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Nobelpreis für Physik 2023: Am Herzschlag der Atome

Mit ihren Experimenten warfen sie erstmals einen Blick auf die Bewegung von Elektronen in Atomen und Molekülen. Mit Attosekundenpulsen sind Pierre Agostini, Ferenc Krausz und Anne L'Huillier zu scheinbar unerreichbaren Zeitskalen vorgedrungen.
ein illustriertes, von Licht bestrahltes Atom
Elektronen bewegen sich in Atomen (hier eine Illustration) eigentlich viel zu schnell, als dass man sie dabei beobachten könnte. Mit viel experimentellem Geschick gelingt das trotzdem.

Könnten wir die Welt aus der Perspektive von Attosekunden betrachten, dann wäre eine gewöhnliche Sekunde geradezu unvorstellbar lang – so lang, wie aus unserer alltäglichen Sekunden-Perspektive das Alter des Universums erscheint. Auf der Zeitskala von Attosekunden flitzen Elektronen durch Atome und Moleküle. Deswegen spielen sich hier die fundamentalen Prozesse der Biologie, der Elektronik und der Chemie ab. Dafür, dass sie Methoden entwickelt haben, mit denen sich diese eigentlich unfassbar kurzen Vorgänge untersuchen und beeinflussen lassen, erhalten Pierre Agostini, Ferenc Krausz und Anne L'Huillier den Nobelpreis für Physik 2023.

Die französische Atomphysikerin L'Huillier, die seit 1995 an der Universität Lund in Schweden lehrt, hat sich bereits in den 1980er Jahren der Bewegung von Elektronen in der Hülle von Atomen gewidmet – »absolut leidenschaftlich«, wie sie unmittelbar nach der Verkündung im Telefonat mit Abgesandten des Nobelkomitees betonte. Noch hörbar ergriffen von der Ehre der Auszeichnung, erzählte sie, dass sie die Nachricht inmitten einer Lehrveranstaltung erreicht hatte: »Die letzte halbe Stunde meiner Vorlesung gestaltete sich dann ein wenig schwierig.«

Zwischen dem 2. und dem 9. Oktober haben die Nobelkomitees die Preisträger des Jahres 2023 bekannt gegeben. Auf unserer Themenseite »Nobelpreise – die höchste Auszeichnung« erfahren Sie, wer einen der renommierten Preise erhalten hat. Dort können Sie außerdem das Wesentliche über die Laureaten und ihre Forschung nachlesen.

Bei ihren ersten bahnbrechenden Experimenten 1987 bestrahlte L'Huillier Edelgase mit den intensiven Lichtpulsen eines Infrarotlasers. Diese regten die Ladungsträger in den Hüllen der Atome zu Schwingungen an. Daraufhin gaben die Elektronen Strahlung mit kurzer Wellenlänge ab, die »hohen Harmonischen«. Der Begriff erinnert nicht zufällig an die Harmonielehre aus der Musik, bei der sich zum Grundton eines Instruments passende Obertöne gesellen. Ähnlich ist es bei den Edelgasatomen: Solche Strahlung besitzt ein Vielfaches der ursprünglichen Frequenz und hat ebenso laserartige Eigenschaften. Man kann also aus infrarotem Licht weitaus kurzwelligeres machen – und kurze Wellenlängen sind eine Grundvoraussetzung, wenn man zu winzigen Zeitskalen vordringen will. Die Wellenlänge ist umso kleiner, je höher die so genannte Harmonischenordnung ist. L'Huilliers verblüffende Erkenntnis: Die Intensität der ausgestrahlten Harmonischen nahm anfangs zwar schnell mit der Harmonieordnung ab, blieb dann aber im Fall von Argon von der 5. bis zur 33. Harmonischen etwa gleich groß. Erst anschließend sank sie weiter.

L'Huillier hatte also ein Plateau bei den hohen Harmonischen entdeckt, unerwartet intensive Strahlung selbst noch bei hohen Obertönen. Schnell war klar: Prinzipiell könnte sich das Phänomen zur Erzeugung ultrakurzer Lichtpulse nutzen lassen. Solche Blitze wären schnell genug, um die Vorgänge im Inneren von Atomen unter die Lupe zu nehmen. L'Huillier untersuchte die Erzeugung hoher Harmonischer nicht nur experimentell, sondern betrachtete den Prozess auch theoretisch näher. 1991 zeigte sie, welches Spektrum an hohen Harmonischen hervorgebracht wird und dass der Effekt auf das Verhalten einzelner Elektronen in der Atomhülle zurückgeht. Gemeinsam mit Kollegen präsentierte sie schließlich 1994 eine vollständig quantenmechanische Theorie dazu, wie hohe Harmonische vom Strahlungsfeld eines Lasers mit geringerer Frequenz erzeugt werden. Das Modell ließ sich auf beliebige Atompotenziale und Laserfelder anwenden.

