Supraleitung: Noch immer in der Schwebe
Ein Vierteljahrhundert nach der Entdeckung der Hochtemperatur-Supraleitung hält die hitzige Debatte darüber an, wie dieses Phänomen funktioniert.
"Selbst die Türsteher der New Yorker Nachtklubs wussten von unserer Berühmtheit", erinnert sich Paul Grant an die Tagung der American Physical Society (APS) im März 1987. Der Medienrummel hatte sich über Monate hinweg gesteigert. Zeitungen, Magazine und Talkshows im Fernsehen posaunten atemberaubende Bekanntmachungen aus den physikalischen Laboren heraus: Eine technische Revolution schien unmittelbar bevorzustehen – ein Zeitalter schwebender Züge, münzgroßer Computer und von Hochspannungsleitungen, die den ganzen Kontinent überspannen, ohne Energie zu verlieren. Als die Tagung schließlich begann, so Grant, Physiker des Energieberatungsunternehmens W2AGZ Technologies in San Jose, Kalifornien, wurde jeder, der mit einer APS-Plakette zu dem angesagten Klub "The Limelight" kam, ohne Umschweife ans vordere Ende der Warteschlange geführt.
Doch die öffentliche Begeisterung war nichts gegen die stürmische Ekstase der Physiker. Am Abend des 18. März 1987 drängelten sich über 1800 APS-Teilnehmer in den Festsaal des New York City Hilton, um ein Marathonprogramm von Vorträgen anzuhören, das über sieben Stunden andauerte. Bei diesem mitunter lärmenden Symposium – später auch als "Woodstock der Physik" bezeichnet – verschlangen die Forscher die neuesten Erkenntnisse über die wohl erstaunlichste Entdeckung der Physik seit einer Generation: Materialien, die bei hohen Temperaturen zu Supraleitern werden.
"Hohe Temperatur" ist dabei allerdings ein relativer Begriff: Selbst die besten dieser Verbindungen gehen nicht in den supraleitenden Zustand über – einen Zustand, in dem sie keinen elektrischen Widerstand besitzen –, bevor sie auf unter 93 Kelvin (minus 180 Grad Celsius) gekühlt werden.
Und sie wussten, dass sich 93 Kelvin leicht mit billigem, im Überfluss verfügbarem Stickstoff als Kühlmittel erreichen lassen – im Gegensatz zu dem teuren, schwierig handhabbaren Helium, das für frühere Supraleiter nötig war. Plötzlich schienen Anwendungen der Supraleitung wie verlustlose Hochspannungsleitungen wirtschaftlich machbar. Und es gab eine lebhafte Diskussion über eine noch fantastischere Idee: Könnte es Materialien geben, die sogar ohne jede Kühlung supraleitend werden?
Doch 25 Jahre nach der Veröffentlichung der ersten Arbeit über Hochtemperatur-Supraleiter sind solche Materialien immer noch ein Traum. Und es fehlt weiterhin ein tiefes Verständnis davon, was bei der Hochtemperatur-Supraleitung überhaupt passiert. Trotz stetig verfeinerter experimenteller Methoden und nahezu 200 000 Veröffentlichungen besitzen die Physiker keine vollständige theoretische Erklärung für die Hochtemperatur-Supraleitung. "Nicht, dass es keine Theorie gäbe. Es gibt viele Theorien – nur keine, der die meisten Leute zustimmen würden", sagt John Tranquada, Physiker am Brookhaven National Laboratory in Upton im US-Bundesstaat New York.
Der Fortschritt ist eine Schnecke
Doch ein Blick in die Geschichte der Physik fördert Beruhigendes zu Tage. Die Physiker brauchten 50 Jahre, um die konventionelle Supraleitung zu verstehen. Das Phänomen wurde vor 100 Jahren von Heike Kamerlingh Onnes an der Universität Leiden in den Niederlanden entdeckt. Am 8. April 1911, nach einer Messung des elektrischen Widerstands bei auf drei Kelvin gekühltem Quecksilber, notierte Onnes "Kwik nagenoeg nul" (Quecksilber praktisch null) in seinen Laboraufzeichnungen – das war die erste Beobachtung der Supraleitung.
Ein erster Schritt in Richtung auf eine Erklärung der Supraleitung war die Entwicklung der Quantenmechanik in den 1920er Jahren, die ein grundlegendes Modell der Struktur gewöhnlicher Metalle lieferte. Metallatome bilden ein regelmäßiges Kristallgitter und besitzen eine eng gebundene innere Wolke von Elektronen. Doch ihre nur lose gebundenen äußeren Elektronen können ungebunden werden und einen beweglichen "Elektronensee" bilden. Unter dem Einfluss eines elektrischen Felds kann sich dieser Ozean aus freien Elektronen langsam durch das Gitter bewegen. Das ist die Grundlage der elektrischen Leitfähigkeit.
