Ökologie: Auch Parasiten brauchen Schutz
Ich bereitete gerade das Abendessen vor und portionierte ein Stück Kabeljau, als ich einen winzigen, rosafarbenen Fleck in dem makellosen weißen Fischmuskel entdeckte. Sobald ich das Etwas, das wie eine verschrumpelte Ader aussah, mit einem Messer entfernte hatte, entfaltete es sich plötzlich auf die Länge meines kleinen Fingers. Und es bewegte sich.
Gebannt sah ich zu, wie die Kreatur herumzappelte – offenbar bestürzt darüber, dass sie aus dem Fischfleisch gerissen wurde. Bevor ich sie in die Komposttonne warf, machte ich noch ein paar Fotos. Ich wusste genau, an wen ich die Aufnahmen schicken musste, um Hilfe bei der Identifizierung zu bekommen: Chelsea Wood, eine Parasitenökologin an der University of Washington, USA – und vielleicht die einzige Person auf der Welt, die Worte wie »schön« benutzt, um Blut saugende Würmer zu beschreiben.
Die Antwort von Wood kam prompt am nächsten Morgen: Anisakidae, schrieb sie – wahrscheinlich Anisakis simplex oder Pseudoterranova decipiens – ein gewöhnlicher Fadenwurm, der sein Larvenstadium in Fischen oder Tintenfischen verbringt. Wood gratulierte mir: »Wie könnte das neue Jahr besser beginnen als damit, einen echten, lebenden Wurm im Kabeljaufilet zu finden?« In Anbetracht der Tatsache, dass Wood Bauchschmerzen, Erbrechen, Durchfall und blutigen Stuhl als mögliche Symptome aufzählte, wenn es dem lebenden Wurm gelungen wäre, in meine Speiseröhre, meine Magenwand oder meinen Darm einzudringen, kam mir der Glückwunsch etwas seltsam vor.
Wurm im Fisch ist eine gute Nachricht
In ihrer enthusiastischen Art erklärte sie, warum eine solche Entdeckung positiv ist: Die typischen Wirte dieses Parasiten sind Wale, Delfine, Robben und Seelöwen – Tiere, die an der Spitze der Nahrungskette stehen. »Das Vorhandensein der Würmer im Fisch ist ein Zeichen dafür, dass das Ökosystem, aus dem er stammt, intakt ist und dass es in der Nähe eine gesunde Population von Meeressäugern gibt«, schrieb Wood. Ich solle also den Wurm als Botschafter guter Nachrichten feiern, riet sie.
Parasiten sind Organismen, die in einer intensiven und langen Beziehung mit ihren Wirten leben. Wissenschaftler schätzen, dass 40 bis 50 Prozent aller Tierarten in diese Gruppe fallen. So gut wie jede frei lebende Spezies auf dem Planeten hat mindestens einen Parasiten, der sich auf sie spezialisiert hat. Die weiteste Definition des Begriffs »Parasit« umfasst auch Krankheitserreger wie Bakterien, Viren, Protozoen und Pilze. Viele Parasitologen wie Wood konzentrieren sich jedoch auf mehrzellige Metazoen: Tiere, die Hunderttausende von Arten umfassen, darunter bis zu 300 000 verschiedene Arten von Würmern, die allein Wirbeltiere parasitieren.
Metazoische Parasiten sind ebenso vielfältig wie zahlreich. Sie umfassen 15 Stämme und reichen von mikroskopisch kleinen, kaum mehrzelligen Winzlingen bis hin zu 40 Meter langen Bandwürmern, die sich in den Därmen von Walen zusammenrollen. Die verschiedenen Arten unterscheiden sich phylogenetisch so sehr voneinander wie Menschen von Insekten oder Quallen. Parasiten leben in jedem Lebensraum auf jedem Kontinent und in jeder Öffnung, jedem Organ und jedem Körperteil ihrer Wirte. Und sie gehören zu den extremsten Spezialisten der Welt, mit wild verschlungenen Lebenszyklen, die manchmal bis zu fünf verschiedene Wirte erfordern, um sich vom Ei über die Larve zum erwachsenen Organismus zu entwickeln. »Es ist einfach ein wunderschöner Ausdruck der Komplexität der Natur und ihrer Vernetzung«, schwärmt Wood.
