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News: Nobelpreis für Wirtschaft 1998

Können die Werte, die einzelne Mitglieder einer Gesellschaft verschiedenen Alternativen zuordnen, so in einen Gesamtwert für eine Gesellschaft aggregiert werden, daß es sowohl fair als auch nach der Theorie vernünftig ist? Ist das Mehrheitsprinzip eine durchführbare Entscheidungsregel? Wie können Einkommensungleichheiten gemessen werden? Wann und wie ist die Verteilung von Wohlstand in verschiedenen Gesellschaften vergleichbar? Wie kann am besten festgestellt werden, ob Armut im Rückgang ist? Was sind die Faktoren, die den Verlauf von Hungersnöten bestimmen? Amartya Sen, der Nobelpreisträger für Wirtschaft 1998, leistete entscheidende Beiträge zur Forschung über solche grundlegenden Probleme der Wohlfahrtsökonomie.
Er beschäftigte sich mit den Bedingungen, unter denen sich bei der Zusammenführung von Werten Einzelner kollektive Entscheidungen ergeben, und auch wie sich Regeln für solche Gruppenentscheidungen aufstellen lassen, die mit den individuellen Rechten vereinbar sind. Der indische Wissenschaftler verbesserte die theoretischen Grundlagen, mit denen verschiedene Arten von Wohlstandsverteilungen in Gesellschaften verglichen werden können. Außerdem gelang es ihm, einen neuen und den Ansprüchen genügenden Armutsindex zu definieren. In empirischen Studien führte die Anwendung seines theoretischen Ansatzes zu einem erweiterten Verständnis der ökonomischen Mechanismen, die hinter Hungersnöten stehen. Verbunden wurden diese Themen durch sein allgemeines Interesse an Verteilungsfragen und sein spezielles Augenmerk für die ärmsten Mitglieder einer Gesellschaft.

Der Nobelpreisträger für Wirtschaft im Jahre 1972 Kenneth Arrow befand in den frühen 50er Jahren in einer Studie über die Möglichkeiten der Aggregation individueller Entscheidungen, daß keine Regeln dafür existieren, die den von ihm aufgestellten fünf Axiomen entsprechen. Diesem "Unmöglichkeitstheorem" begegnete Sen 1970 mit seiner Monographie Collective Choice and Social Welfare. Mit diesem Buch schaffte er es, das Forschungsinteresse an den grundlegenden Fragen der Wohlfahrt wieder zu beleben und neue Aspekte ins Spiel zu bringen. Sem behandelte Themen wie das Mehrheitsgesetz, individuelle Rechte und die Verfügbarkeit von Informationen über den Wohlstand einzelner.

Um die Verteilung von Wohlstand in verschiedenen Ländern zu vergleichen oder die Entwicklungen in einem Land zu untersuchen, ist eine Meßgröße notwendig, nach der Unterschiede in Wohlstand oder Einkommen festgestellt werden könen. Serge Kolm, Anthony Atkinson und – etwas später – Amartya Sen waren die ersten, die substantielle Ergebnisse auf diesem Gebiet erzielten. Um 1970 arbeiteten sie den Zusammenhang zwischen der sogenannten Lorenz-Kurve heraus, welche die Einkommenverteilung beschreibt, dem Gini-Koeffizienten, der den Grad der Einkommensungleichheit kennzeichnet, und der Ordnung verschiedener Einkommensverteilungen in einer Gesellschaft. Sen erweiterte diese Arbeiten später durch die Definition eines Armutsindex und anderer Wohlstandsindikatoren.

Eine übliche Methode, um die Armut innerhalb einer Gesellschaft zu erfassen, ist der Anteil H von Einkommen unter einer festgelegten Armutsgrenze in einer Population. Aber die theoretischen Grundlagen dieses Ansatzes waren unklar. Außerdem wurde auf diese Weise nicht der Armutsgrad unter den Armen erfaßt. Auch eine signifikante Änderung des Einkommens in den ärmsten Gruppen innerhalb einer Gesellschaft würde keine Änderung von H veranlassen, solange die bestimmte Armutsgrenze nicht überschritten wird. Sen postulierte fünf Axiome, aus denen er den Armutsindex ableitete: P = H * [I + (1 - I) * G]. G steht hierbei für den Gini-Koeffizienten und I (zwischen 0 und 1 gelegen) ist der Meßwert der Einkommensverteilung, wobei beide Werte nur für den Teil der Gesellschaft berechnet werden, der unter der Armutsgrenze liegt.

Nicht nur der Armuts- sondern auch der Wohlstandindex dient zur Beurteilung einer Gesellschaft. Ein Problem bei dem Vergleich des Wohlstandes verschiedener Gruppen ist, daß mit solchen Indikatoren wie dem Einkommen pro Kopf nur durchschnittliche Bedingungen erfaßt werden. Sen entwickelte Alternativen, die auch die Verteilung des Wohlstandes einbeziehen. Seine Alternative ist, den Wohlstand nach der Formel y * (1 - G) zu berechnen, wobei y das Einkommen pro Kopf darstellt und G den Gini-Koeffizienten.

Sen betonte in seiner Arbeit, daß Wohlstand nicht in Gütern allgemein gesehen werden kann, sondern in der Aktivität, die benötigt wird, sie zu erlangen. Dies heißt, daß das Einkommen aufgrund der Möglichkeiten, die es eröffnet, entscheidend ist. Aber die aktuellen Möglichkeiten hängen auch von anderen Faktoren wie etwa der Gesundheit ab, die also in die Berechnung des Wohlstandes einbezogen werden müssen. Andere Wohlstandsindices, wie der Human Development Index der Vereinten Nationen wurden genau in diesem Sinne konstruiert.

Fast Sens gesamte Arbeit befaßt sich mit Entwicklungsökonomie, da sie sich häufig dem Wohlstand der ärmsten Mitglieder einer Gesellschaft widmet. Seine theoretischen Ansätze wandte er auch auf das Studium gegenwärtiger Hungersnöte an. Eines seiner bekanntesten Werke ist das 1981 erschienene Buch Poverty and Famines: An Essay on Entitlement and Deprivation. Hier stellt er in Frage, daß tatsächlich ein Mangel an Nahrungsmitteln der wichtigste (und manchmal einzige) Grund für das Auftreten von Hungersnöten ist. Er analysiert Katastrophen in Indien, Bangladesh und den Ländern der Sahara seit 1940. Sen weist auf, daß Hungersnöte auch dann auftraten, wenn die Versorgung mit Nahrung nicht schlechter war als in vorhergehenden Jahren (ohne Hungersnöte). Einige der betroffenen Gebiete exportierten zur betreffenden Zeit sogar Lebensmittel. Sen zeigt, wie wichtig eine übergreifende Analyse der verschiedenen sozialen und ökonomischen Faktoren ist, die die unterschiedlichen Gruppen einer Gesellschaft beeinflussen und deren Möglichkeiten bestimmen. In späteren Werken – zusammengefaßt in einem Buch mit Jean Drè; von 1989 – befaßt sich Sen mit der Frage, wie Hungersnöte verhindert oder ihre Auswirkungen vermindert werden können.

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Kurzbiographien

Amartya Sen wurde 1933 in Bengal geboren. Er hat zunächst in Kalkutta und dann Cambridge studiert, wo er 1959 promovierte. Als Professor lehrte er in Dehli, London und Oxford. Im Jahre 1998 gab er seine Professur in Ökonomie und Philosophy an der Harvard University auf, und wurde Master of Trinity College in Cambridge.

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