Wirtschaftspreis 2023: Wie die Pille die Wirtschaft revolutionierte
Für Frauen in Deutschland und vielen anderen Industriestaaten hat sich der Arbeitsmarkt in den letzten Jahren zunehmend verbessert. Doch auch 2022 verdienten Frauen mit vergleichbaren Qualifikationen, Tätigkeiten und Erwerbsbiografien wie Männer laut statistischem Bundesamt im Schnitt 7 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. In anderen OECD-Staaten beträgt der Unterschied sogar durchschnittlich 13 Prozent. Und auch die Erwerbstätigenquote von Frauen liegt unter jener von Männern: Hier zu Lande waren 2022 etwa 73,1 Prozent aller Frauen zwischen 15 und 65 Jahren berufstätig, wohingegen 80,6 Prozent der Männer gleicher Alterskategorie erwerbstätig waren. Schaut man sich die globale Situation an, ergibt sich ein ganz anderes Bild: Weltweit ist nur jede zweite Frau in einem Arbeitsverhältnis – das sind etwa 30 Prozent weniger als bei Männern.
Um die Gründe dafür zu verstehen und Frauen den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. »Man kann eine Krankheit nicht behandeln, ohne zu wissen, worum es sich genau handelt«, sagte Randi Hjalmarsson vom Nobelpreiskomitee. Und genau das hat die US-amerikanische Ökonomin Claudia Goldin in den letzten Jahrzehnten gemacht: Sie hat durch eine gezielte historische Analyse und wirtschaftliche Modelle untersucht, wie sich die weibliche Erwerbstätigkeit und Vergütung seit der industriellen Revolution entwickelt hat und Gründe für die – teilweise überraschenden – Ergebnisse präsentiert. Für diese Erkenntnisse wurde sie für den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften geehrt. Sie ist erst die dritte Frau, die diesen prestigeträchtigen »Wirtschaftsnobelpreis« erhält.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wächst der Anteil berufstätiger Frauen in den USA und den meisten Industriestaaten ebenso wie die Wirtschaftsleistung. Bis 1990 waren die meisten Fachleute daher davon überzeugt, dass ökonomisches Wachstum zwangsläufig dazu führt, dass mehr Frauen berufstätig sind. Doch ganz so einfach ist das nicht, wie Goldin in ihrem 1990 erschienenen Buch »Understanding the Gender Gap« erklärte.
»Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt und dem Wirtschaftswachstum«Nobelpreiskomitee
Denn durch die Untersuchung historischer Datenbankeinträge konnte die Ökonomin die Anzahl berufstätiger Frauen in den USA zu Beginn der industriellen Revolution um das Jahr 1800 erstmals realistisch einschätzen: Demnach lag der Anteil berufstätiger Frauen bei etwas mehr als 50 Prozent und nahm bis 1910 stetig ab. Erst im Lauf des 20. Jahrhunderts wuchs die weibliche Erwerbstätigkeit wieder an. Anders als bis dahin angenommen, war die weibliche Erwerbstätigenquote nicht monoton wachsend, sondern bildete eine u-förmige Kurve.
Gründe für den Einbruch in der Zahl erwerbstätiger Frauen liegt im Arbeitsmarktwandel begründet. Während Frauen früher im Hof der Familie oder im Kleinunternehmen mithelfen konnten, wurde es durch die industrielle Revolution immer schwieriger, von zu Hause aus zu arbeiten. Damit war es insbesondere für verheiratete Frauen nicht möglich, einer Arbeit neben Haushalt und Kindererziehung nachzugehen. Tatsächlich findet sich diese u-förmige Kurve nicht nur in geschichtlichen Daten der USA, sondern auch vieler europäischer Länder, wie unter anderem eine Studie der Wirtschaftswissenschaftlerinnen Jane Humphries und Carmen Sarasúa 2012 gezeigt hat. Damit habe Goldin belegt, dass »es keinen historisch konsistenten Zusammenhang zwischen der Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt und dem Wirtschaftswachstum gibt«, heißt es in dem Bericht des Nobelpreiskomitees. Nur auf Wirtschaftswachstum zu setzen, damit mehr Frauen arbeiten, scheint also der falsche Weg zu sein.
Die Erwerbsquote von Frauen erreichte in den 1910er bis 1930er Jahren ihren Tiefpunkt. Gründe dafür waren oft gesellschaftlicher Natur: So wurden arbeitende Frauen stigmatisiert, zudem war es verheirateten Frauen damals oft untersagt zu arbeiten. Die Erwerbsquote verheirateter Frauen betrug bloß 6 Prozent, während 21 Prozent der allein stehenden Frauen arbeiteten.