Dennoch sind sich nur relativ wenige Biologen – und sonst ohnehin kaum jemand – der vielen Arten bewusst, die jenseits der winzigen Anzahl von Parasiten existieren, die für den Menschen lästig oder schädlich sind – darunter Band-, Maden- und Hakenwürmer. Aus diesem Grund stammt eigentlich fast alles, was wir heutzutage über Parasiten wissen, aus Studien darüber, wie man sie abtöten kann. »Das Ausmaß unserer Unwissenheit ist wirklich unverzeihlich«, findet Wood.
Parasitenökologie wächst rasant
Doch langsam ändert sich etwas: »Die Krankheits- und Parasitenökologie ist der am schnellsten wachsende Teilbereich der Ökowissenschaften«, sagt Skylar Hopkins, eine Parasitenökologin an der North Carolina State University in den USA. Mit dem jüngsten Zustrom von Nachwuchswissenschaftlern hätte man nun eine kritische Masse an Wissenschaftlern und Praktikern erreicht, so Skylar. Und je größer das Forschungsfeld, umso mehr Beweise tauchen auf, die darauf hindeuten, dass Parasiten wesentliche Funktionen in der Natur haben. Eine relativ neue Studie offenbarte etwa, dass Parasiten für 75 Prozent der Verbindungen in Nahrungsnetzen verantwortlich sind; eine andere zeigte, dass sie wertvolle Dienste Ökosystemen verrichten – darunter die Schädlingsbekämpfung, deren ökonomischer Wert Fachleute auf Milliarden von Dollar schätzen.
Wie Raubtiere können auch Parasiten Auswirkungen auf die Populationen anderer Organismen in ihrem Lebensraum haben, was sich auf alle Bereiche auswirkt, vom Nährstoffkreislauf über die Pflanzenarten, die dort wachsen, bis hin zur Häufigkeit von Räubern an der Spitze der Nahrungskette. Mit anderen Worten: Parasiten »spielen eine wichtige Rolle in der Natur, die bisher einfach übersehen wurde«, sagt Armand Kuris, ein Parasitenökologe an der University of California in Santa Barbara. »Ihre Kontrolle von Populationen funktioniert anders als die von Raubtieren: Sie ist langsamer, aber ihre Wirkung kann genauso weit reichend sein.«
Im gleichen Maß, wie die entscheidende Rolle der Parasiten aufgedeckt wird, zeigen die Arbeiten von Wood, dass viele dieser wichtigen Tiere in Schwierigkeiten sind. Wie alle Arten haben sie mit Gefahren wie Klimawandel, Lebensraumzerstörung, Umweltverschmutzung und mehr zu kämpfen. Da ihr Schicksal außerdem von Wirten abhängt, die oftmals selbst gefährdet sind, fällt die Bedrohung sogar doppelt aus. Das trifft besonders auf hoch spezialisierte schmarotzende Organismen zu, die nur auf oder in einer einzigen Art leben. »Jede Art, die vom Aussterben bedroht ist, hat Parasiten, die auf diese angewiesen sind«, erklärt Hopkins. »Wenn also Arten aussterben, dann können auch ihre Parasiten aussterben.« Doch der Schutz von Parasiten – und damit die Erhaltung ihrer Rolle in der Natur – ist ein schwieriges Unterfangen. Viel hängt davon ab, ob es gelingt, die politischen Entscheidungsträger, die Öffentlichkeit und eine breitere Gemeinschaft von Wissenschaftlern davon zu überzeugen, dass sich ihre Rettung lohnt.
