesstaat Piauí sie ansprach. So etwas hätten sie auch bei sich in den Bergen: kleine Figuren, Tiere, wirklich jede Menge davon.

Ihr Gesprächspartner gab ihr einen Zeitungsausschnitt. Darin enthalten war eine Zeichnung von einem Felsüberhang, dem Toca do Paraguayo. Guidon erkannte sofort, dass diese Zeichnungen vollkommen anders waren als alles, was sie bisher gesehen hatte.

Ein Jahr später bot sich die Gelegenheit, in die Serra zu fahren. Ein kleiner, drahtiger Mann, der bei allen nur Seu (»Herr«) Nivaldo hieß, wurde Guidons Führer. Mit ihm und weiteren Locals, einfachen Bauern und Jägern, durchstreifte die Prähistorikerin die unwegsame Dornbuschsteppe.

So erzählt es mir auch Antoniel. Er hat mich mit seinem alten silbergrauen VW-Polo abgeholt und fährt Richtung Parkeingang.

Zwei Wochen, drei Wochen als Frau ganz allein im Busch mit diesen hartgesottenen Typen, das nötige ihm heute noch Respekt ab, sagt mein Fahrer. Aber auch die »Mateiros«, wie er sie nennt, die »Waldläufer«, hätten gestaunt. Sie waren sich unsicher, ob sie es mit einem Mann oder einer Frau zu tun hatten. »Denn damals waren kurze Haare und lange Hosen hier nicht üblich. Um der Sache auf den Grund zu gehen, verabredeten sich ihre Begleiter und schlichen ihr heimlich nach, als sie auf Toilette ging. Und erst da konnten sie sich sicher sein, dass sie es mit einer Frau zu tun hatten.« Darüber kann sich Antoniel immer noch totlachen. Aber Guidon habe sich immer sehr dankbar gezeigt gegenüber den Leuten der Region, sie sei sich bewusst gewesen, dass sie ohne die Hilfe der Einheimischen nichts hätte erreichen können.

Die Asphaltstraße hat sich inzwischen in eine staubige Piste mit rotem Sand verwandelt, und wir erreichen den Eingang des Nationalparks.

Schon nach ihrem ersten Besuch hatte die Serra da Capivara die junge Archäologin in ihren Bann geschlagen. Doch als 1964 die Militärs putschten, musste sie nach Frankreich zurückkehren. Das gesamte Lehrpersonal der Universität São Paulo galt den neuen Machthabern als Bedrohung. Niède Guidon musste um ihr Leben fürchten.

An der Sorbonne in Paris spezialisierte sie sich auf prähistorische Archäologie und kehrte 1973 als inzwischen 40-Jährige nach Brasilien zurück. Wieder zog es sie in die Wasserschwein-Berge.

Seu Nivaldo geleitete sie auch diesmal auf Entdeckungstour. Binnen zweier Monate spürten sie mehr als 100 Stätten mit Felszeichnungen auf. Zwei Jahre später gab sie bei André Leroi-Gourhan, einem der großen Spezialisten für Höhlenkunst, ihre Dissertation zum Thema ab.

Übernatürliche Ideen | In den 1970er Jahren begann Niède Guidon mit den Ausgrabungen in Piauí, um mehr über die Erschaffer der Felsmalereien zu erfahren. Bald aber stellte die junge Archäologin die ganze Region auf den Kopf.

Aus Sicht der Forschung war die gesamte Region damals ein weißer Fleck auf der Landkarte. Guidon stellte einen Förderantrag beim französischen Wissenschaftsrat CNRS, bekam die Unterstützung und rief so die französisch-brasilianische Forschungsmission ins Leben, die bis heute in der Serra da Capivara aktiv ist. Inzwischen leitet Eric Boëda von der Université Paris-Nanterre die Unternehmung.