Die Pille für den Arbeitsmarkt
In den folgenden Jahren nahm die weibliche Erwerbstätigkeit zwar zu, zunächst jedoch langsam. Wie Goldin herausfand, hängt das langsame Wachstum direkt mit den frühen gesellschaftlichen Ansichten über die Rolle verheirateter Frauen zusammen. Da die meisten Frauen davon ausgingen, nur bis zur Ehe zu arbeiten, beeinflusste das ihren Bildungsweg und ihre berufliche Ausrichtung. Beides war meist nicht auf Karriere ausgelegt. Als es dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer gängiger wurde, dass Frauen nach dem Großziehen der Kinder wieder ins Berufsleben einsteigen, blieben ihnen folglich viele Karrieremöglichkeiten verwehrt.
Häufig waren es erst die Töchter dieser Frauen, die entsprechend höhere Bildungsabschlüsse absolvierten und eine Karriere anstrebten. Das machte auch die Pille möglich: Durch das hormonelle Verhütungsmittel konnten Frauen mit ihren Partnern genauer planen, wann sie eine Familie gründen. Damit hat sich das Alter, in dem Frauen Kinder bekommen, durchschnittlich erhöht – und ermöglichte den Abschluss zeitaufwändiger Studiengänge wie Jura oder Medizin. Das hat sogar dazu geführt, dass in manchen Industriestaaten inzwischen sogar mehr Frauen einen höheren Bildungsabschluss besitzen als Männer.
Kinder verursachen den Gender-Pay-Gap
Goldin hat sich auch mit der geschlechtsspezifischen Lohnlücke, dem Gender-Pay-Gap, beschäftigt. Auch wenn Frauen eine immer größere Rolle im Arbeitsmarkt einnehmen, heißt das nicht, dass sie ebenso viel verdienen wie ihre männlichen Kollegen. Bis heute ist eine Lohnlücke zwischen Männern und Frauen in ähnlichen Positionen beobachtbar, die je nach Land zwischen 10 und 20 Prozent beträgt.
Obwohl Frauen mit dem Beginn der industriellen Revolution seltener beruflich angestellt waren, nahm damals die Ungleichheit in der Entlohnung ab: Da Frauen häufig in Sektoren arbeiteten, in der man nach Produktivität (etwa nach Stückzahl) bezahlt wurde, verdienten sie ähnlich viel wie ihre Kollegen. Doch im Lauf des 20. Jahrhunderts setzten sich immer mehr monatliche Löhne durch, in denen Frauen häufig benachteiligt wurden und teilweise noch immer werden.
Wie Goldin zusammen mit ihren Kollegen Marianne Bertrand und Lawrence Katz im Jahr 2011 zeigte, liegt das vor allem in der Elternschaft begründet. Zu Beginn der Karriere sind die Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen meist gering, mit dem ersten Kind nimmt das durchschnittliche Gehalt von Frauen jedoch ab. Das lässt sich teilweise dadurch erklären, dass Frauen meist einen größeren Anteil an der Kindererziehung haben und dadurch dem Arbeitgeber eingeschränkter zur Verfügung stehen.
Die Erkenntnisse von Goldin konnten »unser Verständnis über die weibliche Erwerbstätigkeit verbessern«, wie das Nobelpreiskomitee erklärte. Dank ihrer Erkenntnisse können Staaten über Maßnahmen nachdenken, die die immer noch bestehenden Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt verringern. In Entwicklungs- und Schwellenländern könnten zum Beispiel Bildungsprogramme für Frauen hilfreich sein, während in Industriestaaten flexiblere Arbeitszeiten einen positiven Effekt haben könnten. Aber wie Goldins Arbeiten gezeigt haben, erfordert ein Wandel vor allem eines: Zeit.
Zwischen dem 2. und dem 9. Oktober haben die Nobelkomitees die Preisträger des Jahres 2023 bekannt gegeben. Auf unserer Themenseite »Nobelpreise – die höchste Auszeichnung« erfahren Sie, wer einen der renommierten Preise erhalten hat. Dort können Sie außerdem das Wesentliche über die Laureaten und ihre Forschung nachlesen.
Damit sind alle Nobelpreisträgerinnen und -träger für dieses Jahr bekannt. Bereits in der vergangenen Woche waren nach und nach die Namen der Ausgezeichneten in den Kategorien Medizin, Physik, Chemie, Literatur und Frieden verkündet worden. Feierlich überreicht werden die Nobelpreise am 7. Dezember 2023. Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ist der einzige der Nobelpreise, der nicht auf das Testament von Alfred Nobel zurückgeht. Er wird seit Ende der 1960er Jahre von der schwedischen Reichsbank gestiftet und zählt somit streng genommen nicht zu den klassischen Nobelpreisen. Vergangenes Jahr waren die in den USA forschenden Ökonomen Ben Bernanke, Douglas Diamond und Philip Dybvig mit der prestigeträchtigen Auszeichnung geehrt worden.
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