Seuchenschutz: Nigerias Strategie gegen die Affenpocken
Auch in Nigeria beschäftigt der globale Ausbruch der Affenpocken die Gesundheitsbehörden. Anders als in Europa jedoch greift das bevölkerungsreichste Land Afrikas dabei auf erprobte Mechanismen und Erfahrungswerte zurück. Insgesamt liegt die Zahl der Fälle zwar um ein Vielfaches niedriger als beispielsweise in Deutschland. Trotzdem sei Vorsicht geboten, sagte der Epidemiologe Ifedayo Adetifa bei einem Webinar Ende Juni. Jede Infektionskrankheit, die sich unkontrolliert ausbreitet, stelle eine Gefahr dar, egal wie mild der typische Verlauf sei. »Wir wollen nicht, dass irgendjemand an einer vermeidbaren Krankheit stirbt.«
Adetifa ist der Generaldirektor des Nigeria Centre for Disease Control (NCDC), der staatlichen Behörde für öffentliche Gesundheit. Nigeria habe in den vergangenen fünf Jahren »katastrophale Auswirkungen« von Infektionskrankheiten wie Ebola, Lassa-, Dengue- und Gelbfieber, Meningitis, Masern, Cholera, Covid-19 und Affenpocken erlebt, sagt er. Sie alle verdienten ein »adäquates Maß an Aufmerksamkeit«.
Ein Krisenstab für Affenpocken
Das Virus ist in etlichen nigerianischen Bundesstaaten endemisch, seit 2017 werden immer wieder Infektionsfälle registriert. In den vergangenen Monaten stieg die Zahl der Ansteckungen wieder merklich an. Ein 40-Jähriger Mann, der an Vorerkrankungen litt, ist sogar an Affenpocken gestorben. Entsprechend früh hat das Land auf den immer noch wachsenden internationalen Ausbruch reagiert. An Flughäfen führen Gesundheitsbehörden Kontrollen durch, um Infizierte bei der Ein- oder Ausreise zu erkennen und zu isolieren. Ende Mai führte Nigeria einen ressortübergreifenden, nationalen Krisenstab ein, das Emergency Operations Centre for Monkeypox (MPX-EOC). Er koordiniert die unterschiedlichen Maßnahmen. Im Mittelpunkt stehen dabei Aufklärung, Kontaktverfolgung und Kooperation.
»Wir wollen nicht, dass irgendjemand an einer vermeidbaren Krankheit stirbt«Ifedayo Adetifa, Generaldirektor des NCDC
Nigeria verfolgt dabei eine fallbasierte Strategie, die Lateefat Amao, Leiterin des Krisenstabs, in dem Webinar vorstellte. Wenn sich ein Patient mit typischen Symptomen vorstellt, wie Fieber, geschwollenen Lymphknoten und später einem Ausschlag, der oft im Gesicht beginnt, nimmt das medizinische Personal eine Probe und schickt sie an das nationale Labor in Abuja. »Das Ergebnis des PCR-Tests liegt innerhalb von 24 Stunden vor«, sagt Amao.
Das Labor ist derzeit das einzige in dem Land mit mehr als 217 Millionen Einwohnern, andere Labore stehen jedoch für den Fall eines größeren Ausbruchs bereit. Patienten werden schon vor dem Testergebnis vorsichtshalber isoliert. Bestätigt sich der Verdacht der Affenpocken, beginnen die Behörden, Kontakte im näheren Umfeld der infizierten Person nachzuverfolgen und zu isolieren. Ziel ist es, die Infektionskette möglichst früh zu unterbrechen. Bei den meisten Patienten heilt die Krankheit von selbst aus. Pocken-Impfstoffe stehen Nigeria, im Gegensatz zu Ländern wie Deutschland, derzeit nicht zur Verfügung.
Krankheiten werden digital überwacht
In den letzten Jahren haben Amao und ihr Team Aufklärungskampagnen für die Bevölkerung in verschiedenen Landesteilen durchgeführt und medizinisches Personal in der Diagnose und dem Umgang mit Proben geschult. »Wir arbeiten auch mit Informanten aus den Gemeinden zusammen, damit wir Fälle schneller identifizieren und behandeln können«, sagt Amao.
Einen landesweiten Überblick über das Infektionsgeschehen bietet das digitale Erfassungssystem SORMAS, das das NCDC seit dem Ebola-Ausbruch in Westafrika in den Jahren 2014 und 2015 gemeinsam mit dem Helmholtz-Institut für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig entwickelt hatte. Jetzt kommt es auch für andere Infektionskrankheiten wie Covid-19 und Affenpocken zum Einsatz. »Seitdem kommt es zu weniger Verzögerungen bei der Datenerfassung«, sagt Amao.
