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Nordsee-Expedition: »Das Gift löst sich ja nicht einfach auf«

Altmunition in Weltkriegswracks ist eine Gefahr für die Nordsee. Ein Interview mit dem Meeresbiologen Matthias Brenner vom Alfred-Wegener-Institut.
Probenentnahme

Torpedos, Granaten, Seeminen – auf dem Grund der deutschen Nordsee liegen hunderttausende Tonnen Explosivstoffe und Altmunition. Ein Teil davon steckt im Inneren von mindestens 120 versenkten Kriegsschiffen. Einige davon will das internationale Forschungsprojekt North Sea Wrecks jetzt auf ausgetretene Schadstoffe untersuchen. Die erste Expedition sollte zu drei Wracks aus dem Ersten Weltkrieg führen. Doch Orkanböen und sechs Meter hohe Wellen haben die Abfahrt so sehr verzögert, dass die Zeit nur für Untersuchungen an einem Schiff, dem 1914 vor Helgoland versenkten Kreuzer »SMS Mainz«, ausreichte. Am 11. April 2021 kehrte das Forscherteam nach Bremerhaven zurück. Der Meeresbiologe Matthias Brenner vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven leitete die Expedition.

»Spektrum.de«: Was haben Sie von der Untersuchung der »SMS Mainz« mitgebracht?

Matthias Brenner: Die Tauchcrew hat Organismen von der Außenwand des Wracks abgesammelt und sehr viel Film- und Fotomaterial gefertigt. Wir haben Wasser- und Sedimentproben genommen. Und wir haben direkt neben dem Wrack gefischt. Im Grundschleppnetz waren Plattfische, so genannte Klieschen. Sie gelten als besonders ortstreu, haben also mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Großteil ihres Lebens in der Nähe des Wracks verbracht.

Altmunition oder Sprengstoff haben Sie nicht gefunden?

Nein, das war auch nicht geplant. Aber falls Sprengstoffe oder ihre Abbauprodukte aus dem Wrack austreten, werden wir sie in den Proben finden.

Ist die Arbeit am Wrack der »SMS Mainz« damit abgeschlossen?

Matthias Brenner | Der Meeresbiologe (49) erforscht am Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut die Gefahren, die von Altmunition im Meer ausgehen. Im April 2021 leitete er eine Expedition zum Wrack des 1914 vor Helgoland versenkten Kreuzers »SMS Mainz«.

Noch nicht. Wir haben dort so genannte Lander ausgebracht. Das sind Metallgestelle, die der Kran direkt neben dem Wrack absetzt. Die Lander haben wir mit verschiedenen Messinstrumenten bestückt, außerdem mit Miesmuscheln in Käfigen. Die Muscheln sind ja Filtertiere und spiegeln die Schadstoffsituation vor Ort schnell und eindeutig wider. Die Substanzen reichern sich im Muschelfleisch an, das erleichtert die chemische Analyse und damit den möglichen Nachweis explosiver Stoffe. Ende Juni kommen wir dann mit einem kleinen Forschungsschiff zurück und sammeln die Lander wieder ein.

Wissen Sie denn, ob überhaupt noch Munition und Sprengstoff im Wrack stecken?

Da sind wir sehr sicher. Die »SMS Mainz« wurde 1914 zu Beginn des Ersten Weltkriegs versenkt. In Archiven gibt es Berichte darüber, wie die Schlacht um Helgoland genau abgelaufen ist. Wir wissen, was das Schiff geladen hatte, und aus den Kampfberichten können Sie ersehen, wie viel Munition verschossen wurde. Und da gibt es eine deutliche Differenz. Der Rest muss wohl noch an Bord sein. Auf dem Bildmaterial, das uns die Taucher gebracht haben, sind zumindest auf den ersten Blick keine größeren Munitionsvorkommen zu sehen. Aber das Wrack ist knapp 130 Meter lang, die Taucher waren auf Grund der schlechten Sichtbedingungen nur in einem kleinen Bereich unterwegs. Falls Munitionsreste an Bord sind, können wir sie indirekt nachweisen, durch Spuren von Kampf- und Explosivstoffen im Sediment, in den Organismen, die wir eingesammelt haben, und in den Wasserproben.