Nicht alle Invasoren sind schlecht
Fragt man einen Parasitenökologen, wie er zu Parasiten gekommen ist, lautet die Antwort typischerweise: »Zufall.« Auch Wood hatte sich eine andere Karriere vorgestellt. Sie wuchs auf Long Island in New York auf und träumte davon, Meeresbiologin zu werden und mit Delfinen zu schwimmen. An der Universität gab es für Studenten jedoch keine Möglichkeiten für meeresbiologische Forschungsarbeiten. Die einzige Tätigkeit am Meer war ein Praktikum, bei dem sie in New Hampshire und Maine mit Trematoden infizierte Meeresschnecken sammelte. Die Parasiten hätten sie »in keiner Weise« interessiert, erzählt sie. »Ich war bestimmt nicht wegen ihnen dort.«
Woods Einstellung änderte sich nach und nach. In den Parasiten entdeckte sie eine unsichtbare Welt, die parallel zu derjenigen der frei lebenden Arten existiert. Während des Grundstudiums hatte sie die Tiere aber kaum wahrgenommen. Ihrer Erfahrung nach ist es möglich, einen Abschluss in Biologie zu machen und nie etwas über Parasiten gelernt zu haben. Als Beleg zitiert sie eine Studie aus dem Jahr 2011, die ergab, dass 72 Prozent von 77 Lehrbüchern über Naturschutzbiologie Parasiten entweder überhaupt nicht erwähnten oder sie nur als Bedrohung für die Wirte darstellen. Je mehr Wood jedoch über Parasiten erfuhr, umso stärker wurde das Gefühl, aus der Matrix aufzuwachen: Plötzlich tat sich eine verborgene Ebene der Komplexität auf, eine Verbindung in jedem Teil des Lebens. Spätestens jetzt witterte sie eine Gelegenheit für eine wissenschaftliche Forschungskarriere: Weniger als zehn Prozent der Parasitenarten wurden bisher überhaupt benannt, geschweige denn im Detail untersucht.
Heute leitet Wood ihr eigenes Parasitologie-Labor an der University of Washington – »eine Rund-um-die-Uhr-Seziermaschine«, wie sie es nennt. Ihr Team aus Technikern, Doktoranden und Postdocs besteht ausschließlich aus Frauen. »Ich habe keine Erklärung dafür, warum Frauen Parasiten so sehr mögen«, sagt Wood. »Es gab keine geschlechtsspezifische Auswahl meinerseits, ich habe einfach immer die besten Leute ausgewählt.«
Parasitenpopulationen untersuchen
Woods Labor beschäftigt sich mit einer einzigen Frage aus verschiedenen Blickwinkeln: Wie beeinflusst das, was Menschen in Ökosystemen anrichten, die Parasiten? In einem Projekt vergleicht ihre Arbeitsgruppe die Übertragung von Parasiten in Korallenriffen, die unterschiedlich stark vom Menschen beeinflusst werden. Ein anderes Projekt untersucht, wie sich die Ökologie von Flüssen, Seen und Teichen, die als Wasserentnahmestellen dienen, auf die Zahl der Bilharziose-Infektionen der Menschen in Westafrika auswirkt. Was Wood jedoch am meisten reizt, ist die Art und Weise, wie sich die Parasiten und deren Vorkommen im Lauf der Zeit verändert haben.
Die Vergangenheit gibt Aufschluss darüber, was »normal« war, bevor der Einfluss des Menschen auf die Umwelt überhandnahm. Welche Ausgangsbedingungen sollten wir anstreben, um die Natur zu erhalten oder wiederherzustellen? Im Gegensatz zu gut erforschten, allseits beliebten Tieren wie Elefanten oder Tigern existieren über Parasiten kaum Daten. Dementsprechend haben Wissenschaftler keine Ahnung, wie ihre Populationen sich entwickelt haben.
Wood hat jedoch beobachtet, dass sowohl in der Wissenschaft als auch in den Medien die Vorstellung verbreitet ist, die Parasitenpopulationen seien auf Grund menschlicher Einflüsse auf die Natur außer Kontrolle geraten. Sie bezeichnet dies sinngemäß als »Die-Welt-geht-unter-Narrativ«. In einer 2015 in »PNAS« veröffentlichten Arbeit schrieben die Forscher beispielsweise, dass »die Vielfalt der Wirte den Parasitenreichtum hemmt« und »menschengemachte Rückgänge in der Biodiversität Krankheiten bei Menschen und Wildtieren verstärken« könnten. Solche Aussagen beruhen jedoch auf der Annahme, dass Parasiten per se schlecht sind.