Die Archäologin der Serra da Capivara

Einer prähistorischen Felsmalerei ist nicht anzusehen, wie alt sie ist. 1000 Jahre, 10 000 Jahre, noch älter? Mit gängigen Datierungsverfahren wie der Radiokarbonmethode kommt man hier nicht weiter. Erst seit wenigen Jahren gelingt es, die hauchdünnen Schichten, die sich im Lauf der Zeit auf der Farbe abgelagert haben, direkt zu datieren und so eine ungefähre Altersangabe zu erhalten. In den 1970er und 1980er Jahren war daran noch nicht zu denken. Um dennoch herauszufinden, wann die Malereien in der Serra da Capivara geschaffen wurden, begann die Archäologin unter den Felsüberhängen zu graben. Sie suchte nach Farbklecksen der steinzeitlichen Künstler oder abgeplatzten Malereien. Anders als die Farbe an der Wand lassen sich solche Sedimentschichten durchaus datieren. Ihre ersten Ergebnisse legten nahe, dass in einem Zeitraum von vor 14 000 bis vor 9000 Jahren hier Menschen lebten und malten.

Allein diese Entdeckung barg genügend Stoff für wissenschaftlichen Zoff. Denn damals ging der Mainstream der amerikanischen Vorgeschichtsforschung davon aus, dass die ersten Menschen frühestens vor 13 000 bis 12 000 Jahren den Doppelkontinent hätten betreten können. Vorher wären sie zwar über die trockengefallene Beringstraße ins heutige Alaska gekommen, doch wäre ihr Weg an zwei gigantischen Eisschilden geendet, die das gesamte heutige Kanada bedeckten. Erst als die Temperaturen nach dem Ende der Eiszeit wieder stiegen, schmolzen diese Gletscher weit genug ab, um einen Korridor Richtung Süden frei zu geben. So weit die Theorie. Wie aber hätten dann Menschen schon 1000 Jahre früher die Felswände im heutigen Brasilien bemalen können?

Und es kam noch dicker. Als Guidon weiter in die Tiefe grub, stieß sie auf Steine, die sie als Werkzeuge und Feuerstellen mitsamt der noch erhaltenen Holzkohle interpretierte. Auch diese Funde ließ sie von einem französischen Labor datieren.

Die Ergebnisse sprengten alle Erwartungen, Guidon selbst habe sie zunächst nicht glauben können, erzählt mir Rosa Trakalo. Seit 1976 arbeitet Trakalo für die Archäologin, gilt als ihre rechte Hand – und inzwischen immer mehr als ihre »externe Festplatte«, wie sie mir anvertraut. Wir haben uns im Museo do Homem Americano verabredet und setzen uns auf die Steintreppen einer kleinen, im Halbkreis angelegten Bühne, wo Schulklassen über die Frühgeschichte ihrer Region aufgeklärt werden. Steinwerkzeuge sind als Anschauungsmaterial auf einem Tisch ausgebreitet.

Sie sei damals selbst dabei gewesen, als die Archäologin die Datierungsergebnisse aus Paris erhielt. Das Alter der Funde laut Kohlenstoffdatierung: mindestens 32 000 Jahre. Ein Paukenschlag.

Unmöglich, habe Guidon der Laborphysikerin gesagt, in Südamerika könne es keine so alten Datierungen geben. Und die Pariser Kollegin habe geantwortet: »Wir haben das mehrmals überprüft. Gehen Sie zurück nach Piauí und graben Sie weiter, dann werden Sie schon sehen!«

Im Jahr 1986 veröffentlichte Niède Guidon ihre Erkenntnisse in einem knappen Aufsatz in der renommierten Fachzeitschrift »Nature« und brachte nahezu die gesamte wissenschaftliche Community gegen sich auf.

Die Holzkohle, die sie datieren ließ, könne auch bei Waldbränden entstanden sein, entgegnen Kritiker;, die vermeintlichen Steinwerkzeuge seien Brocken, die beim Fall von der 70 Meter hohen Felswand am Grabungsort Boqueirão da Pedra Furada zersplittert waren. Die Kritik war heftig. Guidon ließ nicht locker. »Sie sagte ihren Leuten immer wieder: ›Forscht, arbeitet!‹«, erinnert sich Rosa Trakalo.

