Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 2023: Impfstoffe aus der Maßschneiderei
Es gab wohl selten ein so stark favorisiertes Thema für den Medizin-Nobelpreis wie in diesem Jahr. Die mRNA-Forscher Katalin Karikó und Drew Weissman erhielten am Montag, den 2. Oktober 2023, die Nachricht über diese höchste Auszeichnung in der Wissenschaft. Mit ihrer Forschung ebneten sie den Weg für die Entwicklung moderner Impfstoffe, allen voran des Vakzins gegen Covid-19, das Fachleuten zufolge Millionen Menschen das Leben gerettet hat. »Eine bessere Wahl für den Nobelpreis Medizin könnte es nicht geben«, schreibt Gesundheitsminister Karl Lauterbach auf der Plattform X (ehemals Twitter).
»Während einer der größten Bedrohungen für die menschliche Gesundheit in der heutigen Zeit konnten so schnell wie nie zuvor Impfstoffe entwickelt werden«, sagte das Komitee bei der Verleihung. »Weltweit wurden insgesamt mehr als 13 Milliarden Covid-19-Impfdosen verabreicht.« Die Vakzine des Mainzer Pharmakonzerns Biontech und des US-Unternehmens Moderna waren die ersten mRNA-Produkte, die für den Einsatz am Menschen zugelassen waren. Sie basieren auf einem gänzlich neuen Wirkprinzip, bei dem der Körper jene Virusbestandteile selbst herstellt, die das Immunsystem attackieren soll.
Herkömmliche Impfstoffe enthalten entweder abgeschwächte oder inaktivierte Viren oder Bestandteile der Pathogene, gegen die der Körper eine Immunantwort entwickeln soll. Kommen wir später erneut mit dem Krankheitserreger in Kontakt, sind die passenden Antikörper schnell zur Stelle. Für die Entwicklung eines solchen Impfstoffs gegen Gelbfieber erhielt Max Theiler 1951 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Nachteil ist die langwierige Produktion: Die Viren werden entweder in Hühnereiern oder in Zellkulturen vermehrt und anschließend unschädlich gemacht, was viel Zeit und Geld kostet.
mRNA-Impfstoffe dagegen lassen sich vergleichsweise kostengünstig in großen Mengen rasch im Labor produzieren. Sie enthalten künstlich hergestellte Boten-RNA (messenger-RNA, kurz: mRNA), die in eine Hülle aus Fett verpackt wird. Zellen nutzen mRNA normalerweise als Blaupause, um Proteine nach dem Bauplan unseres Erbguts herzustellen. Dafür übersetzen sie in ihrem Kern einzelne Abschnitte der Desoxyribonukleinsäure (DNA), die unsere gesamte genetische Information enthält, in kurze mRNA-Stränge. Die mRNA verlässt daraufhin den Zellkern und begibt sich zu den Ribosomen, wo nach ihrer Anleitung schließlich die Proteine zusammengebaut werden.
Die Idee hinter den neuen Impfstoffen: Die mRNA codiert für bestimmte Oberflächenproteine krank machender Viren. Injiziert man die Molekülstränge einem Menschen, gelangen sie in die Körperzellen, wo nach ihrem Bauplan entsprechende Virusbestandteile gefertigt werden. Ab diesem Punkt läuft alles so ab wie bei den herkömmlichen Vakzinen: Der Organismus erkennt die Proteine als fremd und leitet eine Immunreaktion gegen sie ein.
Zwischen dem 2. und dem 9. Oktober haben die Nobelkomitees die Preisträger des Jahres 2023 bekannt gegeben. Auf unserer Themenseite »Nobelpreise – die höchste Auszeichnung« erfahren Sie, wer einen der renommierten Preise erhalten hat. Dort können Sie außerdem das Wesentliche über die Laureaten und ihre Forschung nachlesen.
An der Technik feilen Forscherteams schon seit mehr als 30 Jahren. Ende der 1980er Jahre entdeckte Robert Malone, damals Doktorand am Salk Institute for Biological Studies im kalifornischen La Jolla, dass menschliche Zellen von Fetttröpfchen umhüllte mRNA aufnehmen und nach ihrer Vorlage Proteine produzieren können.
Damit war der Grundstein für die Entwicklung von mRNA-Impfstoffen gelegt. Der Weg dorthin jedoch war steinig: Zahlreiche Arbeitsgruppen experimentierten mit verschiedenen Mixturen aus Fetten und Nukleinsäuren – mit meist ernüchterndem Ergebnis. Denn das Hauptproblem bestand darin, dass der Körper die eingebrachte mRNA rasch als fremd erkannte und attackierte. Er reagierte mit starken Entzündungen und zersetzte die labilen Stränge, bevor die Zellen daraus eine nennenswerte Menge an Proteinen herstellen konnten.
Daher hielt sich die Ansicht hartnäckig, mRNA sei zu instabil und zu teuer in der Herstellung. »Wenn Sie mich damals gefragt hätten, ob man einem Menschen RNA als Impfstoff injizieren kann, hätte ich Ihnen den Vogel gezeigt«, sagte Matt Winkler, der 1989 eines der ersten Unternehmen für RNA-Laborbedarf gründete, dem Fachmagazin »Nature«.