Insgesamt habe Nigeria bei der Bekämpfung von Affenpocken Fortschritte gemacht. »Gleichzeitig bleiben viele offene Fragen und große Herausforderungen.« Amao hat einen Master-Abschluss in öffentlicher Gesundheit, leitet seit 2018 die technische Arbeitsgruppe für Affenpocken in Nigeria und hat die nationalen Leitlinien zum Umgang mit der Infektionskrankheit mit entwickelt. Hintergrund war der Ausbruch im Jahr 2017, bei dem die ersten Fälle seit Anfang der 1970er Jahre registriert wurden. Damals war die Krankheit weitgehend unerforscht. »Das ist heute anders«, sagt Amao, obwohl es weiterhin viel Forschungsbedarf gebe.
Der vermutlich wichtigste Übertragungsweg ist tabu
Zur Frage, ob Männer, die mit anderen Männern Sex haben, besonders gefährdet seien, geben sich die nigerianischen Forscher zugeknöpft. Amao sagt dazu lediglich, es gebe keine »dokumentierten Beweise für sexuelle Übertragungen« in Nigeria. Das Thema ist in dem westafrikanischen Land tabu. Gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen sind laut Strafgesetzbuch illegal, es drohen langjährige Gefängnisstrafen und in den nördlichen islamisch geprägten Bundesstaaten sogar die Todesstrafe durch Steinigung. Weniger heikel ist der Blick auf die Daten: Belegt ist, dass die Pocken häufig auch im Genitalbereich auftreten. Auf den Vordrucken zur Kontaktverfolgung wird explizit auch nach sexuellen Kontakten gefragt.
Bevor man die Übertragung von Mensch zu Mensch verstehen könne, müsse man jener von Tier zu Mensch auf den Grund gehen, sagt NCDC-Generaldirektor Adetifa. Die Frage nach dem tierischen Reservoir gehört für nigerianische Wissenschaftler zu den drängendsten. »Hoffentlich können wir darauf bald eine Antwort geben«, sagt Amao. Bislang stehen vor allem Nagetiere unter Verdacht. In Zusammenarbeit mit Veterinären fängt und untersucht das NCDC diese Tiere.
In den Leitlinien wird empfohlen, dass Erkrankte nicht nur zu Wild-, sondern auch zu Haustieren Abstand halten. Das ist einfacher gesagt als getan: Fälle von Affenpocken treten gehäuft im Süden Nigerias auf, wo Menschen in oder am Rand von Regenwäldern leben und der Handel mit Wildfleisch, so genanntem Bushmeat, floriert. Die Regierung hat Ende Mai ein Handelsverbot verhängt, aber es gilt als nahezu unmöglich, das Verbot wirksam durchzusetzen. Das Geschäft stellt für die Händler oft die einzige Lebensgrundlage dar.
Nigeria überwacht Gerüchte und Falschmeldungen
Wie hoch der Anteil der Patienten ist, die sich bei Tieren angesteckt haben und wie viele sich durch den Kontakt mit anderen Menschen infiziert haben, ist ebenfalls ungeklärt. Eine entsprechende Studie sei gerade in Arbeit, sagt Lateefat Amao bei einer virtuellen Konferenz Mitte Juli. Etliche Patienten würden zunächst angeben, dass sie nicht wüssten, wo sie sich angesteckt haben. »Aber während der Kontaktverfolgung kommt heraus, dass schon früher Fälle in der Familie aufgetreten sind. Auch akute Fälle mit den typischen Pusteln werden oft im näheren Umfeld entdeckt«, erklärt Amao. Hierbei spiele natürlich die Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung eine Rolle. NCDC-Generaldirektor Adetifa erinnert in diesem Zusammenhang an die Erfahrungen mit Tuberkulose und HIV: »Wir sollten daraus gelernt haben, dass falsche Narrative unsere Bemühungen behindern, Krankheiten effektiv einzudämmen.«
Entsprechend wichtig ist es, die öffentlichen Aufklärungskampagnen fortzusetzen und Falschmeldungen zu korrigieren, die in sozialen Medien und teils auch in der Presse kursieren. Gerüchte könnten »mehr Schaden anrichten als die Krankheit selbst«, schreibt Walter Mulombo, der WHO-Repräsentant in Nigeria in einem Grußwort für das Webinar. Um prompt auf Fake News reagieren zu können, aber auch um Gerüchten über neue Ausbrüche grassierender Infektionskrankheiten nachzugehen, nutzt Nigeria die digitale Plattform Tatafo. Mit ihrer Hilfe durchforstet das NCDC Nachrichtenseiten und soziale Medien nach Schlagwörtern wie Affenpocken in den unterschiedlichen Landessprachen. Vom NCDC entsandte Teams gehen diesen Gerüchten nach und untersuchen mögliche Ausbrüche.
