Ökologie: Gefahr aus dem Wasser
An einem kühlen Augustmorgen in Seldovia, Alaska, steht Stephen Payton am Rand des Kais und zieht ein feines, kegelförmiges Netz mit einer Stange durchs Meerwasser. Schreiend kreisen die Möwen über uns in der dunstigen Luft, während der 30-Jährige verfolgt, wie seine Fangvorrichtung unter der Oberfläche dahingleitet. Am schmalen Ende des Maschenwerks ist eine kleine Plastikflasche angebracht, in der sich die aus dem Wasser gesiebten Partikel sammeln. Nach einer Weile holt Payton das Netz nach oben, löst die Flasche ab, träufelt ein jodhaltiges Konservierungsmittel hinein, beschriftet sie und übergibt sie mir. Wir laufen zu seinem weißen Truck, steigen ein und fahren eine Meile weiter zur Schotterlandebahn von Seldovia, wo ich ein sechssitziges Propellerflugzeug besteige. Denn jetzt muss es schnell gehen: Die Lebewesen, die wir in der Flasche gefangen haben, werden binnen weniger Stunden verenden.
15 Minuten später lande ich in der Stadt Homer auf der gegenüberliegenden Seite der Kachemak Bay, einer 64 Kilometer langen Bucht im Bezirk Kenai Peninsula Borough. Dort empfängt mich die Ökologin Jasmine Mauer von der Forschungseinrichtung Kachemak Bay Research Reserve. Mauer, die gegenüber des kleinen Flughafens arbeitet, führt mich in ihr Büro und setzt sich an den Labortisch. Sie lässt ein paar Tropfen aus der Plastikflasche auf einen Objektträger fallen und untersucht sie mit einem Mikroskop. Ich schaue ihr über die Schulter, während sie die Probe auf Anzeichen giftiger Algen hin durchforstet. Wenige Minuten später rollt sie ihren Stuhl zurück: Das Wasser scheint sauber zu sein.
Gefahr, die im Meer lauert
Stephen Payton, der mir die Plastikflasche mitgegeben hat, stammt von den Aleuten ab – Indigenen, die auf den gleichnamigen Inseln zwischen Nordamerika und Asien leben. Seine Vorfahren haben schon vor Jahrhunderten in den Gewässern Alaskas gefischt. Er arbeitet als Umweltbeauftragter des Seldovia Village Tribe, eines staatlich anerkannten Volksstamms amerikanischer Ureinwohner. Ihr Wohnort Seldovia liegt im südlichen Teil der Kenai-Halbinsel und lässt sich nur per Schiff oder Flugzeug erreichen, da er nicht ans Straßennetz angebunden ist. An den Wochenenden nimmt Payton seine drei kleinen Kinder oft zum Fischen und Muschelsammeln mit. Die Meerestiere, die sie fangen, stellen einen bedeutenden Teil ihres Speiseplans; Fachleute bezeichnen diese Art der Eigenversorgung als »Subsistenzwirtschaft«. Sie ist bei den indigenen Aleuten von alters her üblich. Doch seit einiger Zeit wirft sie immer größere Probleme auf. Payton fürchtet sich vor einer wachsenden Gefahr, die im Meerwasser lauert: giftigen Algen. »Je mehr ich darüber weiß, umso unwohler fühle ich mich, wenn ich da draußen Muscheln sammle«, sagt er.