In einem normalen Metall ist diese Bewegung nicht immer vorhersagbar: Egal, wie kalt es wird, streuen zufällige thermische Fluktuationen die Elektronen. Das stört die Vorwärtsbewegung der Elektronen und "zerstreut" ihre Energie – und erzeugt so den elektrischen Widerstand. Doch wenn man bestimmte Metalle auf Temperaturen nahe am absoluten Nullpunkt abkühlt, dann gehen die Elektronen plötzlich in einen hochgradig geordneten Zustand über. Sie bewegen sich nun gemeinsam, ohne von ihrem Weg abzuweichen. Unterhalb einer kritischen Temperatur, die materialabhängig ist, fällt der elektrische Widerstand bei diesen Metallen auf null ab – jeder elektrische Strom fließt also praktisch für immer weiter. Die Metalle werden zu Supraleitern.
Cooper-Paare und Co
Warum aber bildet sich dieser geordnete Zustand? Im Februar 1957 veröffentlichten die drei Physiker John Bardeen, Leon Cooper und Robert Schrieffer von der University of Illinois in Urbana-Champaign die erste vollständige Antwort auf diese Frage. Gemäß diesem heute als BCS-Theorie bekannten Vorschlag erzeugt ein Elektron, das sich durch ein positiv geladenes Gitter aus Atomkernen bewegt, eine Art Kielwasser, eine leichte Deformation des Kristallgitters. In diese Störung wird ein weiteres Elektron hineingezogen – und beide Elektronen zusammen bilden ein so genanntes Cooper-Paar. Wenn sich viele solcher Paare bilden, wie es bei extrem niedrigen Temperaturen der Fall ist, gleichen sich ihre quantenmechanischen Wellenfunktionen aneinander an, die Paare bilden einen kollektiven Zustand, der als Kondensat bezeichnen wird. Von nun an halten sie sich gegenseitig in Schach, weil das Auseinanderbrechen eines Paars die Energie aller anderen Paare erhöhen würde. Im Endergebnis fließen alle gemeinsam ohne Unterbrechung und erzeugen so die Supraleitung.
Die Theorie erwies sich als überaus erfolgreich, sie machte viele Voraussagen, die von den Physikern schnell experimentell bestätigt werden konnten. Aber die Theorie impliziert auch, dass die Bindungskräfte der Cooper-Paare sehr schwach sind. Thermische Schwingungen müssten die Paare also sofort zerstören, wenn die Temperaturen nicht extrem niedrig sind. "Ganze Armeen von Forschern arbeiteten in den 1950er und 1960er Jahren daran, den Temperaturbereich zu vergrößern", sagt Jan Zaanen, theoretischer Physiker an der Universität Leiden. "Doch schnell fanden sie heraus, dass es oberhalb von 25 oder 30 Kelvin keine Supraleitung geben kann." Solche Temperaturen erfordern im Allgemeinen eine ausgefeilte Kühlung mit flüssigem Helium, das bei 4,2 Kelvin kocht.
Diese Hürde verhinderte keineswegs die Nutzung supraleitender Drähte und Filme in hochwertigen Anwendungen wie etwa der medizinischen Magnetresonanztomografie oder Teilchenbeschleunigern. Doch die hohen Kosten schienen Anwendungen in einem breiteren Bereich zu unterbinden.
Der Isolator, der plötzlich leitet
Im Juni 1986 berichteten dann die Physiker Georg Bednorz und Alex Müller vom IBM-Forschungslabor in Zürich über ein Material, das bei 35 Kelvin supraleitend wird. Und im Januar 1987 stießen amerikanische Wissenschaftler auf einen ähnlichen Stoff, der sogar schon bei 93 Kelvin Supraleitung zeigt. Das "Woodstock der Physik" fand knapp zwei Monate danach statt.
Einer der vielen erstaunlichen Aspekte der Arbeit von Bednorz und Müller war, dass sie sich nicht mit Metallen, sondern mit isolierenden Stoffen befasste: Kupferoxiden, die von den Physikern Cuprate getauft wurden. Die beiden Forscher untersuchten insbesondere, was passiert, wenn ein Cuprat dotiert wird, also fremde Elemente wie Lanthan oder Barium in das aus parallelen Schichten aus Kupfer und Sauerstoff aufgebaute Gitter eingebaut werden. Sie fanden heraus, dass diese fremden Atome das äußere Elektron von einigen der Kupferatome freisetzen.