Parasiten werden als Belastung gesehen
»Man geht davon aus, dass mit der Verschlechterung der Umwelt auch die Parasiten zunehmen werden, weil man sie als zusätzliche Belastung für das System betrachtet«, sagt Kevin Lafferty, Krankheitsökologe beim U.S. Geological Survey. Diese Vorhersage, so Lafferty, zeuge von einer großen Unkenntnis der Parasitenökologie im Allgemeinen. Auch Wood denkt, dass die Geschichte wahrscheinlich viel komplexer ist. Wie jede andere Tierart, die mit Umweltveränderungen konfrontiert ist, so ihre Hypothese, würde es mit der Zeit Gewinner und Verlierer unter den Parasiten geben. Die einzige Möglichkeit, diese Hypothese zu überprüfen, bestünde darin, das heutige Parasitenvorkommen mit dem der Vergangenheit zu vergleichen.
Fast ein Jahrzehnt lang suchte Wood nach unkonventionellen Quellen, die helfen könnten, die Lücke in den historischen Daten zu schließen. An einem ungewöhnlichen Ort wurde sie schließlich fündig: bei der Fischsammlung der University of Washington im Burke Museum of Natural History and Culture, das sich nur ein Gebäude von ihrem Büro entfernt befindet. In diesem unscheinbaren Kellerraum werden die Überreste von etwa 13 Millionen Meeresexemplaren konserviert und in 40 000 mit Ethanol gefüllten Gläsern aufbewahrt. Es ist die größte Fischsammlung Nordamerikas. Doch die schuppigen Gesellen, die hier gelagert werden, sind bei Weitem nicht so zahlreich wie die Parasiten, die zu Millionen auf ihrer Haut, ihren Kiemen, Muskeln und Eingeweiden kleben. Die Fische seien wie »Parasiten-Zeitkapseln«, sagt Wood.
Katherine Maslenikov, die Leiterin der ichthyologischen Sammlungen des Museums, zögerte, als Wood zum ersten Mal mit der Idee an sie herantrat. »Wir waren etwas nervös und dachten: Was wollt ihr mit unseren Exemplaren anstellen?«, erinnert sich Maslenikov. Nach vielen Gesprächen ließ sie sich aber überzeugen. Woods Projekt, so erkannte sie, ist eine Chance, modernste wissenschaftliche Studien zu unterstützen und somit den Auftrag des Museums zu erfüllen: »Dies ist keine tote Lagerstätte. Eine Sammlung ist dazu da, genutzt zu werden.«
Wurm im Fisch
Katie Leslie sortiert Fetzen von Innereien eines Felsenfisches, der seit 41 Jahren tot ist. Bislang hat Leslie, eine Forschungstechnologin in Woods Labor, nur die Reste der letzten Mahlzeit des Tieres gefunden. Felsenfische sind notorisch wurmbefallen, aber dieses Exemplar erweist sich zunächst als außergewöhnlich parasitenfrei. »Oh, warte, ja!«, ruft Leslie plötzlich. »Hier ist ein Acanthocephalus.« Unter dem Mikroskop befindet sich der erste Parasit des Tages, ein stachelköpfiger Wurm. Insgesamt findet Leslie noch sieben weitere Parasiten, darunter Plattwürmer und Nematoden. Schließlich legt sie den Fisch mitsamt dem fein säuberlich beschrifteten Fläschchen mit den Organen vorsichtig in sein Glas zurück und schnappt sich das nächste Exemplar.
Um die Frage nach Gewinnern und Verlierern zu klären – sprich, welche Arten wurden zahlreicher und welche weniger –, wählte Wood acht häufige Fischarten aus dem Puget Sound, einer Meeresbucht im Nordwesten des US-amerikanischen Bundesstaats Washington, aus der Sammlung aus. Maslenikov half ihr bei der Identifizierung von bis zu 15 Exemplaren pro Art und Jahrzehnt, beginnend in den 1880er Jahren. Im Labor wird jeder Fisch von innen und außen gründlich untersucht, zunächst auf Seeläuse, die sich auf der Haut des Tieres festgesetzt haben, und dann auf parasitäre Würmer in den Organen und Kiemen. Technisch gesehen ist die Methode alles andere als modern, wie Wood zugibt – eher wie das Zusammenschlagen von Steinen, um Feuer zu machen.