Viele Indigene vermeiden es, während der Sommermonate marine Schalenweichtiere zu fangen. Denn in der warmen Saison treten toxische Algenblüten (HAB, von englisch: harmful algal blooms) gehäuft auf. Dann vermehren sich massenhaft Algen, die Gifte freisetzen – und die Schadstoffe reichern sich in diversen Meerestieren an. Trotzdem gibt es Anwohner, die das ganze Jahr über Ebbephasen nutzen, um sich die Stiefel anzuziehen und im Schlamm nach Muscheln zu suchen. Sie entdecken die Tiere anhand kleiner Bläschen, die sich im Matsch bilden. »Ich kenne eine Menge Leute, die das während der Sommermonate tun«, sagt Payton. »Ich würde das niemals machen.«
Die nördlichen Küstenregionen Alaskas werden immer öfter von toxischen Algenblüten heimgesucht. Mehrere Monate des Jahres machen sie so die Muschelernte zu einem Gesundheitsrisiko. Untersuchungen belegen, dass zwischen 1998 und 2018 die jährliche Zahl der Algenblüten im Arktischen Ozean um mindestens 50 Prozent gestiegen ist. Die Häufigkeit und Intensität dieser Ereignisse dürften künftig weiter zunehmen, da sich die Gewässer der nördlichen Breitengrade erwärmen, was die massenhafte Vermehrung von Planktonorganismen begünstigt.
Die größte Bedrohung geht laut Payton von einem Winzling namens Alexandrium catenella aus, einem so genannten Dinoflagellaten (ein Einzeller mit fadenähnlichen Geißeln, die er zum Schwimmen benutzt). Vermehrt sich A. catenella explosionsartig während einer Algenblüte, produziert er ein geschmack- und geruchloses Neurotoxin, das 1000-mal giftiger ist als der chemische Kampfstoff Sarin. Die Substanz reichert sich in Muscheln an. Deren Verzehr ruft beim Menschen dann Vergiftungserscheinungen hervor, die unter der Bezeichnung PSP (paralytic shellfish poisoning, paralytische Schalentiervergiftung) bekannt sind. Zu den Symptomen zählen: Kribbelgefühl in den Lippen und in der Zunge, Taubheit und Kontrollverlust in Armen und Beinen, Lähmungserscheinungen im Brust- und Unterleibsbereich. Mitunter ist die aufgenommene Toxinmenge so groß, dass ohne künstliche Beatmung binnen einer halben Stunde der Tod eintritt.
Vor einigen Jahren wäre eine Bewohnerin Seldovias fast gestorben, nachdem sie eine kontaminierte Muschel gegessen hatte. Sie leidet noch heute unter Gedächtnisausfällen. Ihr Ehemann wusste die Symptome glücklicherweise richtig zu deuten, setzte seine Gattin ins Auto und raste mit ihr zu einer Klinik in Homer, wo es ein Bett mit Beatmungsgerät gibt. Der Fall eines Vietnamesen, der auf der Insel Unalaska arbeitete, verlief im Jahr 2021 weniger glimpflich: Der Mann starb während des Transports zum Krankenhaus, nachdem er auf einer Party eine Hand voll Miesmuscheln und eine Meeresschnecke verzehrt hatte.
Trotz solcher Fälle sammeln tausende Menschen – Indigene und Nichtindigene – jedes Jahr zahllose Muscheln und essen sie. Rund 15 000 Tonnen Wildfleisch, Fisch und andere Meereslebewesen werden jährlich in Alaskas Subsistenzregionen erbeutet, das sind etwa 125 Kilogramm pro Person. In abgelegenen Gemeinden machen Meeressäuger, Fische, Vögel und Meeresfrüchte bis zu drei Viertel der selbst eingebrachten Nahrung aus.
In der Gezeitenzone zu jagen, hält überliefertes Wissen und kulturelle Eigenheiten lebendig. »Bei Ebbe ist der Tisch gedeckt«, lautet ein traditionelles Sprichwort, das auf das große Nahrungsangebot des Watts anspielt: Muscheln, Seeigel, Krebse, Seegurken, Schnecken oder Kopffüßer. Fachleute nehmen an, dass sich in den meisten dieser Tiere Giftstoffe anreichern können, die aus Algenblüten stammen.
