Notre-Dame: Zwei Kunstwerke ohne Künstler
Die Nachricht verbreitete sich rasend schnell um die Welt: Notre-Dame brennt! Am frühen Abend des 15. April 2019 geht der Dachstuhl der Pariser Kathedrale aus bis heute ungeklärten Gründen in Flammen auf. Mehr als 800 Jahre lang hat die steil aufragende Konstruktion aus 1300 Eichenstämmen ihre Last getragen. Nun speit »Le forêt«, »der Wald«, Feuer und Rauch. Gut 460 Tonnen wiegt die Dacheindeckung aus bleiummantelten Holzschindeln. Jetzt schmilzt die Hitze das Blei und verformt selbst eiserne Anker.
Der grazile Vierungsturm über dem Zentrum der Kirche fällt in sich zusammen, seine Trümmer durchschlagen die darunter liegenden Gewölbe und Jochbögen. Zwar ist es tags darauf den hunderten Feuerwehrleuten gelungen, den Brand zu löschen, doch Notre-Dame, seit 1991 UNESCO-Weltkulturerbe, ist noch nicht gerettet. Ohne das Gegengewicht des Dachstuhls drohen beispielsweise die Giebelwände des Querhauses umzustürzen. Es wäre eine kunstgeschichtliche Katastrophe: Die Nord- und Südportale des Querhauses gelten als Meilensteine der gotischen Architektur und Bildhauerei.
Fast ein Jahr dauerte es, Notre-Dame mit Stützen und Sicherungsseilen zu stabilisieren. Tonnen von Blei, Trümmer und verkohlte Balken mussten herausgeholt werden. Erst dann konnten Experten beginnen, die Möglichkeiten eines Wiederaufbaus zu prüfen. Die Corona-Pandemie dämpfte die ohnehin wenig realistischen Erwartungen, dass Notre-Dame in fünf Jahren wieder in neuem Glanz erstrahlen würde.
Es ist wohl Glück im Unglück, dass Forscherinnen und Forscher des Instituts für Archäologische Wissenschaften, Denkmalwissenschaften und Kunstgeschichte der Otto-Friedrich-Universität Bamberg den Zustand vor dem Brand millimetergenau vermessen haben. Zwischen 2015 bis 2018 arbeitete in der Kathedrale ein Team unter der Leitung des Kunsthistorikers Stephan Albrecht, des Bauforschers Stefan Breitling und des Restaurierungsexperten Rainer Drewello. Mit 50 Rundum-Laserscans haben sie das berühmte Querhaus mitsamt seinen Übergängen zu Chor und Langhaus erfasst und anschließend per Hand und von Gerüsten aus nachgemessen, wo zum Beispiel Skulpturen den Laserblick auf eine dahinter liegende Wand versperrten. Mikroskopaufnahmen ergänzen an ausgewählten Stellen die Daten.
Laserscans sollen den Wiederaufbau wissenschaftlich unterstützen
Ihr 3-D-Modell des Querhauses bringen die Bamberger nun auch offiziell in den »Chantier Notre-Dame« ein, die »Bauhütte Notre-Dame«. Das Expertengremium, das den Wiederaufbau wissenschaftlich unterstützt, verwendet die Scans unter anderem, um zu unterscheiden, wo der Brand dem Bau geschadet hat und wo sich im Lauf der Jahrhunderte das Mauerwerk von ganz allein gesetzt hatte.
Doch die Scans der Bamberger Forscherinnen und Forscher liefern noch mehr Erkenntnisse – über die Kathedrale selbst, ihre Baugeschichte und die Organisation der mittelalterlichen Baustelle. Das mag für den Wiederaufbau nicht unmittelbar relevant sein, hilft jedoch, einige althergebrachte Thesen zu Notre-Dame in den Bereich des Mythos zu verbannen.
Das Pariser Querhaus war für das Projekt, das außerdem die Kathedralen in Köln, Laon, Nürnberg, Wien und natürlich Bamberg selbst in den Blick genommen hat, von besonderer Bedeutung. Hier soll laut einer populären Idee zum ersten Mal seit der Antike ein Künstler namentlich hervorgetreten sein, also ein kreativer Geist, der als Individuum antrat, Neues zu erschaffen, statt nur qualitätvolles Handwerk zu praktizieren.