Wie Licht mit Atomen wechselwirkt | Ein Elektron, das an den Kern seines Atoms gebunden ist, hat normalerweise nicht genug Energie, um die Elektronenhülle zu verlassen. Doch das Feld eines Laserpulses (rot) kann es nach außen befördern: Wenn der Laser die Energiebarriere niedriger drückt, kann das Elektron durch den quantenmechanischen Tunneleffekt entkommen. Das freie Elektron erhält daraufhin zusätzlich Energie aus dem schwingenden Laserfeld. Durch dieses wird es allerdings anschließend zurück zum Kern gezogen. Dabei verliert das Elektron die zusätzliche Energie in Form intensiver Strahlung. Diese besitzt eine deutlich kleinere Wellenlänge als das Laserlicht; beide Wellenlängen hängen aber miteinander zusammen.

Damit war nun also genau berechenbar, welche höheren Frequenzen ein Atom bei Anregung in welcher Intensität aussenden würde. Durch diese und weitere Arbeiten legte L'Huillier so die Grundlagen für die Erzeugung ultrakurzer Lichtpulse: Sollte es gelingen, die hohen Harmonischen vieler Atome auf die richtige Weise zu überlagern, ließen sich einige Bereiche der ausgesandten Strahlung verstärken und unerwünschte unterdrücken. Bei der Überlagerung aller Frequenzen blieben schließlich nur kurze, ausgeprägte Pulse übrig. Bei seiner Präsentation zur Verkündung des Nobelpreises zeigte Komiteemitglied Mats Larsson das Bild eines Orchesters: Jemand muss alle Atome passend dirigieren.

Ein Taktstock für Atome

Diese geschickte experimentelle Orchestrierung gelang den beiden weiteren Preisträgern Pierre Agostini und Ferenc Krausz. Agostini konzipierte von 1994 an zunächst Techniken, mit denen sich die Zeitdauer extrem kurzer Pulse überhaupt zuverlässig feststellen ließ. Parallel arbeiteten Agostini, Krausz und weitere Forschungsgruppen daran, mit diversen Tricks die Strahlung aus den angeregten Atomen auf möglichst kurze Zeiträume zu begrenzen und so Licht zu erhalten, das nur einzelne Blitze in der zeitlichen Größenordnung von Attosekunden enthält. Beispielsweise »mit Hilfe von Spiegeln, die bestimmte Wellenlängen selektiv reflektieren«, wie Krausz in einem Artikel für »Spektrum der Wissenschaft« 2009 beschrieb. So konnte Krausz »die höchsten Harmonischen vom Rest der Strahlung, den energieärmeren Harmonischen, separieren«.

Sowohl Agostini als auch Krausz gelang das schließlich erstmals im Jahr 2001 mit jeweils unterschiedlichen Methoden. An demselben Forschungsinstitut in der Nähe von Paris, an dem L'Huillier das Plateau bei hohen Harmonischen entdeckte, rief Agostini eine Reihe von Strahlungsblitzen mit einer Dauer von jeweils nur 250 Attosekunden hervor. Unterdessen berichtete Krausz von einzelnen Pulsen mit einer Länge von 650 Attosekunden. Der Blitz war zwar deutlich länger, aber dafür isoliert, und das ist für praktische Untersuchungen hilfreich. Denn wenn man viele ultrakurze Pulse nacheinander auf eine Probe fallen lässt, erhält man auf dem Detektor nur ein verschmiertes Gesamtbild aus der Überlagerung aller Einzelaufnahmen.