Das Aufspüren der Parasiten ist jedoch nur der erste Schritt. Würmer sind mitunter unglaublich schwer zu unterscheiden. Die sichtbaren Merkmale beschränken sich auf die Anzahl der winzigen Stacheln oder Haken an einem mikroskopischen Anhängsel. Daher erfordert die Identifizierung der Arten viel Übung, Geduld und akribisches Vorgehen. »Unsere Arbeit unterstreicht den Wert der morphologischen Taxonomie«, sagt Rachel Welicky, die früher als Postdoc in Woods Labor geforscht hat und jetzt als Assistenzprofessorin an der Neumann University in Pennsylvania arbeitet. Sie nennt es »eine Kunstform, die gerade verloren geht«.
Wie entwickelten sich Parasitenpopulationen?
Im Juli 2021 berichtete ein Team um Wood in der Zeitschrift »Frontiers in Ecology and the Environment« über die Ergebnisse seiner ersten Analyse von Schollen, die zwischen 1930 und 2019 gesammelt wurden. In mehr als 100 Exemplaren identifizierten die Forscher fast 2500 unterschiedliche Parasiten, die mindestens 23 Taxa repräsentieren. Zwölf von diesen kamen so häufig vor, dass sich die Entwicklung ihrer Population im Lauf der Zeit analysieren ließ. Bei neun ist die Häufigkeit über die Jahrzehnte konstant geblieben. Bei zwei, einem Saugwurm (Trematode) und dem Stachelkopfwurm, ist sie zurückgegangen, bei einem weiteren Saugwurm nahm die Population zu. In einer anderen Studie, die aus derselben Analyse der Scholle hervorging und 2018 im »Journal of Applied Ecology« veröffentlicht wurde, zeigte sich, dass ein Nematode namens Clavinema mariae – ein Blutwurm, der unschöne Läsionen auf der Haut seines Wirts verursacht – in dem Zeitraum von 86 Jahren um das Achtfache zugenommen hat.
Laut Kevin Lafferty, der nicht an der Forschung beteiligt war, belegten diese Ergebnisse den unschätzbaren Wert der Millionen von eingelegten Fischen in Gläsern in Museumsregalen auf der ganzen Welt. Die Resultate selbst seien bemerkenswert, weil sie wichtige Hinweise darauf lieferten, wie Parasiten auf Umweltveränderungen reagieren. Die Vorkommen der meisten Parasiten der Scholle sind zwar erstaunlich stabil geblieben. Aber daneben sieht man Veränderungen der Populationen in beide Richtungen. »Genau wie bei frei lebenden Arten gibt es Parasitenarten, die gut auf Stress reagieren, und andere, die das nicht tun«, sagt Lafferty.
Mehr Würmer im Sushi
Neben der akribischen Analyse der Museumsexemplare wendet sich Woods Team inzwischen auch anderen Ressourcen zu. Zwar existieren kaum langfristige Datensätze für das Vorkommen einer einzelnen Parasitenart, dennoch gibt es vereinzelt Studien, die den Parasitismus an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit dokumentieren. In einem 2020 veröffentlichten Artikel in »Global Change Biology« fasste die Gruppe um Wood solche Ergebnisse für zwei Arten von Parasiten zusammen, die in rohem Fisch vorkommen, der häufig in Sushi und Ceviche verwendet wird. Dazu betrachteten die Forscher insgesamt 123 Studien aus dem Zeitraum von 1967 bis 2017. Sie fanden heraus, dass einer der Würmer heute noch genauso häufig vorkommt wie in der Vergangenheit, während der andere Wurm seit den 1970er Jahren einen unglaublichen Anstieg um das 283-Fache zu verzeichnen hatte.