Küstenregionen unter Aufsicht
In manchen US-Küstenstaaten kontrollieren Forscherinnen und Forscher die Strände regelmäßig, um schon die ersten Anzeichen toxischer Algenblüten zu erkennen. Im Bundesstaat Washington überwachen autonome Schwimmsensoren 31 Standorte und übermitteln ihre Messdaten an Wissenschaftler und indigene Volksstämme. Kalifornien hat ein Beobachtungs- und Warnsystem eingerichtet; dabei beprobt die Landesbehörde für Öffentliche Gesundheit die küstennahen Gewässer und führt die so ermittelten Messwerte mit Giftstoffdaten zusammen, die an universitären Einrichtungen erhoben werden. In Maine sammeln geschulte Freiwillige vielerorts Wasserproben und senden sie zu Analysezwecken der Landesbehörde für marine Ressourcen zu. Floridas Fisch- und Wildtier-Kommission wiederum lässt die Küstengewässer wöchentlich beproben und betreibt sowohl eine Website als auch eine Hotline mit tagesaktuellen Warnungen vor Algenblüten. Laut einer Studie brachten Selbstversorger an der US-Westküste zwischen 1990 und 2014 eine Fangmenge an Meerestieren ein, die 220 Millionen Mahlzeiten entspricht. Viele Menschen dort vertrauen offensichtlich den staatlich geförderten Überwachungsprogrammen.
Vergleichbare Maßnahmen gibt es in Alaska nicht, obwohl toxische Algenblüten hier infolge des Klimawandels immer häufiger auftreten. Die Regierung des US-Bundesstaats hat es für unmöglich erklärt, die Giftstoffbelastung in Schalenweichtieren zu überwachen, von denen sich die örtlichen Selbstversorger ernähren. Die Küstenregionen seien schlicht zu groß dafür, heißt es von behördlicher Seite. Das führe dazu, dass Alaska »der einzige Bundesstaat ist, wo Menschen nach wie vor an toxischen Algenblüten sterben«, wie es Steve Kibler ausdrückt, Algenforscher und Meereskundler an der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA).
Diese Sicherheitslücke versuchen die betroffenen indigenen Gemeinschaften – einschließlich jener in Seldovia – jetzt mittels Eigeninitiative zu schließen. Sie erheben Messdaten, bauen Überwachungsnetzwerke auf und holen den Rat von Giftstoffexperten ein, die oft an weit entfernten Einrichtungen arbeiten. Die Indigenen investieren in eine Testinfrastruktur, die auf ihren Ortskenntnissen und auf innovativer Wissenschaft beruht. Dabei überwinden sie geografische und logistische Hürden, indem sie Proben sammeln und über tausende Meilen versenden, um sie analysieren zu lassen. Mit diesem leidenschaftlichen Einsatz demonstrieren sie ihre wachsende Souveränität im Umgang mit traditionellen Ressourcen. Trotz zunehmender Gefährdung erreichen sie so eine höhere Nahrungsmittelsicherheit und zeigen, wie sich lokale Gemeinschaften gegen bedrohliche Umweltrisiken behaupten können.
Das Phytoplankton, zu dem die zahlreichen Algenarten zählen, dient vielen Meeresorganismen als Nahrung. Es umfasst vorwiegend einzellige Lebewesen in einer ungeheuren Vielfalt an Arten, Farben und Formen. Wenn genügend Licht, Wärme und Nährstoffe vorhanden sind – ob aus natürlichen Quellen wie Schmelzwasser von Gletschern, ob aus menschengemachten Abwässern etwa der Landwirtschaft –, vermehren sich Algen explosionsartig und bringen dabei so genannte Blüten hervor. Der Ozean nimmt dann oft schillernde Blau-, Rot-, Grün- oder Brauntöne an, was mitunter sogar aus dem Weltall zu sehen ist. Geht das Nährstoffangebot wieder zurück, entwickeln die Algen spezielle Dauerformen wie die so genannten Zysten, die auf den Meeresboden sinken. Dort verharren sie in einem Ruhezustand, bis die Umstände es ihnen erneut erlauben, sich zu vermehren.