»Während der Kontaktverfolgung kommt heraus, dass schon früher Fälle in der Familie aufgetreten sind«Lateefat Amao, Leiterin des Krisenstabs
Seit Affenpocken globale Schlagzeilen machen, ist die Krankheit auch in Nigeria oft in den Nachrichten. Das Bewusstsein in der Bevölkerung für die Krankheit sei dadurch gewachsen, sagt die Leiterin des Krisenstabs Amao. So erklärt sie sich die derzeit steigenden Infektionszahlen und Meldungen aus Bundesstaaten, die bislang »geschwiegen« hätten. »Wir haben in der Vergangenheit sicher Fälle übersehen. Heute gehen die Behörden mehr Fällen nach und die Bürger sind besser informiert. Wenn sie Anzeichen oder Symptome entdecken, die sie aus dem Fernsehen kennen, wissen sie, dass sie eine Klinik aufsuchen sollten.« An den typischen Symptomen, Übertragungsmustern und Virulenz habe sich seit 2017 nichts verändert, sagen Amao und NCDC-Generaldirektor Adetifa übereinstimmend.
Mensch, Tier und Umwelt hängen zusammen
Ebenso einig sind sich die beiden, dass viele unterschiedliche Fachgebiete und Ressorts zusammenarbeiten müssen, um die Krankheit besser zu verstehen und effektiver zu kontrollieren. Seit 2019 folgt Nigeria dem One-Health-Ansatz, nach dem die Gesundheit von Menschen, Tieren und Umwelt untrennbar miteinander verbunden ist. Zoonosen seien die größte Bedrohung für die öffentliche Gesundheit, sagt Adetifa. »Es wird noch mehr Viren geben, die von Menschen auf Tiere und von Tieren auf Menschen übertragen werden. Und das auch, weil der Mensch in die Umwelt eingreift und Lebensräume von Tieren zerstört. Wir kommen uns dadurch so nah wie nie zuvor.«
In der Praxis bedeutet das, dass das NCDC bei neuen Infektionsclustern nicht nur ein humanmedizinisches Team entsendet, sondern ebenso Veterinäre und Mitarbeiter der Umweltbehörden. Ganz reibungslos läuft die Kooperation noch nicht: Nicht alle fühlten sich zuständig, seien gleich gut informiert, außerdem komme es sporadisch zu Kompetenzstreitigkeiten, erklärt Amao. »Letztes Jahr haben sich beispielsweise die Leute von der Tiergesundheit im Norden beschwert, dass sie nicht mehr Einfluss und Kontrolle haben.« Auf nationaler Ebene sei man sich einig, dass nur ein kollektiver, holistischer Ansatz Erfolg versprechend sei. Dafür jedoch sei auch eine stärkere Mitarbeit der Bundesstaaten notwendig. »Wir sind nicht da, wo wir gern wären, aber wir haben deutliche Fortschritte gemacht.«
Je genauer man hinschaue, desto mehr finde man auch, sagt NCDC-Generalsekretär Adetifa. Er rechnet in diesem Jahr nicht nur mit einem neuen Höchststand von Affenpockenfällen in Nigeria, sondern auch mit Ausbrüchen in weiteren afrikanischen Ländern. Nigeria würde momentan im Mittelpunkt der Nachrichten stehen, »weil wir die diagnostischen Kapazitäten haben und Fälle melden«. Viele andere Staaten könnten die Krankheit dagegen »nicht einmal diagnostizieren, wenn sie verdächtige Fälle vor sich haben«.
Deshalb habe das NCDC gerade einen Workshop für 20 Teilnehmer aus anderen afrikanischen Staaten veranstaltet. Das ist ganz im Geist der Kooperation, die sich nigerianische Behörden und Wissenschaftler auch auf internationaler Ebene wünschen. Sie weisen seit 2017 auf die Gefahr von Affenpocken und die Übertragung von Mensch zu Mensch hin, fordern mehr Forschung und entsprechende Gelder. Aber niemand hörte ihnen zu. Bis die ersten Fälle in Europa bekannt wurden.
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