Wurmhaltiges Sushi kann bei Menschen zu Erbrechen und Durchfall führen, aber Wood macht sich eher Sorgen um Meeressäuger – die eigentlichen Wirte des Wurms. Normalerweise entzieht ein einzelner Wurm seinem Wirt nicht viel Energie. Wenn die Zahl dieser Parasiten jedoch sprunghaft ansteigt, können sie ein Problem für Meeressäuger darstellen, insbesondere für Populationen, die bereits unter Stress stehen. Die vom Aussterben bedrohte Gruppe der Schwertwale im Puget Sound zum Beispiel leidet unter Umweltverschmutzung, Schiffslärm und einem Mangel an Lachsen als Nahrung. Im Jahr 2018 wurde ein abgemagertes Schwertwal-Kalb in der Meeresbucht gefunden. Die Behörden versuchten erfolglos, das Kalb zu retten. Noch bevor es verendete, fanden Wissenschaftler heraus, dass sein Kot voller Parasiteneier der gleichen Sushi-Wurm-Familie war, die Woods Studie identifiziert hatte.
Dies allein beweist nicht, dass Parasiten eine Rolle beim Tod des Kalbs gespielt haben. Doch Wood zufolge deutet es darauf hin, dass die schmarotzenden Organismen einer ohnehin schon angeschlagenen Population das Leben noch schwerer machen könnten. Um mehr darüber zu erfahren, ob die Wale heute einer größeren Bedrohung durch Darmparasiten ausgesetzt sind als in der Vergangenheit, wendet Natalie Mastick, eine Doktorandin in Woods Labor, verschiedene Methoden an. Sie sammelt zum Beispiel Walfäkalien, die von Spürhunden auf Booten gefunden wurden, und analysiert diese auf Hormone, Nahrung und Parasitenbelastung. »Wenn sich Parasiten als riesiger Stressfaktor herausstellen, dann wäre das zumindest behandelbar«, sagt Mastick. Wildtiermanager könnten etwa Antiwurmmittel in den Lachsen verstecken, die sie an befallene Meeressäuger verfüttern, oder mittels kleiner Pfeile Medikamente aus der Ferne verabreichen.
Wenn Parasiten der Wirtschaft schaden
Abgesehen von den möglichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen und Wildtieren kann ein Anstieg der Parasitenpopulationen auch bestimmten Wirtschaftszweigen schaden. Die Meeresbucht Puget Sound etwa ist berühmt für die Produktion Pazifischer Austern mit perlmuttfarbenen, makellosen Schalen. Doch im Jahr 2017 brachte ein Kollege ein Exemplar in Woods Büro, deren Schale mit Furchen und dunklen, hässlichen Flecken übersät war – Anzeichen für den Austernschädling Polydora, der sich durch die Muschel bohrt. Obwohl die Parasiten selbst nicht gefährlich sind, wenn man sie verspeist, bilden sie mit Schlamm und Wurmkot gefüllte Blasen auf den Austernschalen und vernarben diese durch ihr gefräßiges Graben von Tunneln. Natürlich möchten Restaurantbesucher so etwas nicht auf ihrem Teller haben.
Seit den 1860er Jahren haben Polydora-Ausbrüche die Austernindustrie in Australien, Hawaii und an der Ostküste der USA verwüstet, aber der Bundesstaat Washington – der größte Produzent von Zuchtmuscheln in den USA – war lange Zeit verschont geblieben. Im März 2020 schrieben Julieta Martinelli, eine von Woods Postdocs, und ihre Kolleginnen in der Zeitschrift »Scientific Reports«, dass eine berüchtigte Art, Polydora websteri, tatsächlich in den Puget Sound eingedrungen war. Martinelli untersucht nun die Ökologie des Parasiten in der Hoffnung, Wege zu finden, um Austernzüchtern bei der Behandlung und Eindämmung des Schmarotzers zu helfen. Zusätzlich versuchen Woods und Martinelli, die Ausbreitung von Polydora und anderen muschelbohrenden Polychaeten zu entwirren. Eine versehentliche Einschleppung scheint auf den ersten Blick die offensichtliche Antwort zu sein, doch die Realität könnte komplexer sein.