»Die Preisträger haben die Tür zur Welt der Elektronen aufgestoßen«Eva Olsson, Materialwissenschaftlerin

Von hier an wurde es möglich, in die bis dahin verborgene Sphäre enorm kurzer Zeiträume der Bewegung von Elektronen vorzudringen und zu beobachten, welche dynamischen Vorgänge etwa Biomolekülen und unterschiedlichsten Materialien ihre besonderen Eigenschaften verleihen. Elektronen in der Hülle von Atomen ließen sich dabei verfolgen, wie sie Energie aus der Umgebung aufnehmen und dabei beispielsweise aus dem Atom herausgeschlagen werden. Solche Abläufe waren bis dahin bloß eine Frage der Energiebilanz – ein schlichtes Ja oder Nein. Nun konnte man nicht nur sehen, ob gewisse Prozesse stattfinden oder nicht, sondern überdies zunehmend genau messen, wie rasch und an welchen Stellen in einem Atom, Molekül oder elektronischen Schaltkreis das geschieht. Laut der Materialwissenschaftlerin Eva Olsson vom Physik-Nobelkomitee »wurde die Tür zur Welt der Elektronen aufgestoßen«. Zum Beispiel maß ein Forschungsteam um Krausz im Jahr 2010, dass ein Elektron das Neonatom um rund 20 Attosekunden langsamer verlässt, je nachdem, aus welchem Bereich der Elektronenhülle es herausgeschlagen wird.

Ultraschnelle Licht-Schaltkreise?

Seit den ersten Experimenten Anfang des Jahrtausends brachten viele Teams das Konzept von der Grundlagenforschung näher an verschiedene mögliche Anwendungen. In einem weiteren Artikel für »Spektrum der Wissenschaft« hob Krausz 2014 die Fortschritte in dem wichtigen Gebiet der Elektronik hervor und fragte: »Können wir in einem geeigneten Material lichtgetriebene Schaltprozesse erreichen?« Denn »Attosekundenblitze eignen sich ideal, um zu untersuchen, wie sich die Elektronen in einem Festkörper verhalten, nachdem sie das intensive elektrische Feld eines Kurzpulslasers getroffen hat«. Mit Hilfe von Lichtblitzen lassen sich in Zukunft vielleicht Elektronenströme an- und ausschalten, viel schneller als in heutigen Schaltkreisen, hoffte der heutige Nobelpreisträger.

Inzwischen beschäftigt sich Krausz auch mit »molekularen Fingerabdrücken« in biologischen Proben. Hier sollen die hoch entwickelten Spektroskopietechniken aus der Forschung an Attosekundenpulsen dabei helfen, empfindliche Diagnosen etwa bei Krebs zu stellen. Vielleicht, so hoffte L'Huillier während des Telefonats anlässlich der Verkündung, wird es mit der Attosekundentechnik irgendwann nicht nur möglich, die Elektronenübergänge etwa bei chemischen Reaktionen nachzuvollziehen, sondern sogar die Reaktionen selbst zu kontrollieren. »Das wäre der Heilige Gral.«

»Es braucht Zeit, bis man Anwendungen für die Medizin, die Halbleiterindustrie oder die Chemie erkennt«Anne L'Huillier, Nobelpreisträgerin

Heute sind die leistungsfähigen Laser, die zur Erzeugung von Attosekundenpulsen nötig sind, immer besser auch für kleinere Labore verfügbar und lassen sich einfacher handhaben, resümierte Larsson. Zunehmend betreten neue Forschungsgruppen das Feld. Doch bis hierhin war es ein steiniger Weg. Das betonte auch L'Huillier. Deswegen sei Grundlagenforschung eben so wichtig, bekräftigte die Preisträgerin, die das Feld seit mehr als 30 Jahren vorantreibt: »Es braucht Zeit, bis man an einem Punkt ankommt, wo man Anwendungen für die Medizin, die Halbleiterindustrie oder die Chemie erkennt.«

Larsson stimmte zu. Wann immer es gelänge, neue Grenzen zu überschreiten, lerne man Neues. Dann beherrsche man die entsprechenden Technologien besser. Und danach könne man allmählich anfangen, über Anwendungen nachzudenken. Diesen langen Atem haben die drei Ausgezeichneten bewiesen, indem sie der Menschheit nach und nach den Weg bis zu den Skalen der Elektronen gebahnt haben. Die von ihnen entwickelten Instrumente eröffnen uns nun einen neuen Kosmos.

  • Quellen

Ferray, M. et al: Multiple-harmonic conversion of 1064 nm radiation in rare gases. Journal of Physics B: Atomic, Molecular and Optical Physics 21, 1988

Hentschel, M. et al.: Attosecond metrology. Nature 414, 2001

Paul, P. M. et al.: Observation of a Train of Attosecond Pulses from High Harmonic Generation. Science 292, 2001

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