Ein namentlich verewigter Künstler?
Diese Anschauung beruht zum einen darauf, dass die Fassaden der beiden Querhausportale im Detail sehr unterschiedlich gestaltet sind: zu verschieden, als dass sie von ein und derselben Werkstatt geschaffen worden sein könnten. Zum anderen stützt sie sich auf eine fast neun Meter lange monumentale Inschrift im Sockel auf der Südseite: »ANNO . DNI . M . CC LVII . MENSE FEBRVARIO . IDVS SECVNDO [H]OC . FVIT . INCEPTVM CRISTI . GENIT CIS HONORE KALLENSI LATHOMO . VIVENTE . JOHANNE . MAGISTRO«, »Im Jahr des Herrn 1257, am zweiten Tag vor den Iden des Monats Februar, wurde dies begonnen zu Ehren der Gottesgebärerin Maria unter dem Steinmetz und Magister Jean de Chelles.«
Das lieferte nicht nur ein Datum für den Baubeginn des Querhauses – nach dem heutigen gregorianischen Kalender ist es der 12. Februar 1258 –, es ist auch eines der seltenen Beispiele in der Baugeschichte des 13. Jahrhunderts, bei dem der kreative Kopf und Projektleiter namentlich geehrt wird: Jean de Chelles, von dem man heutzutage nicht mehr weiß, als was diese Inschrift verrät: Er war Steinmetz (Lathomo) und Gelehrter (Magister).
Ihm schrieben der französische Kunsthistoriker Marcel Aubert 1949 und der deutsche Gotikforscher Dieter Kimpel 1971 das Nordportal zu. Für dessen Gegenstück zeichne dagegen Pierre de Montreuil verantwortlich. Letzterer gilt außerdem als Architekt des Refektoriums und der Marienkapelle des Klosters Saint Germain-des-Prés, in der er 1267 auch beigesetzt wurde. Stilistische Vergleiche der Nord- und Südfassade Notre-Dames mit noch erhaltenen Bauten, die ihm zugeschrieben werden, zeigten nach Meinung Auberts und Kimpels, welche Aufgabenteilung einst geherrscht habe: Der jüngere de Montreuil entwarf die filigranere Südfassade, die man heute bei einem Spaziergang am Seineufer hinter Bäumen hervorblicken sieht. De Chelles dagegen verantwortete die strengere Nordfassade, die auf das schluchtartige schmale Sträßchen zeigt, das die Kathedrale von der angrenzenden Bebauung trennt.
Laut dieser These waren die Nordfassade und der Sockel im Süden bereits errichtet, als de Chelles starb. Daraufhin übernahm de Montreuil die Leitung und platzierte auf »seiner« Seite die Inschrift mit der Widmung an seinen Vorgänger. Insgesamt lägen zwischen Nord- und Südfassade 10 bis 15 Jahre Bauzeit. Doch für den Geschmack vieler Fachleute beruhen diese Vorstellungen auf zu wenigen Indizien und zu vielen Deutungen. Eine derart lange Zeitspanne zwischen dem Bau der beiden Querhausfassaden halten sie für wenig überzeugend.
Die Kathedrale erhielt bald ihren gotischen Charakter
Gerade für die Anfänge Notre-Dames gibt es nur wenig harte Fakten. Ein Dokument aus dem Vatikan erlaubt es immerhin, den Baubeginn der Kathedrale relativ sicher auf das Jahr 1163 zu datieren: Damals kam Papst Alexander III. höchstpersönlich zur Grundsteinlegung nach Paris. Zunächst entstand der Chor, alles andere folgte in mehreren Bauphasen.