Die Ausgräber ließen die Steine, die sie als Feuerstellen ansahen, nun auch mit anderen Methoden datieren und erhielten sogar noch weiter in die Vergangenheit reichende Daten. »Das macht es sehr wahrscheinlich, dass menschliche Gruppen die Region bereits vor etwa 50 000 Jahren besiedelt haben«, erklärt Gisele Daltrini Felice. Die Archäologin hat bei Niède Guidon studiert und lehrt nun an der staatlichen Universidade Federal do Vale do São Francisco, die in São Raimundo Nonato eine Außenstelle betreibt. 50 000 Jahre – das hieße, sie wären mehrere zehntausend Jahre älter als der älteste unumstrittene Fund in Nordamerika.

Einladendes Quartier | Die natürlichen Höhlungen lockten über Jahrtausende Menschen an, die hier ihr Lager aufschlugen. Den Ausgräbern um Eric Boëda zufolge könnten die ersten bereits vor mehreren zehntausend Jahren gekommen sein. Kritiker halten die These für nicht belegt.

Es sei immer notwendig, die von anderen auferlegten Paradigmen zu hinterfragen und im Zweifel zu durchbrechen, sagte Guidon einmal in einem Interview. Im Fall der Erstbesiedlung Amerikas hat sie dies zweifelsfrei getan – und sich mächtige Gegner in akademischen Kreisen gemacht, vor allem in den USA. Die Fronten sind bis heute verhärtet. Auch wenn inzwischen eine wachsende Zahl von Funden darauf hindeutet, dass erste Einwanderer nach Amerika kamen, bevor die kanadischen Eisschilde den Weg frei gaben. Am Ende aber bleibt es dabei: Eindeutige Belege für die Anwesenheit des Menschen legten Guidon und Nachfolger erst für die Zeit ab 12 500 Jahren vor heute vor. Das ist diejenige Phase der Besiedlung, aus der den modernen Datierungen zufolge auch die Malereien stammen. Alles davor ist mit Fragezeichen behaftet.

In jedem Fall war es der jungen Guidon gelungen, mit ihrem furchtlosen Auftreten den archäologischen Reichtum der Region einer Weltöffentlichkeit bekannt zu machen. Noch während der Grabungsarbeiten wandte sie sich einer neuen Herausforderung zu: Mittel für den Erhalt der Felsmalereien und archäologischen Stätten zu beschaffen. So initiierte sie nicht nur 1979, noch unter der Militärdiktatur von João Batista Figueiredo, die Einrichtung des Nationalparks, sondern gründete, um die Funde aus der Serra da Capivara angemessen präsentieren zu können, die Stiftung Fundação Museu do Homem Americano (FUMDHAM) und rief dann im Jahr 1988 das gleichnamige Museum des amerikanischen Menschen ins Leben.

Ihr Engagement mündete 1991 in der Anerkennung des 130 000 Hektar großen Parks Serra da Capivara als UNESCO-Weltkulturerbe.

All dies veränderte das Leben in den Gemeinden rund um den Park. Die Schaffung des Nationalparks Ende der 1970er Jahre hatte allerdings einen gewaltigen Haken: In seinem Herzen lag das Dorf Zabelê. Für den Schutz der Pflanzen und Tiere und der archäologischen Stätten musste es weichen.

Guidon ließ die Einheimischen davon überzeugen, ihre Häuser und Grundstücke zu verlassen. Man stellte ihnen Entschädigung in Aussicht. Doch es gab ein Problem: Fast keiner der Anwohner hatte Papiere für das Land, das sie seit Generationen bewohnten und bewirtschafteten.

»Das war vielleicht das Einzige, was man kritisieren kann«, sagt die Architektin Elizabete Buco. »Die Menschen mussten ihre Häuser verlassen – aber statt der Entschädigung, die ihnen in Aussicht gestellt worden war, bekamen sie fast nichts.« Für die Umgesiedelten und ihre Nachkommen ist es bis heute eine schmerzvolle gemeinsame Erinnerung.

Auf der anderen Seite war Guidon überzeugt, dass der Naturpark nur erhalten werden könne, wenn die Menschen den Park nicht ausbeuten müssten. Und dass eine Bevölkerung nicht vorankommen konnte, wenn sie arm und ungebildet blieb. Von Anfang an versuchte die Archäologin daher zu erreichen, dass auch die Ortsansässigen vom Park profitieren würden. Der Schutz des Parks bot Arbeit in Forschung, Instandhaltung und Überwachung für zunächst 270 Menschen.