Lediglich etwa 250 der rund 5000 bekannten Algenspezies produzieren Toxine oder lagern sich zu erstickenden, großflächigen Matten zusammen – Eigenschaften, die eine gefährliche von einer harmlosen Blüte unterscheiden. In den drei Jahrzehnten seit Beginn der 1990er Jahre wurden weltweit etwa 10 000 toxische Algenblüten registriert. Mancherorts treten diese Ereignisse immer öfter auf, in anderen Regionen wiederum sinkt ihre Häufigkeit. Die dabei freigesetzten Toxine haben seit den 1980er Jahren tausende Menschen vergiftet und hunderte getötet, wobei die Philippinen die meisten Todesfälle verzeichneten.
Entlang der russischen Kamtschatka-Küste hat eine Algenblüte im Jahr 2020 schätzungsweise 95 Prozent der Fische, Tintenfische, Seesterne und Seegurken vernichtet. Vermutlich war sie auch die Ursache zahlreicher Fälle von Erbrechen, Fieber und Hornhautverätzung, die bei Surfern auftraten. In den USA haben toxische Algen laut der NOAA gewaltige wirtschaftliche Schäden angerichtet, die das Fischereiwesen und den Tourismus betreffen und sich auf mehr als eine Milliarde US-Dollar summieren. Wieder und wieder verursachen sie »Rote Tiden« (Rötungen des Meerwassers) entlang Floridas Golfküste: Der massenhaften Vermehrung des einzelligen Dinoflagellaten Karenia brevis fallen dabei zahllose Fische und Seekühe zum Opfer, die an den Stränden verwesen.
Eine tickende Zeitbombe
Die Gefahr kann sogar nach einer Algenblüte noch anhalten. Im Oktober 2021 berichteten Forscher um Donald M. Anderson von der Woods Hole Oceanographic Institution, dass sich auf dem Grund der Tschuktschensee (eines Randgebiets des Nordpolarmeers) eine riesige Ansammlung von Zysten des Dinoflagellaten Alexandrium catenella befinde. A. catenella produziert das Nervengift Saxitoxin, das bereits in einer Menge von 0,5 Milligramm tödlich wirken kann. Das kalte Wasser in der Region sorgt dafür, dass die Dauerformen des Einzellers bis zu 100 Jahre überleben. Angeschwemmt von südlichen Strömungen, häufen sie sich in der Tschuktschensee an, während die Temperaturen dort infolge des Klimawandels steigen – und immer öfter Werte erreichen, bei denen eine explosionsartige Vermehrung einsetzt. Das sei eine tickende Zeitbombe vor den russischen und amerikanischen Küsten einschließlich jener Alaskas, betont Anderson, der sich seit mehr als 40 Jahren mit toxischen Algen beschäftigt.
Planktonorganismen, die potenziell tödliche Giftstoffe produzieren, driften ständig nordwärts entlang von Alaskas großteils unkontrollierten Küsten. Die US-Medien berichten kaum darüber. Zwar thematisieren sie das Problem der toxischen Blüten, richten ihr Augenmerk hier aber auf den Westen, den Osten und die Golfküste der USA. Dabei sei Alaska deutlich stärker betroffen, betont Steve Kibler von der NOAA.