»Wir sind tatsächlich das erste Projekt, das sich um die Munitionsaltlasten in der deutschen Nordsee kümmert«

Haben Sie schon etwas gefunden?

Nein, diese Analysen sind recht aufwändig, die können wir nicht direkt an Bord durchführen. Das machen jetzt im Nachgang verschiedene Labore. Ergebnisse wird es in einigen Monaten geben.

Bisher ging es bei der Gefahr durch Weltkriegsmunition immer um die Ostsee. Ist die Nordsee nicht so sehr betroffen?

Im Gegenteil. Man schätzt die Menge in den deutschen Gewässern der Ostsee auf ungefähr 300 000 Tonnen. Im deutschen Teil der Nordsee liegen aber ziemlich sicher mehr als 1,3 Millionen Tonnen. Wir sind aber tatsächlich das erste Projekt, das sich um die Munitionsaltlasten in der deutschen Nordsee kümmert.

Weiß man, wo genau die sich befinden?

Ja, es gibt eine Karte, auf der Verklappungsorte und Fundstellen markiert sind. Diese Gebiete liegen vor allem im Bereich des Jadebusens, vor den Ostfriesischen Inseln und auch vor Sylt. Es sind relativ kleine Flächen, wo aber sehr, sehr viel auf einem Haufen liegt.

Ebbe und Flut haben das Material nicht längst verteilt?

Nein, man hat damals eine mehrere Meter dicke Schicht aus Sand und Sediment darübergespült, damit die Altmunition bei einem Wintersturm nicht an die Küste getrieben werden kann. In der Ostsee hat man darauf verzichtet. In der Kieler Bucht liegt verklappte Munition in zehn bis zwölf Meter Wassertiefe einfach auf dem Meeresboden. Was bei Manövern und Seeschlachten ins Meer gelangte, das ist heute natürlich völlig diffus verteilt, taucht mal hier auf und mal dort, wird weggespült oder übersandet.

In Ihrem Projekt kümmern Sie sich nur um die Altlasten in den rund 120 militärischen Wracks im deutschen Teil der Nordsee?

Genau. Diese Idee kam vom Deutschen Schifffahrtsmuseum. Dort gibt es umfassende Informationen über die Wracks in der Deutschen Bucht und auch darüber, unter welchen Umständen sie gesunken sind, ob es Schiffe der Marine waren oder nicht. Wracks sind eine sehr gute Möglichkeit, das ganze Thema für die Öffentlichkeit interessant zu machen. Deshalb bin ich froh, dass das Schifffahrtsmuseum aus unserem Projekt auch eine Wanderausstellung machen möchte, die ab August in den Nordsee-Anrainerstaaten gezeigt wird.

Wenn das Problem jetzt stärker ins Bewusstsein dringt, stellt sich natürlich die Frage: Wie könnte man es lösen?

Am Beispiel der »SMS Mainz« wollen wir jetzt erst einmal eine Risikobewertung vornehmen. Dann werden wir uns weitere Wracks angucken und ein Modell entwickeln, aus dem sich eine Prioritätenliste für das weitere Vorgehen ergibt. Was sind geeignete Monitoring-Konzepte? Wie könnten Räumungsszenarien aussehen? Technisch wäre es möglich, die Munition vom Grund zu bergen. Explosivstoffe aus einem Wrack zu holen, wäre aber wesentlich anspruchsvoller und teurer als die Bergung verklappter Altmunition. Außerdem ist so ein Weltkriegswrack ja auch ein historisches Denkmal und ein Seemannsgrab. Da muss man natürlich abwägen, inwieweit man die Totenruhe stört.

»Weil das Militär selbst in Verklappungen involviert war, hat es wenig Interesse an Aufklärung«

Kümmert sich bisher überhaupt niemand um die Altmunition in der Nordsee?

Doch. Wenn die Offshoreindustrie einen Windpark bauen will, muss sie den Standort und die Kabeltrassen erst einmal von Blindgängern und Altmunition räumen. Da gibt es inzwischen viel Erfahrung. Die zuständigen Länder und Bundesbehörden haben aus meiner Sicht bisher aber keinen systematischen Ansatz. Nur wenn irgendwo Munition auftaucht, die eine akute Gefahr darstellt, wird reagiert und gegebenenfalls entsorgt oder gesprengt.