Diese ungewöhnliche Situation – Supraleitung in einem Isolator – führte umgehend dazu, dass die Physiker ihre grundlegenden Ideen über kondensierte Materie überdenken mussten. Da jedoch einige der Experimente unwissentlich mit unreinen Materialien durchgeführt worden waren, hatten andere Forscher Probleme, die Ergebnisse zu reproduzieren. "Die ersten Jahre dieses Forschungsgebiets waren ziemlich verwirrend", konstatiert Patrick Lee, Physiker am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge. Bizarre und exotische Hypothesen wurden ins Gespräch gebracht – häufig ohne dass es allzu viel Beweise gab, die sie stützten.
Das Forschungsgebiet teilte sich bald in konkurrierende Lager auf, von denen jedes eine andere Theorie vertrat. Oftmals ignorierten Forscher einfach Daten, die nicht zu ihrer Lieblingstheorie passten. Sie klammerten sich mit geradezu religiösem Eifer an ihre Ideen – und attackierten jene Kollegen, die an etwas anderes glaubten.
Kathryn Moler, Physikerin an der Stanford University, erinnert sich an ein Kolloquium, bei dem ein zuhörender Wissenschaftler aufstand, mit dem Finger auf den Vortragenden zeigte und rief: "Lügner! Lügner! Meine Damen und Herren, dieser Mann ist ein Lügner, hören Sie nicht auf das, was er sagt!" Und Igor Mazin, Physiker am Naval Research Laboratory in Washington, erinnert sich an eine Konferenz im Jahr 1989, bei der Physiker, die verschiedene Theorien vertraten, auf der Bühne standen und "wie die Schulkinder geschrien haben".
Mit der Zeit kristallisierten sich aus dieser Kakofonie zwei Theorien heraus, mit der die meisten Physiker heute arbeiten. Die erste stammt im Wesentlichen von Philip Anderson, einem Experten für kondensierte Materie an der Princeton University im US-Bundesstaat New Jersey, das nach ihm als Anderson-Modell bezeichnet wird. Es geht davon aus, dass die Erzeugung der Elektronenpaare eine Eigenschaft der Cupratstruktur ist. Benachbarte Kupferatome können über chemische Valenzbindungen aneinandergekoppelt sein. Sie teilen sich dann Elektronen mit entgegengesetzten Spins. Normalerweise verankert diese Bindung die Spinpaare und verhindert so, dass ein Strom fließt. Doch wenn das Material dotiert ist, dann werden die Paare mobil, und aus den Valenzbindungen werden Cooper-Paare, die zu einem Supraleiter kondensieren.
Die zweite Theorie, das Spin-Fluktuations-Modell, hat am meisten Unterstützung unter den Forschern. Das von Philippe Monthoux (University of Edinburgh), Alexander Balatsky (Los Alamos National Laboratory) und David Pines (University of Illinois) entwickelte Modell postuliert, dass sich ein nicht dotiertes Cuprat in einem speziellen geordneten Zustand befindet, den die Forscher als "Anti-Ferromagnet" bezeichnen. Das bedeutet, dass sich die äußeren Elektronen der Kupferatome so ausrichten, dass benachbarte Spins jeweils entgegengerichtet sind: Der Spin eines Elektrons weist nach oben, der des nächsten nach unten, der nächste wieder nach oben und so weiter. Die von den Spins erzeugten Magnetfelder binden die Elektronen an ihre Plätze. Doch in dotierten Cupraten brechen die fremden Atome das starre, schachbrettartige Muster auf. Die Elektronenspins bekommen Freiräume. Ein vorüberziehendes Elektron kann dann ein pulsierendes Muster von Spins erzeugen, das den Gitterstörungen in einem konventionellen Supraleiter ähnelt. Diese Störung zieht dann Elektronen zusammen und ermöglicht ihnen, Cooper-Paare zu bilden und so in den supraleitenden Zustand überzugehen.
Erste Annäherungen der "verfeindeten" Lager
In den frühen Tagen, so Tranquada, lagen sich die Vertreter dieser beiden Ansätze ebenso in den Haaren wie alle anderen Forscher auf diesem Gebiet. Doch nach einer Weile "wurde es leichter, sich ein wenig zu entspannen und darüber zu reden, wo die Übereinstimmungen und wo die Unterschiede lagen. Wir können unsere Meinungen überwinden und versuchen, zumindest bei einigen Experimenten oder Berechnungen Übereinstimmungen zu finden, die hilfreich sein können." Die meisten Wissenschaftler sind sich nun grundsätzlich über viele Aspekte einig, wie zum Beispiel darüber, dass magnetische Wechselwirkungen wichtig sind.