Dass die Regierung des Bundesstaats es für nicht machbar hält, Schalenweichtiere flächendeckend auf Giftstoffbelastung zu kontrollieren, hat mit den Größenverhältnissen des Landes zu tun: Alaskas Küsten sind in Summe länger als die aller restlichen US-Bundesstaaten zusammengenommen. Wenn ich mir die Gegend aus dem Flugzeugfenster ansah, war ich stets aufs Neue verblüfft von all den Fjorden, Buchten, Inseln und Gestaden, die sich schier endlos hinziehen. Selbst die härtesten Fürstreiter landesweiter Überwachungsprogramme räumen ein, dass Maßnahmen, die sich in anderen Bundesstaaten als effektiv erweisen, in Alaska nicht funktionieren. Mit Sensoren, die im Wasser treiben, lässt sich nicht genügend Fläche abdecken. Entnommene Proben aus entlegenen Gemeinden in zentrale Untersuchungszentren zu transportieren, ist kompliziert, zeitaufwändig, teuer und fehleranfällig. Zudem können sogar Schalenweichtiere, die am selben Strand zur gleichen Zeit lediglich einige Meter voneinander entfernt eingesammelt wurden, stark abweichende Toxingehalte aufweisen. Obendrein unterscheiden sich die Spezies darin, wie schnell sie Schadstoffe aufnehmen beziehungsweise abbauen. Die langsam heranwachsenden und schmackhaften Buttermuscheln bleiben mitunter über Jahre hinweg giftig. Miesmuscheln dagegen verwandeln sich binnen einer Woche von tödlich in harmlos und umgekehrt.
Alaskas Regierung subventioniert Überwachungsprogramme für Austern und Königsmuscheln, deren industrieller Anbau kommerziell lukrativ ist. Sie fördert aber keine Kontrollmaßnahmen für Schalenweichtiere, von denen sich indigene Selbstversorger ernähren. Ein solcher Test kostet zirka 125 US-Dollar pro Probe und nimmt insgesamt zwei Wochen in Anspruch. Eine Zeitspanne, die für Betreiber einer industriellen Aquakultur mit gekühlten Lagerhäusern zumutbar ist, für Selbstversorger hingegen nicht zur Debatte steht. Geerntete Muscheln verderben in dieser Frist beziehungsweise können, wenn sie entsprechend lange im Tidenwasser gehalten werden, derweil neue Giftstoffe aufnehmen. Die Regierung Alaskas vertritt eine Position, die letztlich darauf hinausläuft, es gebe schlicht keine sichere Methode für die Eigenversorgung mit Schalenweichtieren.
Drohender kultureller Verlust
Diese Haltung sei inakzeptabel, sagt Karen Pletnikoff, zuständig für Umwelt- und Sicherheitsfragen bei der Aleutian Pribilof Islands Association. Der Verband fördert die Selbstversorgung und Unabhängigkeit der Unangan, wie sich die Ureinwohner der Aleuten selbst nennen. Muscheln zu sammeln, sei für die Unangan aus sozioökonomischen Gründen und für die Eigenversorgung wichtig, so Pletnikoff. Jene Ernährungsweise aufgeben zu müssen, einschließlich des damit verbundenen tradierten Wissens, wäre ein großer Verlust für die Menschen.
Auch die Bewohner Seldovias möchten sicherstellen, »dass das, was wir als Kinder hatten, ebenso unseren Kindern und Enkeln zugutekommt«, betont Michael Opheim, der Onkel von Stephen Payton. Als Leiter der Umweltschutzaktivitäten des Seldovia Village Tribe ist er zugleich Paytons Chef.
Opheim hat mich zu einem sandigen Strand mitgenommen, an dem seine Familie von alters her nach Muscheln gräbt. Er erzählt mir, wie er in den 1970er Jahren in Seldovia aufwuchs – und wie er als Kind mit seiner Schwester darum wetteiferte, wer den ersten Happen bekäme, wenn der Vater von den gesammelten Buttermuscheln die Schalen entfernt hatte. Die Familie, entsinnt er sich, habe die Weichtiere damals eimerweise geerntet. Dass er Angst vor einer Vergiftung gehabt hätte, ist ihm nicht im Gedächtnis. Heute dagegen treibt ihn die ständige Sorge um, eine einzige verseuchte Muschel könnte einen Verwandten oder einen Freund töten.