Als um 1220 laut Überlieferung der Dachstuhl teilweise abbrannte, war dies eine willkommene Gelegenheit zu modernisieren. Während die Vorgängerbauten noch wuchtige Mauern brauchten, um das Gewicht von Dächern und Gewölben zu tragen, verstand es eine neue Generation von Baumeistern, diese Last auf filigrane Säulen, Bögen und jene äußeren Strebewerke zu verteilen, die der gotischen Kathedrale ihr charakteristisches Aussehen verleihen. Das schuf Platz für den Einbau der großen Fenster und verlieh dem Bau seine Eleganz. Allerdings, so zeigen Untersuchungen des Chantier Notre-Dame, war es mit einer geschickten Lastabtragung allein nicht getan: Die Forscher entdeckten im Querhaus eine Vielzahl von Eisenklammern. Die Steinmetze des 13. Jahrhunderts sicherten ihre Werke demnach zusätzlich durch einen geklammerten Mauerverbund. Diese Eisenelemente waren zum Schutz gegen Korrosion mit Blei ummantelt worden, und dessen Isotopenverhältnisse untersuchte ein Labor der französischen Forschungsgemeinschaft CNRS. Demnach stammt jenes Blei aus einer einzigen Rohstoffquelle. Dass die Südfassade bis zu 15 Jahre später als die im Norden entstand, erscheint damit fraglich.
Bevor die beiden neuen Fassaden die schon vorhandenen Gewölbe des Querhauses nicht trugen, konnte man die alten Mauern nicht abreißen. Mit dieser Erkenntnis geht freilich die Frage einher: Wie sollte man die neuen dann einmessen? Vermutlich wurden Schnüre durch die vorhandenen Portale gezogen und diese Linien mit rechten Winkeln zu beiden Seiten fortgeführt. Keine leichte Aufgabe, zumal das alte Querhaus keinen regelmäßigen Grundriss aufwies und im neuen Treppentürme integriert werden mussten.
Und dennoch zeigt der jetzt aus den Laserscans der Bamberger abgeleitete Grundriss eine beeindruckende Präzision: Die neuen Querhausfassaden verlaufen bis auf zwei Zentimeter parallel zueinander sowie fast parallel zur Längsachse des Chors, sie sind gleich weit von der Vierung entfernt und überdies mit 17,35 Metern im Norden und 17,32 Metern im Süden praktisch gleich breit. Eine solche Genauigkeit ließ sich kaum erreichen, wenn zwei Baumeister mit verschiedenen Entwürfen zu verschiedenen Zeiten die Aufsicht hatten, von der anspruchsvollen Logistik für einen zeitversetzten Aufbau und Abriss ganz abgesehen.
Die Querhausfassaden stimmen fast exakt überein
Verblüffte schon der Grundriss durch seine Präzision, galt das erst recht für die Konstruktion der Fassaden. Legt man die zwei Scans übereinander, offenbaren sich bis auf Millimeter gleiche Türbreiten, identische Achsen und Öffnungswinkel der Portaltrichter – dies sind die Giebelbereich über den Eingängen. Auch die Lage der Strebepfeiler, die Form und Tiefe der Figurennischen und viele Elemente mehr stimmen fast haargenau überein. Zweifellos basieren beide Fassaden auf einem einzigen Grundentwurf, der die wichtigsten Maße und Gliederungsachsen exakt festlegte.
Es sind Modifizierungen im Detail, die den Portalen ihre jeweilige Wirkung verleihen. Im Norden ruht beispielsweise jeder Bogen, jeder Ziergiebel auf einem einzigen so genannten Dienst, einem säulenartigen tragenden Element. Das wirkt solide. Ganz anders im Süden: Dort teilen sich an manchen Stellen mehrere Dienste ganz unorthodox die Arbeit, und einige Baldachine kommen sogar ganz ohne aus.
Zahlreiche Beobachtungen dieser Art fügen sich zu einem schlüssigen Gesamtbild: Es gab einen Grundplan, aber zwei Ausführungspläne. Alle drei waren sicherlich auf Pergament entworfen und dann im Originalmaßstab in feuchten Estrich übertragen worden, um auf diesem »Reißboden« die Steinblöcke zu behauen. Doch während der Ausführungsplan für das Nordportal streng mit Lineal und Zirkel durchkonstruiert wurde, variierte der des Südportals den Grundentwurf unkonventionell, um den Betrachter regelrecht zu überwältigen. Das ging nicht immer glatt auf und machte Korrekturen erforderlich. Insbesondere die Sockelinschrift war wohl ursprünglich nicht eingeplant. Vergleicht man die Mauerfugen, dann weicht die südliche Außenfassade ab: Der Sockel wurde um eine 31 Zentimeter starke Steinlage erhöht, was dazu führte, dass alle darüber befindlichen Elemente, wie etwa die Figuren des Portaltrichters, ebenfalls nach oben rutschten.