Auch in den Laboren haben sich die Temperamente ein wenig abgekühlt. Verbesserte Methoden haben den Forschern dabei geholfen, exotischere Theorien zu verwerfen und die verbleibenden Ansätze zu verbessern. Ein gutes Beispiel ist die winkelaufgelöste Fotoelektronenspektroskopie (ARPES, angle-resolved photoemission spectroscopy). Das Verfahren nutzt hochenergetische Photonen, um zu untersuchen, was die Elektronen machen. "1993 konnten wir gerade einmal vier Spektren in zwölf Stunden aufnehmen", sagt Zhi-Xun Shen, Physiker an der Stanford University, der das ARPES-Verfahren verwendet. "Jetzt erhalten wir eins mit erheblich besserer Qualität in drei Sekunden."
Im Jahr 2008 entdeckten Hideo Hosono und seine Kollegen vom Tokyo Institute of Technology eine zweite Klasse von Hochtemperatur-Supraleitern, so genannte Pnictide, die auf Eisen und Arsen aufbauen. Diese Stoffe benötigen zwar niedrigere Temperaturen als Cuprate, um supraleitend zu werden – häufig unter 40 Kelvin –, aber sie bieten den Theoretikern eine neue Arena, um ihre Ideen zu testen.
"Es ist fast wie ein Neubeginn", sagt Thomas Maier, Physiker am Oak Ridge National Laboratory in Tennessee. Pnictide haben eine komplexere Struktur als Cuprate, aber sie könnten helfen zu entschlüsseln, welche Phänomene von zentraler Bedeutung für die Hochtemperatur-Supraleitung sind – und welche einfach ein Nebeneffekt der Struktur der Kupferoxide.
Auch bei der praktischen Anwendung des Phänomens haben die Wissenschaftler Fortschritte gemacht. In den vergangenen fünf Jahren ist es ihnen beispielsweise gelungen, Streifen aus Cupraten zu produzieren, die in Stromleitungen oder Kernspintomografen verwendetet werden können, die mit flüssigem Stickstoff gekühlt werden.
Die Wurzeln des Problems
Wohl niemand geht derzeit davon aus, dass wir in absehbarer Zeit zu einem vollständigen Verständnis der Hochtemperatur-Supraleitung gelangen – nicht zuletzt, weil eine solche Theorie zugleich einen gewaltigen Berg an Veröffentlichungen erklären müsste. "Eine ausreichend mächtige Theorie sollte alles erklären – und sich nicht nur die Rosinen herauspicken", sagt David Pines, Physiker an der University of Illinois in Urbana-Champaign.
Denn es ist keineswegs immer ganz klar, was überhaupt erklärt werden muss. Vor 15 Jahren stießen die Forscher beispielsweise darauf, dass sich bei einigen Hochtemperatur-Supraleitern bereits oberhalb der Übergangstemperatur Elektronenpaare bilden. In diesem als "Pseudolücke" bezeichneten Bereich organisiert sich das Material spontan in Streifen: lineare Regionen, die sich wie Flüsse verhalten und Elektronenpaare transportieren, die durch eine isolierende Landschaft führen, in der die Elektronen festsitzen. "Es ist ein Vorläuferzustand der Supraleitung, deshalb ist er von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis des Problems", sagt Ali Yazdani, Physiker an der Princeton University. Pines widerspricht ihm. Seiner Ansicht nach behindert der Pseudolückenzustand "die Supraleitung, aber er ist nicht für die Supraleitung verantwortlich".
So, wie die Physiker auf die hoch entwickelten Werkzeuge der Quantenmechanik warten mussten, um die Geheimnisse der traditionellen Supraleitung zu lüften, so sind die Forscher heute auf zukünftige Innovationen angewiesen, um ihre Aufgabe erfüllen zu können.
Die frühen Streitigkeiten haben zumindest eines sichergestellt: Nur die hartnäckigsten Wissenschaftler blieben am Ball. Jene, die dabei geblieben sind, sind vielleicht auf Grund ihrer Erfahrungen bescheiden geworden. "Unser größtes Problem ist meiner Ansicht nach die menschliche Fehlbarkeit", sagt Anderson. Vielleicht haben die anfänglichen Schwierigkeiten dazu geführt, Theorien zu formen, die dem Test der Zeit standhalten. "Am Ende ist es die Konkurrenz, die einen stark macht", so Shen.