Vor einigen Jahren ist Opheim dem Alaska Harmful Algal Bloom Network beigetreten, einem Verband, den Forscher, Regierungsvertreter und Sachverständige für indigene Kultur 2017 ins Leben gerufen haben. Sie alle waren frustriert davon, wie schlecht die Datenlage zu toxischen Algenblüten ist. Die Gemeinde Seldovia stellte Mittel bereit, um dort eine Überwachungsinfrastruktur aufzubauen, Proben zu sammeln und an kooperierende Forscher zu senden.
Einer dieser Kooperationspartner ist Bruce Wright, Meereskundler und ehemaliger wissenschaftlicher Regierungsberater, der die Interessen des Knik-Stamms vertritt. Er arbeitet im Umland von Anchorage, der größten Stadt Alaskas. Schon in den 1990er Jahren hat Wright begonnen, Schalenweichtiere mit behördlicher Unterstützung auf Giftstoffbelastung zu testen – damals mit Blick darauf, warum es immer wieder zu Massensterben bei Seevögeln und Sandaalen kommt. Heute bietet der Forscher entlegenen Gemeinschaften an, entsprechende Analysen in seinem staatlichen Labor durchzuführen; die Kosten erstattet ihm der Knik-Stamm. »Die Ureinwohner ernähren sich weiterhin von Schalenweichtieren«, sagt Wright, der selbst keine indigenen Vorfahren hat. »Ich versuche sicherzustellen, dass sie das gefahrlos tun können.«
Ich treffe Wright in der Behörde für Umweltschutz in Anchorage. Er führt mich in sein Labor – die einzige Einrichtung in Alaska, die von staatlicher Seite dafür zugelassen ist, Schalenweichtiere für den menschlichen Verzehr zu testen. Die meisten Analysen dienen der Qualitätssicherung in der industriellen Austern- und Königsmuschelproduktion. Wir begegnen einem Assistenten, der drei Mäusen einen Brei aus gekochtem Austernfleisch verabreicht hat und nun abwartet, ob die Tiere daran verenden. Manchmal sterben die Nager dann binnen Sekunden, doch dieses Mal überleben sie.
Die Einwohner Seldovias kooperieren noch mit weiteren erfahrenen Fachleuten. Während einer der monatlich stattfindenden Telekonferenzen des Netzwerks äußert sich Kathi Lefebvre, Biologin und Expertin für toxische Algenblüten, die für die NOAA arbeitet. Lefebvre stellt eine mehrjährige Forschungsstudie vor, in der sie untersucht, wie sich Giftstoffe in der arktischen Nahrungskette verbreiten. Als das Meeting beendet ist, schreibt Opheim ihr eine Mail, um anzufragen, ob er ihr Proben zwecks Analyse zusenden könne.
Lefebvre zeigt sofort Interesse. Sie schlägt Opheim vor, einige Dutzend Heringe zu fangen und ihr zu schicken, damit sie die Ursache eines kürzlich aufgetretenen Massensterbens dieser Fische klären könne. Opheim beauftragt seinen Neffen Payton, was der, befugt durch seine Selbstversorgerlizenz, umgehend erledigt. Payton steckt die gefangenen Heringe in verschließbare Plastiksäcke, friert sie in seiner Tiefkühltruhe ein und lässt sie Lefebvre zukommen – ein kompliziertes Unterfangen, bei dem die eisgekühlte Fracht mehrmals das Flugzeug und den Kurier wechseln muss. Die Heringe liegen noch heute in Lefebvres Gefrierschrank, weil es wegen der Corona-Beschränkungen nicht möglich war, sie zeitnah zu untersuchen. Sobald sich die Gelegenheit ergibt, wird die Biologin die Fische pürieren, den Fleischbrei zentrifugieren und die dabei gewonnene Körperflüssigkeit auf Toxine testen.