»Team Guidon« | Von links nach rechts: Antoniel Santana, Rosa Trakalo, Uwe Weibrecht, Girleide Oliveira, Elizabete Buco

Sie alle bekamen eine kompromisslose Chefin. Uwe Weibrecht erzählt von seiner ersten Fahrt mit der Archäologin durch den Park. »Zuvor wurde mir eingeschärft, dass ich auf jeden Fall pünktlich sein muss und dass ich am besten 15 Minuten vor sechs an der Tankstelle hier stehen muss, weil sie keine Minute warten wird«, sagt Weibrecht, »und schon gar nicht auf einen Mann.« Natürlich sei sie früher gekommen, »und dann sind wir durch den Park gerauscht, wobei sie kaum je den Fuß vom Gas genommen hat«.

Die Visionärin

Schon während der ersten Feldforschungskampagnen habe Guidon ihre Vorstellung für die Region entwickelt, erinnert sich die Elizabete Buco, die Architektin des Nationalparks. Die ganze Welt sollte die Schönheit der Capivara-Berge sehen. Noch von unterwegs habe sie einen Brief an den damaligen Gouverneur von Piauí geschrieben und ihr Konzept eines nachhaltigen Tourismus vorgestellt. »Das war in den 1970er Jahren«, damals hatte noch kaum jemand grüne Ideen. Schon gar nicht in Brasilien.

Guidon versuchte, die Bauern zu begeistern. »Sie sagte: Schaut mal, ihr könnt hier euer Leben verbessern, ihr könnt als Fremdenführer arbeiten, ihr könnt eine Unterkunft, ein Restaurant eröffnen, ihr könnt Kunsthandwerk herstellen. Aber es muss nachhaltig sein, ohne Abholzung, ohne dass Tiere getötet werden«, erzählt Antoniel. »Die Leute hielten sie für verrückt. Denn wer würde schon hierherkommen?«

»Vorher existierte die Serra da Capivara nicht«, sagt auch Girleide Oliveira, »niemand hatte je davon gehört. Und dann kam Niède Guidon!« Girleides Lachen schallt durch das eiskalt heruntergekühlte Büro der Töpferei, die sie leitet. 45 Angestellte arbeiten hier. Der Ton kommt aus der Serra, die Inspiration kommt von den Felswänden, und die Idee für das Ganze kam natürlich von niemand anderem als Guidon. Nachdem die ursprüngliche Kooperative nicht funktionierte, holte sie Girleide Oliveira aus Pernambuco.

Für die Kinder, die am Rand des Parks mitten im Busch lebten und weder lesen noch schreiben konnten, gründeten Guidon und ihr Team fünf Schulen. Einige der Kinder, die weit entfernt wohnten, schliefen in der Schule. Die Stiftung FUMDHAM förderte außerdem zusätzliche Sprachkurse außerhalb der Schule.

»Sie war eine Schlüsselfigur für die Region«, sagt Girleide, eine Art »Passwort, das die ganze Gegend aufschloss«. Manchmal auch durch scheinbar unbedeutende Innovationen: Guidon holte beispielsweise die Imkerei an die Serra. »Mit dem Bienenwachs wurden Kerzen hergestellt, und sie kaufte Maschinen, mit denen man Papier recyceln konnte. Briefumschläge wurden daraus gemacht und Notizblöcke für die Schulen. Alles nachhaltig! Und die Leute konnten diese Produkte verkaufen.«

Auch Antoniel erzählt von seinem Kumpel Simplis, der sich nicht mal ein Fahrrad leisten konnte. »Aber heute hat er ein Auto und ein schönes Haus. Alles nur durch den ökologischen Honig der Region, den er ins Ausland verkauft.«

Gleichzeitig schuf Guidon mehrere Gemeindezentren, unterstützte den Bau eines Hotels und eines Flughafens, um mehr Touristen in die schwer zugängliche Region São Raimundo Nonato zu bringen. Nachdem sich der Bau des Flughafens wegen Geldmangels endlos hinzog, butterte Guidon das Preisgeld für ihre Auszeichnung mit dem niederländischen Prinz-Claus-Preis hinein und ließ ihn endlich fertig stellen.