Doch die öffentliche Begeisterung war nichts gegen die stürmische Ekstase der Physiker. Am Abend des 18. März 1987 drängelten sich über 1800 APS-Teilnehmer in den Festsaal des New York City Hilton, um ein Marathonprogramm von Vorträgen anzuhören, das über sieben Stunden andauerte. Bei diesem mitunter lärmenden Symposium – später auch als "Woodstock der Physik" bezeichnet – verschlangen die Forscher die neuesten Erkenntnisse über die wohl erstaunlichste Entdeckung der Physik seit einer Generation: Materialien, die bei hohen Temperaturen zu Supraleitern werden.
"Hohe Temperatur" ist dabei allerdings ein relativer Begriff: Selbst die besten dieser Verbindungen gehen nicht in den supraleitenden Zustand über – einen Zustand, in dem sie keinen elektrischen Widerstand besitzen –, bevor sie auf unter 93 Kelvin (minus 180 Grad Celsius) gekühlt werden.
"Nicht, dass es keine Theorie gäbe. Es gibt viele Theorien – nur keine, der die meisten Leute zustimmen würden"
John Tranquada
Aber das ist fast viermal höher als die Übergangstemperaturen von zuvor bekannten supraleitenden Stoffen. Und es durchbrach die bis dahin als gefestigt geltende theoretische Grenze von 30 Kelvin für die Supraleitung. Jedem im Festsaal war bewusst, dass alles, was hier passierte, grundlegend neu war. John Tranquada
Und sie wussten, dass sich 93 Kelvin leicht mit billigem, im Überfluss verfügbarem Stickstoff als Kühlmittel erreichen lassen – im Gegensatz zu dem teuren, schwierig handhabbaren Helium, das für frühere Supraleiter nötig war. Plötzlich schienen Anwendungen der Supraleitung wie verlustlose Hochspannungsleitungen wirtschaftlich machbar. Und es gab eine lebhafte Diskussion über eine noch fantastischere Idee: Könnte es Materialien geben, die sogar ohne jede Kühlung supraleitend werden?
Doch 25 Jahre nach der Veröffentlichung der ersten Arbeit über Hochtemperatur-Supraleiter sind solche Materialien immer noch ein Traum. Und es fehlt weiterhin ein tiefes Verständnis davon, was bei der Hochtemperatur-Supraleitung überhaupt passiert. Trotz stetig verfeinerter experimenteller Methoden und nahezu 200 000 Veröffentlichungen besitzen die Physiker keine vollständige theoretische Erklärung für die Hochtemperatur-Supraleitung. "Nicht, dass es keine Theorie gäbe. Es gibt viele Theorien – nur keine, der die meisten Leute zustimmen würden", sagt John Tranquada, Physiker am Brookhaven National Laboratory in Upton im US-Bundesstaat New York.
Der Fortschritt ist eine Schnecke
Doch ein Blick in die Geschichte der Physik fördert Beruhigendes zu Tage. Die Physiker brauchten 50 Jahre, um die konventionelle Supraleitung zu verstehen. Das Phänomen wurde vor 100 Jahren von Heike Kamerlingh Onnes an der Universität Leiden in den Niederlanden entdeckt. Am 8. April 1911, nach einer Messung des elektrischen Widerstands bei auf drei Kelvin gekühltem Quecksilber, notierte Onnes "Kwik nagenoeg nul" (Quecksilber praktisch null) in seinen Laboraufzeichnungen – das war die erste Beobachtung der Supraleitung.
Ein erster Schritt in Richtung auf eine Erklärung der Supraleitung war die Entwicklung der Quantenmechanik in den 1920er Jahren, die ein grundlegendes Modell der Struktur gewöhnlicher Metalle lieferte. Metallatome bilden ein regelmäßiges Kristallgitter und besitzen eine eng gebundene innere Wolke von Elektronen. Doch ihre nur lose gebundenen äußeren Elektronen können ungebunden werden und einen beweglichen "Elektronensee" bilden. Unter dem Einfluss eines elektrischen Felds kann sich dieser Ozean aus freien Elektronen langsam durch das Gitter bewegen. Das ist die Grundlage der elektrischen Leitfähigkeit.
In einem normalen Metall ist diese Bewegung nicht immer vorhersagbar: Egal, wie kalt es wird, streuen zufällige thermische Fluktuationen die Elektronen. Das stört die Vorwärtsbewegung der Elektronen und "zerstreut" ihre Energie – und erzeugt so den elektrischen Widerstand. Doch wenn man bestimmte Metalle auf Temperaturen nahe am absoluten Nullpunkt abkühlt, dann gehen die Elektronen plötzlich in einen hochgradig geordneten Zustand über. Sie bewegen sich nun gemeinsam, ohne von ihrem Weg abzuweichen. Unterhalb einer kritischen Temperatur, die materialabhängig ist, fällt der elektrische Widerstand bei diesen Metallen auf null ab – jeder elektrische Strom fließt also praktisch für immer weiter. Die Metalle werden zu Supraleitern.