Die Überreste früher Gourmets helfen Forschern
Um die Geschichte von Polydora im pazifischen Nordwesten zu enträtseln, fahndet Martinelli in prähistorischen Abfallhaufen nach Austernresten, die von früheren Festmählern übrig geblieben sind. In solchen Muschelabfällen des Jamestown S'Klallam Tribe, ein Stamm amerikanischer Ureinwohner, fand sie zum Beispiel 1000 Jahre alte Olympia-Austernschalen, die Anzeichen eines Wurmbefalls aufweisen. Martinelli vermutet zwar, dass es sich um eine andere Art als Polydora handelt, doch möglicherweise war Polydora schon damals in sehr geringer Anzahl vorhanden und hat sich erst jetzt durch einen noch unbekannten Umweltauslöser ausgebreitet.
Martinelli plant nun, auch neuere Austernhaufen auszugraben und zu analysieren. So lässt sich vielleicht herausfinden, wann der Parasit erstmalig die lokalen Muschelpopulationen befallen hat. »Das Schwierige an der Paläoarbeit ist, dass wir nie eine endgültige Antwort bekommen werden«, sagt sie. Aber immerhin habe man Spuren aus der Vergangenheit, die sich mit der Gegenwart vergleichen ließen.
Rettet die Parasiten
Die hauptsächliche Aufmerksamkeit gilt der Zunahme von Parasiten. Deshalb konzentriert sich Wood auf die Abnahme der Populationen sowie deren Auswirkungen auf Menschen und Wildtiere. Manchmal liefert ein Rückgang Grund zur Freude, etwa wenn es um die Ausrottung des Guineawurms geht – ein spagettiähnlicher Parasit, der im Verdauungstrakt eines infizierten Menschen bis zu zweieinhalb Meter lang wird, bevor er in die Haut wandert und sie schließlich durchbohrt. Die überwiegende Mehrheit der Parasitenarten befällt den Menschen jedoch nicht, und hier ist der Schwund teilweise Besorgnis erregend: In einem Artikel in »Science Advances« aus dem Jahr 2017 wird geschätzt, dass bis zu 30 Prozent der parasitären Würmer in den kommenden Jahrzehnten auf Grund des Klimawandels und anderer Einflüsse aussterben könnten.
Was das bedeutet, weiß man nicht. Wir fangen gerade erst an zu verstehen, wie sich ein solch extremer Verlust der Biodiversität auswirken könnte. Nehmen wir etwa die Manipulation des Wirts, die einige Parasiten beherrschen. »Sie verlagern Energie von niedrigeren auf höhere trophische Ebenen, indem sie die Beute rücksichtslos machen«, erklärt Wood. Euhaplorchis californiensis ist ein Plattwurm, der im Larvenstadium ein wenig wie ein Spermium aussieht, mit einem großen Kopf und einem langen Schwanz. Der Plattwurm beginnt sein Leben in einer Schnecke, wandert dann in einen kalifornischen Killifisch und gelangt schließlich in den Darm eines räuberischen Wasservogels, zum Beispiel eines Reihers oder Seidenreihers. Killifische sind eigentlich vorsichtige Tiere, die sich in der Regel gut verstecken, was dem Ziel des Plattwurms zuwiderläuft. Daher bildet der Parasit Zysten im Gehirn seines Wirts, die den Fisch dazu veranlassen, an der Wasseroberfläche herumzuspritzen und seinen glänzenden Bauch zu zeigen, so dass er die Vögel anlockt.
Wie Forscher herausgefunden haben, ist die Wahrscheinlichkeit, von einem Vogel gefressen zu werden, bei infizierten Killifischen 10- bis 30-mal höher als bei nicht infizierten. Insgesamt tragen die Trematoden dazu bei, dass ein erheblicher Teil der Killifischpopulationen den Vögeln leichter als Mahlzeit zur Verfügung steht. Gewissermaßen subventioniert der Parasit den Speiseplan dieser Raubvögel. Wenn bestimmte Parasitenarten zurückgehen oder sogar verschwinden, könnte es für manche Raubtiere viel schwieriger werden, zu überleben, erklärt Wood.
