Ökologie: Der Müllstrudel wird zum Lebensraum
In den Weltmeeren schwimmen riesige Plastikinseln, auch Müllstrudel genannt: zehntausende Tonnen an Kunststoffabfällen, die beispielsweise im Nordpazifik jahrelang durch große Meeresströmungen im Kreis bewegt werden, bis sie doch an die Küsten treiben oder in die Tiefsee sinken. Eine Arbeit von Linsey Haram vom Smithsonian Environmental Research Center in Edgewater und ihrem Team in »Nature Communications« zeigt, dass dieses Treibgut nicht nur von Tieren besiedelt wird, sondern dass es sogar eigentlichen Küstenbewohnern völlig neue Lebensräume öffnet.
Erstmals aufmerksam wurden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf dieses Phänomen 2011, als nach dem starken Erdbeben in Japan mit dem nachfolgenden Tsunami gewaltige Mengen an Abfällen ins Meer geschwemmt wurden, die nach Jahren teilweise an der amerikanischen Westküste anlandeten. Mehr als 300 Arten von der Ostseite des Pazifiks gelangten so auf die andere Seite des Ozeans. Harams Arbeitsgruppe betrachtete deshalb die Lebenswelt des pazifischen Müllstrudels genauer.
Dabei arbeitete sie mit dem Ocean Voyages Institute zusammen, das sich zum Ziel gesetzt hat, einen Teil des Mülls wieder aus dem Meer zu fischen und an Land zu recyceln oder zu entsorgen. Während einer Fahrt sammelte die Crew 103 Tonnen Müll ein, von dem ein Teil zur Analyse zu Haram und Co ging. Die Gruppe bestimmte und zählte die Tiere, welche den Abfall besiedelt hatten. Dabei stießen sie auf zahlreiche Arten Hydrozoa, Anemonen oder Flohkrebsen, die eigentlich in Küstennähe vorkommen – wobei es sich nicht nur um Einzelfälle handelte, sondern teils auch um vermehrungsfreudige Kolonien. Die Tiere waren also nicht lediglich Zufallsopfer; sie eroberten sich aktiv einen neuen Lebensraum.
»Der offene Ozean war bisher für Küstenorganismen nicht bewohnbar«, sagt Greg Ruiz vom Marine Invasions Lab: »Zum Teil wegen der Einschränkungen des Lebensraums – früher gab es dort kein Plastik – und zum Teil, so dachten wir, weil er eine Nahrungswüste ist.« Die Studie zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Allerdings weiß man noch nicht, warum. Womöglich driftet der Müll immer wieder durch Gebiete, die biologisch produktiver sind. Oder die Kunststoffe wirken wie ein künstliches Riff, das wiederum Nahrungsquellen schafft oder entsprechende Organismen anlockt.
Neben den Küstenbewohnern siedeln sich auch Hochseetiere an den schwimmenden Inseln an, etwa Krabben oder bestimmte Muschelarten. Es bilden sich also völlig neue Lebensgemeinschaften. Aber hier sind sich die Beteiligten ebenfalls unsicher, ob dies nur positive Erscheinungen sind. »Die Ankunft neuer Küstenbewohner könnte Ökosysteme im Meer stören, die seit Jahrtausenden ungestört geblieben sind«, schreibt das Team. »Die Küstenarten stehen in direkter Konkurrenz zu den ozeanischen Floßbewohnern«, sagt Hara. »Sie konkurrieren um Platz. Sie konkurrieren um Ressourcen. Und diese Wechselwirkungen sind nur sehr schlecht verstanden.«
Außerdem drohen so Risiken durch invasive Arten: durch Tiere und Pflanzen, die ohne Konkurrenz oder Fressfeinde in für sie neue Lebensräume verfrachtet werden und dadurch Ökosysteme teils grundlegend verändern. Dies geschieht schon vielfach, etwa über Meeresorganismen, die mit Ballastwasser über Ozeane hinweg reisen. Mit den schwimmenden Inseln können sie bislang wenig beeinflusste Inseln oder Meeresschutzgebiete leichter und schneller erreichen.
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