Cooper-Paare und Co
Warum aber bildet sich dieser geordnete Zustand? Im Februar 1957 veröffentlichten die drei Physiker John Bardeen, Leon Cooper und Robert Schrieffer von der University of Illinois in Urbana-Champaign die erste vollständige Antwort auf diese Frage. Gemäß diesem heute als BCS-Theorie bekannten Vorschlag erzeugt ein Elektron, das sich durch ein positiv geladenes Gitter aus Atomkernen bewegt, eine Art Kielwasser, eine leichte Deformation des Kristallgitters. In diese Störung wird ein weiteres Elektron hineingezogen – und beide Elektronen zusammen bilden ein so genanntes Cooper-Paar. Wenn sich viele solcher Paare bilden, wie es bei extrem niedrigen Temperaturen der Fall ist, gleichen sich ihre quantenmechanischen Wellenfunktionen aneinander an, die Paare bilden einen kollektiven Zustand, der als Kondensat bezeichnen wird. Von nun an halten sie sich gegenseitig in Schach, weil das Auseinanderbrechen eines Paars die Energie aller anderen Paare erhöhen würde. Im Endergebnis fließen alle gemeinsam ohne Unterbrechung und erzeugen so die Supraleitung.
Die Theorie erwies sich als überaus erfolgreich, sie machte viele Voraussagen, die von den Physikern schnell experimentell bestätigt werden konnten. Aber die Theorie impliziert auch, dass die Bindungskräfte der Cooper-Paare sehr schwach sind. Thermische Schwingungen müssten die Paare also sofort zerstören, wenn die Temperaturen nicht extrem niedrig sind. "Ganze Armeen von Forschern arbeiteten in den 1950er und 1960er Jahren daran, den Temperaturbereich zu vergrößern", sagt Jan Zaanen, theoretischer Physiker an der Universität Leiden. "Doch schnell fanden sie heraus, dass es oberhalb von 25 oder 30 Kelvin keine Supraleitung geben kann." Solche Temperaturen erfordern im Allgemeinen eine ausgefeilte Kühlung mit flüssigem Helium, das bei 4,2 Kelvin kocht.
Diese Hürde verhinderte keineswegs die Nutzung supraleitender Drähte und Filme in hochwertigen Anwendungen wie etwa der medizinischen Magnetresonanztomografie oder Teilchenbeschleunigern. Doch die hohen Kosten schienen Anwendungen in einem breiteren Bereich zu unterbinden.
Der Isolator, der plötzlich leitet
Im Juni 1986 berichteten dann die Physiker Georg Bednorz und Alex Müller vom IBM-Forschungslabor in Zürich über ein Material, das bei 35 Kelvin supraleitend wird. Und im Januar 1987 stießen amerikanische Wissenschaftler auf einen ähnlichen Stoff, der sogar schon bei 93 Kelvin Supraleitung zeigt. Das "Woodstock der Physik" fand knapp zwei Monate danach statt.
Einer der vielen erstaunlichen Aspekte der Arbeit von Bednorz und Müller war, dass sie sich nicht mit Metallen, sondern mit isolierenden Stoffen befasste: Kupferoxiden, die von den Physikern Cuprate getauft wurden. Die beiden Forscher untersuchten insbesondere, was passiert, wenn ein Cuprat dotiert wird, also fremde Elemente wie Lanthan oder Barium in das aus parallelen Schichten aus Kupfer und Sauerstoff aufgebaute Gitter eingebaut werden. Sie fanden heraus, dass diese fremden Atome das äußere Elektron von einigen der Kupferatome freisetzen.
"Lügner! Lügner! Meine Damen und Herren, dieser Mann ist ein Lügner, hören Sie nicht auf das, was er sagt!"
(unbekannter Wissenschaftler)
Diese Elektronen können dann durch das Gitter fließen. Wenn nun das Cuprat ausreichend gekühlt wird – bis zu einer Temperatur, die von der Dotierung abhängt –, dann bewegen sich diese Elektronen ohne Widerstand: Das Material wird supraleitend. (unbekannter Wissenschaftler)
Diese ungewöhnliche Situation – Supraleitung in einem Isolator – führte umgehend dazu, dass die Physiker ihre grundlegenden Ideen über kondensierte Materie überdenken mussten. Da jedoch einige der Experimente unwissentlich mit unreinen Materialien durchgeführt worden waren, hatten andere Forscher Probleme, die Ergebnisse zu reproduzieren. "Die ersten Jahre dieses Forschungsgebiets waren ziemlich verwirrend", konstatiert Patrick Lee, Physiker am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge. Bizarre und exotische Hypothesen wurden ins Gespräch gebracht – häufig ohne dass es allzu viel Beweise gab, die sie stützten.