Gibt es bessere Ansätze im Ausland?

Eher nicht. In den USA weiß ich nur von einem einzigen Projekt vor Hawaii, das inzwischen beendet ist. Auch im europäischen Raum findet wenig statt. Häufig ist das Problem, dass die Marine des jeweiligen Landes das Sagen darüber hat, was und wie untersucht werden kann. Und weil das Militär selbst in Verklappungen involviert war, hat es wenig Interesse an Aufklärung. In Frankreich ist es zum Beispiel völlig unmöglich, ein Projekt zum Thema Munitionsverklappung durchzuführen. Sie bekommen keine Daten, keine Informationen. In Deutschland haben wir den großen Vorteil, dass die Kampfmittelräumung beim Innenministerium angesiedelt ist, also zivil. Und dann hat man ein Auskunftsrecht, kann in Archive und Berichte gucken.

Die Weltkriegswracks liegen ja schon seit mindestens 75 Jahren am Meeresgrund. Sind die Schadstoffe da nicht längst ausgetreten und haben sich durch die starke Gezeitenströmung der Nordsee großflächig so sehr verteilt, dass sie kein Problem mehr darstellen?

Na ja, das ist dieser Klassiker: »The solution to pollution is dilution« – die Lösung für Verschmutzung ist Verdünnung. Aber die Aufnahmekapazität der Meere ist endlich. Das Gift löst sich ja nicht einfach auf und ist danach weg, sondern es tritt aus. Es wird zwar umgebaut zu anderen Substanzen, doch die bleiben im Wasser. Im westlichen Teil der Ostsee sind sie überall nachweisbar. Und je näher Sie an Verklappungsgebieten suchen, desto höher ist die Konzentration.

Sedimentprobe | Matthias Brenner und seine Kollegin Ute Marx vom AWI untersuchen Proben, die sie am Wrack der »SMS Mainz« geborgen haben.

Und dann sammeln sich die Gifte entlang der gesamten Nahrungskette?

In der Ostsee haben wir Explosivstoffe und ihre Abbauprodukte im Muschelfleisch gefunden oder in der Galle von Klieschen. Sogar in Dorschfilets gab es Spuren chemischer Kampfstoffe. Man muss nun zwar keine Sorge haben, dass man sich mit einem Biss Ostseedorsch vergiftet, aber die Stoffe sind nachweisbar. Und das heißt, dass es eine Verbindung gibt zwischen der Munition am Meeresgrund und dem Teller der Menschen. In den bekannten deutschen Verklappungsgebieten ist die Fischerei zwar verboten, drum herum aber nicht. Und diese Stoffe sind nicht Teil der üblichen Lebensmittelüberwachung. Ob die Belastung der Meerestiere in der Nordsee ähnlich ist, untersuchen jetzt Kollegen der Universität zu Kiel an den Proben, die wir mitgebracht haben.

Viele Meeresbiologen lassen sich lieber von gesunden Organismen faszinieren. Wie kommt es, dass Sie sich schon seit vielen Jahren mit derart unappetitlichen Dingen beschäftigen?

Bei der Recherche für einen Forschungsantrag ist mir die unglaubliche Dimension dieses Altmunitionsproblems klar geworden. In der Kieler Bucht liegen 30 000 Tonnen Munition zwei Seemeilen von beliebten Badestränden entfernt. Und die Menschen wissen kaum darüber Bescheid. Zwar wurden immer mal wieder Warnhinweise am Strand aufgehängt, aber die sind so klein, dass sie niemand wahrnimmt. Wenn die Gemeinden ihren Strand für Touristen vermarkten wollen, ist es natürlich schwierig, ihnen gleichzeitig zu sagen: Sie bringen sich in Lebensgefahr, wenn Sie da etwas einsammeln, was so aussieht wie Bernstein, tatsächlich aber weißer Phosphor ist, der sich in der Hosentasche leicht entzünden und zu schweren Verbrennungen führen kann.

(Anm. d. Red.: Das Gespräch fand kurz nach der Rückkehr im April 2021 statt.)

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