Ein anderes Beispiel ist ein 15 Zentimeter langer Saitenwurm aus Japan. Er bringt infizierte Grillen dazu, in Bäche zu springen, wo die erwachsenen Würmer ihre Wirte verlassen, um eine parasitäre Fortpflanzungsorgie zu starten. In der Zwischenzeit werden die todgeweihten Grillen zum Futter für den vom Aussterben bedrohten Japanischen Saibling und liefern bis zu 60 Prozent des Kalorienbedarfs des Fisches. Der Wurm hilft also nicht nur, eine gefährdete Art zu ernähren, sondern er entlastet auch andere wirbellose Arten, die ebenfalls von den Fischen gefressen werden. Auf diese Weise beeinflusst der Parasit maßgeblich die gesamte Ökologie des Flusses.
Wie kann man Parasiten schützen?
Da immer offensichtlicher wird, dass Parasiten in Ökosystemen eine wichtige Rolle spielen, beginnt eine kleine, aber wachsende Gruppe von Fachleuten, ernsthaft über die Notwendigkeit eines gezielten Parasitenschutzes nachzudenken. Im August 2020 veröffentlichte der Parasitenökologe Colin Carlson von der Georgetown University in den USA zusammen mit Wood, Hopkins und neun weiteren Forschern einen Zwölf-Punkte-Plan für den Schutz von Parasiten im nächsten Jahrzehnt. Zunächst einmal, so schreiben sie in der Zeitschrift »Biological Conservation«, können wir uns nicht um etwas kümmern oder es erhalten, von dem wir nicht wissen, dass es existiert. Sie fordern die wissenschaftliche Gemeinschaft daher auf, die Vielfalt der Parasiten zu beleuchten und bis 2030 mehr als 50 Prozent der Parasitenarten zu beschreiben. »Wir haben im Grunde kaum an der Oberfläche gekratzt«, bemängelt Hopkins.
Sobald Daten über die Ökologie und den Lebenszyklus der einzelnen Arten vorliegen, so die Autoren, könnten schutzbedürftige Parasiten identifiziert und dann relativ einfach in vorhandene Artenschutzprogramme integriert werden. Der Schutz von Parasiten kann sozusagen im Huckepack mit bestehenden Bemühungen zur Rettung gefährdeter anderer Arten erfolgen. Bedrohte Parasiten können auch in verschiedene Verzeichnisse zur Erfassung und zum Schutz bedrohter Pflanzen und Tiere aufgenommen werden. Nur ein einziger tierischer Parasit, die Blut saugende Schweinelaus, steht derzeit auf der Roten Liste der bedrohten Arten der »International Union for Conservation of Nature«.
Hopkins, Wood und ihre Kollegen wissen, dass Parasiten ein ernsthaftes Imageproblem haben. Gleichwohl sind sie zuversichtlich, dass sich dies ändern kann. Sie vergleichen den Stand des Parasitenschutzes mit der Situation, in der sich der Raubtierschutz noch vor wenigen Jahrzehnten befand. Damals betrachteten viele Forscher und die Öffentlichkeit Bären, Wölfe und andere Raubtiere als gefährlich für Mensch und Vieh und gar schädlich für die Natur. Vor allem Letzteres erwies sich als grundlegend falsch. Heute wissen Wissenschaftler, dass Raubtiere Schlüsselarten sind – Arten, von deren Existenz ganze Ökosysteme abhängen. Werden sie entfernt, kann dies eine regelrechte Kaskade an negativen Auswirkungen auslösen: vom Ausbruch von Krankheiten über die Störung des Nährstoffkreislaufs bis hin zur Verlagerung von Arten in völlig andere Lebensraumtypen. Doch sobald die Wissenschaft die Bedeutung der Raubtiere erkannt hatte, wurde auch die Öffentlichkeit auf sie aufmerksam. Daher hofft Wood, dass Menschen bereit sein werden, ebenfalls einen Blick in die Blackbox zu werfen, in die man die schmarotzenden Tiere bislang gesteckt hat. Denn: »Parasiten sind keine massive Bedrohung.«
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