Das Forschungsgebiet teilte sich bald in konkurrierende Lager auf, von denen jedes eine andere Theorie vertrat. Oftmals ignorierten Forscher einfach Daten, die nicht zu ihrer Lieblingstheorie passten. Sie klammerten sich mit geradezu religiösem Eifer an ihre Ideen – und attackierten jene Kollegen, die an etwas anderes glaubten.
Kathryn Moler, Physikerin an der Stanford University, erinnert sich an ein Kolloquium, bei dem ein zuhörender Wissenschaftler aufstand, mit dem Finger auf den Vortragenden zeigte und rief: "Lügner! Lügner! Meine Damen und Herren, dieser Mann ist ein Lügner, hören Sie nicht auf das, was er sagt!" Und Igor Mazin, Physiker am Naval Research Laboratory in Washington, erinnert sich an eine Konferenz im Jahr 1989, bei der Physiker, die verschiedene Theorien vertraten, auf der Bühne standen und "wie die Schulkinder geschrien haben".
Mit der Zeit kristallisierten sich aus dieser Kakofonie zwei Theorien heraus, mit der die meisten Physiker heute arbeiten. Die erste stammt im Wesentlichen von Philip Anderson, einem Experten für kondensierte Materie an der Princeton University im US-Bundesstaat New Jersey, das nach ihm als Anderson-Modell bezeichnet wird. Es geht davon aus, dass die Erzeugung der Elektronenpaare eine Eigenschaft der Cupratstruktur ist. Benachbarte Kupferatome können über chemische Valenzbindungen aneinandergekoppelt sein. Sie teilen sich dann Elektronen mit entgegengesetzten Spins. Normalerweise verankert diese Bindung die Spinpaare und verhindert so, dass ein Strom fließt. Doch wenn das Material dotiert ist, dann werden die Paare mobil, und aus den Valenzbindungen werden Cooper-Paare, die zu einem Supraleiter kondensieren.
Die zweite Theorie, das Spin-Fluktuations-Modell, hat am meisten Unterstützung unter den Forschern. Das von Philippe Monthoux (University of Edinburgh), Alexander Balatsky (Los Alamos National Laboratory) und David Pines (University of Illinois) entwickelte Modell postuliert, dass sich ein nicht dotiertes Cuprat in einem speziellen geordneten Zustand befindet, den die Forscher als "Anti-Ferromagnet" bezeichnen. Das bedeutet, dass sich die äußeren Elektronen der Kupferatome so ausrichten, dass benachbarte Spins jeweils entgegengerichtet sind: Der Spin eines Elektrons weist nach oben, der des nächsten nach unten, der nächste wieder nach oben und so weiter. Die von den Spins erzeugten Magnetfelder binden die Elektronen an ihre Plätze. Doch in dotierten Cupraten brechen die fremden Atome das starre, schachbrettartige Muster auf. Die Elektronenspins bekommen Freiräume. Ein vorüberziehendes Elektron kann dann ein pulsierendes Muster von Spins erzeugen, das den Gitterstörungen in einem konventionellen Supraleiter ähnelt. Diese Störung zieht dann Elektronen zusammen und ermöglicht ihnen, Cooper-Paare zu bilden und so in den supraleitenden Zustand überzugehen.
Erste Annäherungen der "verfeindeten" Lager
In den frühen Tagen, so Tranquada, lagen sich die Vertreter dieser beiden Ansätze ebenso in den Haaren wie alle anderen Forscher auf diesem Gebiet. Doch nach einer Weile "wurde es leichter, sich ein wenig zu entspannen und darüber zu reden, wo die Übereinstimmungen und wo die Unterschiede lagen. Wir können unsere Meinungen überwinden und versuchen, zumindest bei einigen Experimenten oder Berechnungen Übereinstimmungen zu finden, die hilfreich sein können." Die meisten Wissenschaftler sind sich nun grundsätzlich über viele Aspekte einig, wie zum Beispiel darüber, dass magnetische Wechselwirkungen wichtig sind.