Katalin Karikó und Drew Weissman machten jedoch eine entscheidende Entdeckung: In Experimenten griffen Zellen des Immunsystems lediglich künstlich im Labor hergestellte mRNA an, nicht aber solche aus Säugetieren. Die Moleküle mussten sich also irgendwie unterscheiden. Offenbar sind einige Bausteine der mRNA in Säugetierzellen häufig chemisch verändert, jene der synthetischen Stränge aber nicht.
Ebenso wie die DNA enthält die mRNA einzelne Nukleoside, die wiederum aus einer Base und einem Zuckermolekül zusammengesetzt sind. Bei der RNA sind es Adenosin (A), Guanosin (G), Cytidin (C) und Uridin (U). Karikó und Weissman testeten nun ein Verfahren namens Basenmodifikation: Sie bauten verschiedene Nukleoside minimal um und untersuchten den Effekt. Bei einem hatten sie Erfolg: Ersetzten sie das Uridin der künstlichen mRNA durch so genanntes Pseudouridin, das auch in tierischer RNA vorkommt, reagierte das Immunsystem kaum noch auf die fremden Molekülstränge. Die beiden publizierten die bahnbrechenden Ergebnisse 2005 im Fachmagazin »Immunity«. Gleichzeitig produzierten die Zellen deutlich mehr von den erwünschten Proteinen.
Damit waren die größten Hindernisse auf dem Weg zu einem mRNA-Impfstoff aus dem Weg geräumt. Karikó habe nie daran gezweifelt, dass ihr Ansatz funktioniert, sagte sie der britischen Zeitung »The Guardian«: »Ich habe mir immer gewünscht, dass ich lange genug lebe, um zu sehen, wie etwas, an dem ich gearbeitet habe, genehmigt wird.«
Steiniger Weg zum Ruhm
Und das ist gar nicht so selbstverständlich. Denn Karikó musste im Lauf ihrer Karriere immer wieder Rückschläge einstecken. Als ihre Stelle an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften nicht verlängert wurde, wanderte sie 1985 mit ihrer Familie in die USA aus. Ab 1989 arbeitete sie als Assistenzprofessorin an der Medizinischen Fakultät der University of Pennsylvania und bemühte sich in den folgenden Jahren darum, die mRNA als Arzneimittel nutzbar zu machen. Aber ihre Finanzierungsanträge wurden wiederholt abgelehnt. Sie glaubte jedoch weiterhin an Ihre Idee.
1998 begegnete sie dem Immunologen Drew Weissman. »Ich traf ihn am Kopierer und sagte ihm, ich könne jede RNA machen«, erinnert sich Karikó gegenüber »The Guardian«. 2005 meldeten beide dann die bahnbrechenden Patente für ihre Entdeckungen an. Die University of Pennsylvania verkaufte die Lizenzen allerdings 2010 an ein anderes Unternehmen.
Drei Jahre später lernte Karikó dann Uğur Şahin kennen, der mit seiner Frau Özlem Türeci Biontech gegründet hatte. Er habe ihr noch am selben Tag einen Job angeboten, sagte Karikó der »New York Times«. Nach jahrelanger Zusammenarbeit hat sie das Unternehmen verlassen und ist seit Oktober 2022 nur noch dessen Beraterin.
Wie geht es weiter mit den mRNA-Vakzinen?
Biontech prüft derzeit einen Grippeimpfstoff in einer Phase-3-Studie. Moderna erprobt Vakzine gegen das RS- und das Cytomegalie-Virus (CMV), aber auch gegen Tuberkulose, Malaria und HIV. Große Hoffnungen ruhen außerdem auf der Krebstherapie. Mit dem Verfahren könne man für verschiedene Patienten schnell individuelle Impfstoffe herstellen, sagt Niels Halama vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ).
Derzeit untersuchen Dutzende Arbeitsgruppen den Nutzen von mRNA-Wirkstoffen gegen diverse Tumoren – von Melanomen über Lungen-, Prostata- und Brustkrebs bis hin zu Karzinomen der Bauchspeicheldrüse. Gerade für diese schwer behandelbaren Pankreaskarzinome habe eine kleine US-Studie viel versprechende Daten ergeben, sagt Halama. Und es gibt weitere Anwendungsmöglichkeiten. Sahin berichtete 2021 im Fachblatt »Science«, dass mRNA-Arzneimittel bei Autoimmunerkrankungen wie multipler Sklerose (MS) helfen könnten. Dazu gebe es bereits erste Hinweise aus Tierexperimenten.
Curevac-Gründer Ingmar Hoerr sagt, die Vorarbeit von Karikó und Weissman habe die Grundlage für eine Vielzahl von Therapien geliefert – und viele weitere kämen noch. »Wir werden erleben, dass Medikamente gegen andere Krankheiten entstehen, auch im Fall einer neuen Epidemie. Und so etwas werden wir wieder sehen, da bin ich mir relativ sicher.«
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