Nepal nach dem Erdbeben: Obdachlose Götter und Designerplumpsklos aus Bambus
Die Toiletten sind unscheinbar, aber erwähnenswert – sind doch Toiletten in Nepal längst nicht selbstverständlich. Nur 40 Prozent der Haushalte verfügen über sanitäre Einrichtungen. Das macht die von Freiwilligen in Bungamati gebauten Plumpsklos aus Bambusstangen und -matten bemerkenswert.
Sonst ist Bungamati, ein Städtchen in der Nähe von Kathmandu, seit dem Erdbeben der Stärke 7,8 vom 25. April noch ein einziger Trümmerhaufen. Die alten, zum Teil aus dem 16. Jahrhundert stammenden Backsteinhäuser mit den kunstvoll geschnitzten Fensterrahmen, Türen und Balustraden aus dunklem Holz sind zusammengefallen wie Kartenhäuser. Menschen fanden den Tod, Tausende wurden obdachlos und kampieren in provisorischen Zelten aus Plastikplanen.
Hilfsorganisationen versorgen die Menschen in Bungamati mit Lebensmitteln, Zelten und Decken, sie helfen bei der Räumung der Ruinen, stapeln Backsteine, sortieren Holzbalken. Aus den Trümmern soll irgendwann Neues entstehen. Mehr als 100 Studenten hat auch Sujan Chitrakar, Professor für Kunst und Design an der Universität Kathmandu, als Freiwillige seit Anfang Mai im Einsatz: "Wir bauen temporäre Unterkünfte, räumen Berge von Schutt, unterstützen die Bevölkerung mit Informationen und Koordinationshilfen", sagt Chitrakar, dem der Schweiß unter dem blauen Schutzhelm hervorrinnt. Es ist heiß, aber der Wissenschaftler ist auch im Dauereinsatz. Teambesprechungen in einem provisorischen Büro in einem Rohbau, Begutachtungen laufender Projekte und der Besuch neugieriger Journalisten halten den Mann auf Trab.
In Bungamati ist Chitrakar mittlerweile ein populärer Mann, der für ein Schwätzchen mit den Einheimischen immer Zeit hat. "Es war nicht einfach, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen", erzählt der Mann mit Vollbart und Brille. "Aber inzwischen haben sie verstanden, dass wir hier nicht für ein paar Tage eingefallen sind, alles besser wissen und dann wieder verschwinden. Wir engagieren uns langfristig. Es soll ein Masterplan entwickelt werden, der den Wiederaufbau der Stadt ermöglicht."
Das Engagement in Bungamati ist eines der vielen Erdbebenprojekte in Nepal, das vom Südasieninstitut (SAI) der Universität Heidelberg unterstützt wird. Es engagiert sich mit seiner Außenstelle in Kathmandu seit Jahrzehnten in der Nepalforschung und bringt Architekten, Stadtplaner und Ingenieure mit Kultur- und Religionswissenschaftlern zusammen. "Unsere Projekte sind humanitär", versichert Christiane Brosius telefonisch aus Heidelberg. Die Inhaberin des Lehrstuhls für Visual and Media Anthropology am Karl Jaspers Centre for Advanced Transcultural Studies koordiniert vom Neckar aus die SAI-Hilfsprojekte am Fluss Bagmati, die von lokalen Partnern unterstützt werden – etwa der Initiative SAIHELPNEPAL der Kathmandu Universität.
Hilfe ins abgelegene Epizentrum
In den besonders stark von dem Erdbeben verwüsteten Regionen Sindhulpalchok oder dem Trekkingparadies Langtang werden Behelfsunterkünfte gebaut, in Kathmandu und Bungamati wurden Projekte zur Hilfe für vom Erdbeben traumatisierte Kinder und obdachlose Senioren ins Leben gerufen. Im abgelegenen Tsum-Tal, das nur einen zweitägigen Fußmarsch vom Epizentrum des verheerenden Erdbebens liegt, sollen das komplett zerstörte buddhistische Nonnenkloster Gompa Lungtang, das Dorf Domje und die von zwölf jungen Nonnen betriebene Schule und Krankenstation wiederaufgebaut werden. Im Tsum-Tal im Himalaja an der Grenze zu Tibet leben etwa 2000 ethnische Tibeter.
"Auch die Götter sind obdachlos geworden"Rohit Ranjitkar
Das Tsum-Tal ist einer jene von dem Erdbeben betroffenen Regionen, in die bisher kaum Hilfe gelangt ist. Die nächste Straße ist fünf Tagesmärsche entfernt. "Die Topografie von Nepal ist ein großes Problem. Rund 315 000 Menschen in den 14 am stärksten betroffenen Distrikten leben in Gegenden, die nicht über Straßen erreicht werden können. 75 000 können nicht einmal auf dem Luftweg versorgt werden", sagte Jamie McGoldrick, der in Nepal die humanitäre Erdbebenhilfe der UN-Organisationen koordiniert, Ende Mai.
Eine Tragödie war das Erdbeben auch für viele der zum Weltkulturerbe zählenden Paläste und Tempel in Kathmandu, Bhaktapur und Patan – den drei alten Königsstädten im Kathmandu-Tal. Für Touristen sind die grandiosen, aus roten Backsteinen und Holz erbauten hinduistischen Pagoden mit ihren mehrstufigen Dächern historische Sehenswürdigkeiten, Zeugnisse einer exotischen Kultur, die man gesehen haben muss, bevor man sich zu Trekkingtouren durch den Himalaja oder zur Besteigung der Bergriesen Annapurna oder Everest aufmacht.