»Sie hat einfach alles umgekrempelt. Ja, es gibt nichts, wo sie nicht ihre Hände drin gehabt hätte«, sagt Rosa Trakalo. »Der Flughafen, mein Gott, ohne ihre Kraft wäre da nichts vorangegangen! Sie hat nie jemanden vorgewarnt, sondern einfach gemacht. Und sie führte neue Konzepte ein, wie beispielsweise die Beschäftigung von Frauen.«

Ein Frauenteam

Es begann schon damit, dass die Männer, die Guidon zunächst als Parkwächter angeheuert hatte, ihren strengen Kriterien nicht genügten. Also feuerte sie sie kurzerhand und ersetzte sie durch Frauen, die »Guariteiras«, die heute noch in den Häuschen an den Eingängen zum Nationalpark arbeiten.

»Damals gab es viele Scheidungen«, erklärt mir Antoniel. Denn nun hatten die Frauen ihr eigenes Einkommen. So konnten sie den manchmal gewalttätigen häuslichen Umständen entkommen.

»Einer ihrer wichtigen Ansätze war das Empowerment von Frauen. Mit dem Einsatz der Parkwächterinnen hat sie schlagartig die ganze Situation verbessert«, findet auch Weibrecht. Es war vielleicht das Geheimnis zu ihrem Erfolg. »Und sie hat viele starke und geschäftstüchtige Frauen aus anderen Bundesstaaten hierhergebracht.«

Elizabete Buco ist wie Rosa Trakalo und Girleide Oliveira Teil jener Truppe von Powerfrauen. Sie plante und überwachte den Bau der Infrastruktur des Nationalparks und entwarf die Schutzhäuser. Sie gestaltete auch die erste Dauerausstellung des Museums des amerikanischen Menschen und baute das Kulturzentrum Sérgio Motta sowie das Haus von Niède Guidon. Kurz vor einem Treffen mit dem Präsidenten der Brasilianischen Entwicklungsbank drängte Guidon die Architektin dazu, schnell noch einen Entwurf für ein neues Naturkundemuseum aufs Papier zu bringen. Die Idee – ein spiralförmiger, an eine Galaxie erinnernder Bau – überzeugte, und das neue Museum wurde von Buco gebaut und 2018 eröffnet. Es verfügt über nachhaltige Elektro-, Sanitär- und Klimatisierungssysteme.

In diesem Museum wollte Guidon den Besucherinnen und Besuchern weniger vom Menschen erzählen als von der Natur – und besonders vom Klima. Das sei der wahrhafte Meister der Transformation und habe die Serra da Capivara zu einem so einzigartigen Ort auf dem Planeten gemacht. So ist es auf einer Tafel am Eingang zu lesen.

Niède Guidon | Mit über 90 Jahren hat sich Guidon aus dem öffentlichen Leben weitgehend zurückgezogen. Das Foto zeigt sie in einem Labor der Stiftung des amerikanischen Menschen (FUMDHAM).

In dieser unermesslich langen Saga der Existenz unserer Welt ist das Zeitalter der Menschheit nur ein winziges Intervall, wird Niède Guidon auf einer Tafel zitiert. Es klingt wie ihr Vermächtnis und zugleich wie ein Heilmittel gegen die Überschätzung des eigenen Egos. Wie schon damals, am Ende der Eiszeit, fordere auch heute die Natur durch ein sich veränderndes Klima den Menschen heraus. Doch während Homo sapiens in der Vergangenheit den Naturkräften ausgeliefert war, könne er heute wählen, welchen Weg er nehmen will.

Zumindest wenn er bereit ist, den Widerständen zu trotzen. Niède Guidon findet, dass jetzt Jüngere ihren Platz einnehmen müssen. »Ich habe genug gekämpft«, sagte sie bei der Einweihung des Naturmuseums, »ich muss jetzt zur Ruhe kommen. Doch die ersten Bilder, die ich gesehen habe, die haben mich wirklich geprägt, und ich habe sie nie vergessen.«

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