Ein Grundplan, zwei Ausführungen mit unterschiedlichen Konzepten, also auch zwei damit betraute Werkstätten? Für diese Annahme liefern die Skulpturen und Reliefs weitere Belege. Das Nordportal erzählt in mehreren Bildfeldern von Jesu Kindheit und von der im Mittelalter beliebten Legende des Theophilus, den die Gottesmutter aus einem Pakt mit dem Teufel befreite. Über dem Südportal ist die Legende vom heiligen Stephanus das Thema, der in Jerusalem gesteinigt wurde, weil er Jesus als den verheißenen Sohn Gottes bezeichnete. Auch hier wirken die Figuren im Norden schematischer und konventioneller, im Süden viel lebendiger, kunstvoller. Nach heutigen Maßstäben wird die Stephanuslegende auch weit durchdachter erzählt.
Die Werkstätten scheinen kooperiert zu haben
Allerdings gibt es auf beiden Portalen Figuren, die von ihrer Machart eher auf die andere Seite passen würden. Haben die beiden Werkstätten also zusammengearbeitet und einander ausgeholfen? Für Stephan Albrecht sind die kunsthistorischen Befunde weitere Indizien dafür, dass die beiden Fassaden des Querhauses zur gleichen Zeit und in enger Absprache entstanden. Vermutlich kannte jeder der beiden Auftragnehmer die Pläne des anderen, vermutlich gab es auch eine Kontrollinstanz, die über die Einhaltung des Grundplans wachte.
Eine solche Organisation stellt dann freilich die Idee einer individuellen künstlerischen Herangehensweise in Frage. Stephan Albrecht: »Meines Erachtens gab es einfache Steinmetze, besser qualifizierte, die auch Engel und Heilige formen konnten, und Edelsteinmetze wie Jean de Chelles. Waren die Ernten reichlich ausgefallen, konnte der Klerus mehr Steinmetze entlohnen, aber wenn der Betrieb in mageren Jahren mit weniger Leuten auskommen musste, haben sicher alle auch einfache Arbeiten erledigen müssen.«
Möglicherweise stammte der Grundplan für die Querhausfassaden von Jean de Chelles, doch erlebte er die Ausführungen nicht mehr. Das legt die unterschiedliche Gestaltung der beiden Sockel nahe, ebenso die zusätzliche Steinlage auf dem südlichen, mit der die ehrende Inschrift auf Augenhöhe gebracht wurde. Der Lathomo und Magister verstarb offenbar unerwartet. Ob nun Pierre de Montreuil übernahm und welche Rolle er vorher spielte, bleibt offen.
Steht man vor den hoch aufragenden Türmen, der verschwenderischen Figurenpracht, fragt man sich, warum Pariser Bischöfe einen solch gigantischen Aufwand betrieben. Für den Bamberger Stephan Albrecht kann nicht allein das Bedürfnis nach Repräsentation ausschlaggebend gewesen sein. Er sieht ein starkes religiöses Motiv am Werk. Seit dem Sündenfall hatte der Mensch die Fähigkeit verloren, Gottes Antlitz zu sehen und dadurch wahre Glückseligkeit zu erleben. So lehrte es der Kirchenvater Augustinus (354–430). Eine Kathedrale brachte den Gläubigen Gott wieder näher. Wer sie betrat, der verließ die irdische Sphäre.
Und so passierte man beim Betreten des Südportals drei Skulpturengruppen in den Bögen des Gewändes: zunächst die fest im Glauben stehenden Bekenner, sodann die Märtyrer und schließlich die Gott am nächsten stehenden Engel. Und jede Figurengruppe wendet sich dem auf der Mittelsäule thronenden Christus ein wenig mehr zu, verweist auf ihn mit Gesten. »Wenn der Klerus anlässlich eines hohen Feiertags mit viel Pomp in die Kathedrale einzog, erhofften sich die Geistlichen in ihrer Vorstellung tatsächlich eine Transformation: Sie wurden den Engeln und den Heiligen ähnlicher, sie kamen der Gottesschau wieder näher«, sagt Albrecht. Die Kathedrale Notre-Dame im Herzen von Paris war tiefster Ausdruck dieses Glaubens, ihre Monumentalität pries Gott und die römische Kirche.
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