Für die Nepalesen hingegen sind die Tempel – wie es Rohit Ranjitkar ausdrückt – lebendige Kultur. "Für uns sind diese Gebäude keine toten Monumente wie das Kolosseum oder das Forum Romanum. Sie sind noch in Gebrauch", erklärt der Leiter des Kathmandu Valley Preservation Trust (KVPT), einer Partnerorganisation des SAI.
Die Zerstörung lebendiger Kultur
Aus Ranjitkars Büro im zweiten Stock eines historischen Gebäudes hat man eine fabelhafte Aussicht über den Durbar-Platz in Patan. Der Himmel ist blau, die Sonne scheint, auf der Straße herrscht reges Treiben, die Tempel sind intakt. Aber der Schein trügt. Die eingestürzten Tempel und diejenigen, die nur noch durch Stützbalken gehalten werden, sieht man aus dem Büro mit der niedrigen Holzdecke, dem Holzfußboden und den geschnitzten Fensterrahmen nicht.
Zerstört wurde zum Beispiel der Char-Narayana-Tempel, der in der klassischen Tradition der Tempel der Newar mit zwei pyramidenförmigen Dächern und innerem Umgang von König Purandarasimha im Jahr 1565 erbaut worden war. Die Fragmente der Schnitzereien der Portale des Vishnu geweihten Tempels sowie die Streben und Pfosten konnten schon wenige Tage nach dem Erdbeben gesichert werden. "Wir haben per Hand die Artefakte aus den Trümmern geborgen. Erst dann kamen die Bulldozer zum Einsatz", erzählt der Architekt Ranjitkar.
Der Tempel beherbergte die Stele des Vierfältigen Vishnu. Das zentrale Heiligtum steht jetzt auf dem erhalten gebliebenen Backsteinpodest des Tempels unter freiem Himmel. "Auch die Götter sind obdachlos geworden", sagt Ranjitkar und erzählt, dass das für die Nepalesen mindestens so tragisch ist wie ihr eigenes Leid seit dem verheerenden Beben. Mehr als eine Million Euro werden laut SAI aufgebracht werden müssen, damit der Char-Narayana-Tempel erdbebengesichert wieder aufgebaut werden kann und der Vishnu wieder ein Zuhause hat.
Auch die anderen in Patan beschädigten oder zerstörten historischen Tempel wie auch die in Bhaktapur und Kathmandu sollen wiederaufgebaut werden. Wie viel das kosten und wie lange es dauern wird, kann noch nicht genau beziffert werden. "Wir rechnen derzeit mit einem Zeitraum von sechs bis zehn Jahren", sagt Christian Manhart, Chef des UNESCO-Büros in Kathmandu. Die Welt lässt Nepal auch mit den Folgen des Erdbebens für das kulturelle Erbe nicht allein. "Wir haben viele finanzielle Zusagen, von denen einige schon angekommen sind, als auch Zusagen von Spezialisten, Universitäten und Freiwilligen, von denen einige schon ihre Arbeit am kulturellen Wiederaufbau begonnen haben", freut sich Manhart.
Im Tsum-Tal, in Sindhulpalchok, im ehemaligen Trekkingparadies Langtang, in Bungamati aber haben zunächst profanere Arbeiten wie der Bau von Toiletten Vorrang vor Tempelrettungen. In Kürze beginnt der Monsun. Bis zum großen Regen so viele Menschen wie möglich mit einigermaßen monsungerechten Notunterkünften zu versorgen, ist ein Wettlauf gegen die Zeit. "Wir schaffen den Bau von drei Notunterkünften am Tag", sagt Sujan Chitrakar.
Der Professor und seine Studenten bauen mit dem Anspruch der Nachhaltigkeit. Die Bambusklos werden mit einer Mischung aus Essig und Wasser statt mit Chemikalien desinfiziert. Bei den Hütten kommen die Backsteine aus dem Inneren der eingestürzten Häuser zum Einsatz, die im Gegensatz zu den in Ziegeleien gebrannten Steinen für die Außenwände sonnengetrocknet sind. Diese werden zermahlen, mit Wasser, Dung oder Getreidespreu vermischt. Mit dieser Masse werden dann die Bambuswände der Hütten bestrichen. "Das isoliert gut und schützt vor Nässe", erklärt Chitrakar.
"Wir wollen den Menschen zeigen, dass sie nicht allein sind!"Saurabhi Ganchu
Die Studenten sind mit Eifer dabei. "Praktisches Arbeiten macht mehr Spaß als Vorlesungen im Hörsaal", findet Saurabhi Ganchu. Aber der Spaßfaktor ist nicht die Hauptmotivation der 22 Jahre alten Bachelorstudentin für Grafikdesign. "Mein Elternhaus in Kathmandu hat das Erdbeben überstanden. Deshalb will ich anderen helfen, die weniger Glück hatten", sagt Ganchu und fügt hinzu: "Unterkünfte zu bauen, ist nicht alles. Wir wollen den Menschen hier zeigen, dass sie nicht allein sind."
Diese große, von Herzen kommende selbstverständliche Solidarität der Nepalesen ist überall im Land zu spüren. "So sind wir Nepalesen", sagt Ganchu. "Wenn wir fallen, dann stehen wir wieder auf."
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