Auch in den Laboren haben sich die Temperamente ein wenig abgekühlt. Verbesserte Methoden haben den Forschern dabei geholfen, exotischere Theorien zu verwerfen und die verbleibenden Ansätze zu verbessern. Ein gutes Beispiel ist die winkelaufgelöste Fotoelektronenspektroskopie (ARPES, angle-resolved photoemission spectroscopy). Das Verfahren nutzt hochenergetische Photonen, um zu untersuchen, was die Elektronen machen. "1993 konnten wir gerade einmal vier Spektren in zwölf Stunden aufnehmen", sagt Zhi-Xun Shen, Physiker an der Stanford University, der das ARPES-Verfahren verwendet. "Jetzt erhalten wir eins mit erheblich besserer Qualität in drei Sekunden."
Im Jahr 2008 entdeckten Hideo Hosono und seine Kollegen vom Tokyo Institute of Technology eine zweite Klasse von Hochtemperatur-Supraleitern, so genannte Pnictide, die auf Eisen und Arsen aufbauen. Diese Stoffe benötigen zwar niedrigere Temperaturen als Cuprate, um supraleitend zu werden – häufig unter 40 Kelvin –, aber sie bieten den Theoretikern eine neue Arena, um ihre Ideen zu testen.
"Es ist fast wie ein Neubeginn", sagt Thomas Maier, Physiker am Oak Ridge National Laboratory in Tennessee. Pnictide haben eine komplexere Struktur als Cuprate, aber sie könnten helfen zu entschlüsseln, welche Phänomene von zentraler Bedeutung für die Hochtemperatur-Supraleitung sind – und welche einfach ein Nebeneffekt der Struktur der Kupferoxide.
"Wo zwei sind, da ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es auch noch mehr gibt"
(Andrew Millis)
Die Entdeckung der Pnictide hat die Forscher auch darin bestärkt, dass sie weitere Hochtemperatur-Supraleiter finden können. "Wo zwei sind, da ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es auch noch mehr gibt", sagt Andrew Millis, Physiker an der Columbia University in New York. Weitere Hochtemperatur-Supraleiter könnten den Forschern auch den Weg zur Entwicklung von Raumtemperatur-Supraleitern weisen. (Andrew Millis)
Auch bei der praktischen Anwendung des Phänomens haben die Wissenschaftler Fortschritte gemacht. In den vergangenen fünf Jahren ist es ihnen beispielsweise gelungen, Streifen aus Cupraten zu produzieren, die in Stromleitungen oder Kernspintomografen verwendetet werden können, die mit flüssigem Stickstoff gekühlt werden.
Die Wurzeln des Problems
Wohl niemand geht derzeit davon aus, dass wir in absehbarer Zeit zu einem vollständigen Verständnis der Hochtemperatur-Supraleitung gelangen – nicht zuletzt, weil eine solche Theorie zugleich einen gewaltigen Berg an Veröffentlichungen erklären müsste. "Eine ausreichend mächtige Theorie sollte alles erklären – und sich nicht nur die Rosinen herauspicken", sagt David Pines, Physiker an der University of Illinois in Urbana-Champaign.
Denn es ist keineswegs immer ganz klar, was überhaupt erklärt werden muss. Vor 15 Jahren stießen die Forscher beispielsweise darauf, dass sich bei einigen Hochtemperatur-Supraleitern bereits oberhalb der Übergangstemperatur Elektronenpaare bilden. In diesem als "Pseudolücke" bezeichneten Bereich organisiert sich das Material spontan in Streifen: lineare Regionen, die sich wie Flüsse verhalten und Elektronenpaare transportieren, die durch eine isolierende Landschaft führen, in der die Elektronen festsitzen. "Es ist ein Vorläuferzustand der Supraleitung, deshalb ist er von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis des Problems", sagt Ali Yazdani, Physiker an der Princeton University. Pines widerspricht ihm. Seiner Ansicht nach behindert der Pseudolückenzustand "die Supraleitung, aber er ist nicht für die Supraleitung verantwortlich".
So, wie die Physiker auf die hoch entwickelten Werkzeuge der Quantenmechanik warten mussten, um die Geheimnisse der traditionellen Supraleitung zu lüften, so sind die Forscher heute auf zukünftige Innovationen angewiesen, um ihre Aufgabe erfüllen zu können.
Die frühen Streitigkeiten haben zumindest eines sichergestellt: Nur die hartnäckigsten Wissenschaftler blieben am Ball. Jene, die dabei geblieben sind, sind vielleicht auf Grund ihrer Erfahrungen bescheiden geworden. "Unser größtes Problem ist meiner Ansicht nach die menschliche Fehlbarkeit", sagt Anderson. Vielleicht haben die anfänglichen Schwierigkeiten dazu geführt, Theorien zu formen, die dem Test der Zeit standhalten. "Am Ende ist es die Konkurrenz, die einen stark macht", so Shen.
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