Schon 1998 wurde Lefebvre auf das Problem der toxischen Algenblüten aufmerksam. Sie erkannte, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Tod hunderter Kalifornischer Seelöwen und Kieselalgen der Gattung Pseudo-nitzschia, die Domoinsäure absondern. Die giftige Substanz, bekannt auch unter dem Namen »amnesic shellfish poison« (ASP), verursacht Übelkeit, Krämpfe, Durchfall, Atembeschwerden, Gedächtnisverlust und Hirnschäden. In schweren Fällen führt ihre Einnahme zum Tod. Ähnlich wie die bereits erwähnten PSP-Toxine ist dieses Gift geschmack- und geruchlos und lässt sich durch Kochen des damit kontaminierten Fleischs nicht neutralisieren.
Teamarbeit über riesige Distanzen hinweg
Pseudo-nitzschia kommt in den Gewässern rund um Seldovia nachweislich vor, hat dort aber noch keine Blüte hervorgebracht – bis jetzt. Mit Sorge schaut Lefebvre auf die Wassertemperaturen, die infolge des Klimawandels steigen. »Die Umwelt verändert sich dermaßen drastisch, dass das überlieferte indigene Wissen, weitergegeben seit fünf Jahrtausenden, die Menschen nicht auf den Umbruch vorbereiten kann«, sagt sie. Pletnikoff schlägt in die gleiche Kerbe, indem sie betont, die Indigenen müssten ihr Wissen erweitern, um bestehen zu können.
Das Alaska Harmful Algal Bloom Network sei hierbei eine viel versprechende Initiative, lobt Lefebvre – ein inspirierendes Beispiel dafür, welche Vorteile es hat, wenn global vernetzte Experten mit Menschen in entlegenen Gemeinden zusammenarbeiten, um gemeinsam Umweltprobleme anzugehen. Was Indigene dabei lernen, beispielsweise über die Folgen des Klimawandels, geben sie an ihre Stammesmitglieder weiter und klären diese darüber auf, wie sich Selbstversorger angesichts des rasanten ökologischen Umbruchs verhalten sollten. Das Gefühl, über große Entfernungen hinweg zu helfen, Menschen in abgelegenen Regionen zu schützen, sei sehr motivierend, sagt Lefebvre.
In ganz Alaska gehen jetzt indigene Initiativen an den Start, die sich am Vorbild des Alaska Harmful Algal Bloom Network orientieren. 2016 legte der südliche Stammesverband Sitka Tribe of Alaska ein eigenes Programm auf, um Schalenweichtiere auf Toxinbelastung zu untersuchen. Hierfür dienen so genannte ELISA-Tests, die Proteine (beispielsweise Giftstoffe) zielgerichtet mit Hilfe von Antikörpern nachweisen, die auf einem Trägermedium aufgebracht sind. In einem Zeitraum von rund fünf Jahren wurden im Rahmen dieses Programms 1700 Weichtierproben untersucht. Dabei zeigte sich, dass der Toxingehalt von Mies-, Herz- und Sandmuscheln immer häufiger die sicheren Grenzwerte überschreitet. Der Stammesverband hat deshalb wiederholt vor dem Verzehr von selbst gesammelten Muscheln gewarnt.
Auf der Insel Kodiak südwestlich von Seldovia betreibt die gemeinnützige Organisation Kodiak Area Native Association, die Indigene unterstützt, ein kostenloses Schalenweichtier-Testprogramm für Selbstversorger. Es erstattet die Ausgaben, um Proben zum Sitka Tribe of Alaska zu verschiffen und dort untersuchen zu lassen, und stellt Informationen sowie Mittel bereit, um die Risiken toxischer Algenblüten zu mindern.
2021 schaffte das Alutiiq Pride Marine Institute in der Stadt Seward (Südalaska), das sieben indigene Stämme vertritt, eine ELISA-Maschine an, um PSP- und ASP-Toxine nachzuweisen. Die Mitarbeiter hoffen, Wasser- und Muschelfleischproben jeweils binnen einer Woche testen zu können und auf dieser Grundlage das umfassendste einschlägige Überwachungsprogramm Alaskas auf die Beine zu stellen. Zudem haben sie ein Onlineportal erstellt, wo Einwohner aus dem gesamten Bundesstaat ihre Probendaten über ein Onlineformular einstellen können.
Trotz all dieser Initiativen liegt eine Lösung des Problems in weiter Ferne. Wright betont, die Überwachungsmaßnahmen der Sitka Tribe und Alutiiq Pride seien ein guter Anfang, doch er sorgt sich um die Verlässlichkeit der Messergebnisse. ELISA-Tests seien von der US-Arzneimittelbehörde FDA nicht dafür zugelassen, Schalenweichtiere zu kontrollieren, die für den menschlichen Verzehr bestimmt sind. Denn bei den Algengiftstoffen, die sich in ihnen anreichern, handle es sich um ein Gemisch hunderter verschiedener Chemikalien, und manche davon ließen sich mit ELISA nicht nachweisen. US-Forscher haben jahrelang versucht, ein tragbares Gerät für die Detektion von PSP-Giften zu entwickeln, scheiterten aber an der komplexen Vielfalt dieser Substanzen. Hier liegt der Grund, warum der archaische Mäusetest – bei dem man schaut, ob die Nager an kontaminiertem Fleisch sterben –, noch immer angewendet wird.
Wright zufolge erlauben nur Mäusetests oder kostspielige molekulare Analysen eine definitive Aussage darüber, ob sich ein beprobtes Schalenweichtier bedenkenlos verzehren lässt. Beide dürften auf absehbare Zeit nicht in indigenen Testeinrichtungen zum Einsatz kommen: Tierversuche sind streng reguliert, und molekulare Analysen erfordern teure Laborausstattung sowie speziell ausgebildetes Personal.
»Wir sind zum Mond geflogen und auf dem Weg zum Mars, aber wir müssen immer noch Mäusen Gift einflößen, um Muschelfleisch zu testen?«Jeff Hetrick, Direktor am Alutiiq Pride Marine Institute
Jeff Hetrick, Direktor am Alutiiq Pride Marine Institute, ist überzeugt, es mangle schlicht an Geld und gutem Willen auf staatlicher Seite, um das Problem in den Griff zu bekommen. Er glaubt nicht, dass es die technische Komplexität ist, die einer Lösung im Weg steht. »Wir sind zum Mond geflogen und auf dem Weg zum Mars«, fragt er, »aber wir müssen immer noch Mäusen Gift einflößen, um Muschelfleisch zu testen?«
Unterdessen setzen die indigenen Netzwerke ihre Arbeit fort. Im Spätsommer 2021, kurz nachdem ich Seldovia im Flugzeug verlassen habe, erhält Opheim einen Anruf. Am Strand verende gerade eine Dreizehenmöwe, teilt man ihm mit. Als er an der beschriebenen Stelle ankommt, ist die Möwe schon beinahe tot; kurz darauf stirbt sie. Opheim friert sie ein und fragt per E-Mail bei Wright an, ob dieser den Vogel auf Algentoxine testen könne. Die Antwort lautet Ja.
Doch wie kommt das verendete Tier in Wrights Labor, 120 Meilen entfernt? Hier springt Kiliii Yüyan ein, der chinesisch-amerikanische Fotograf indigener Abstammung, der die Bilder zu diesem Artikel geschossen hat. Er nimmt den Vogelkadaver und einige Miesmuscheln vier Wochen später mit, als er von Seldovia nach Anchorage fährt. Nachdem er sie Wright übergeben hat, bringt der sie zusammen mit den Eingeweiden eines Silberlachses in sein Labor.
Hoffen auf Besserung
Wenn es Indigenen und Wissenschaftlern gemeinsam gelinge, mit dem Problem der toxischen Algenblüten an Alaskas endlosen Küsten fertigzuwerden, dann ließe sich die Gefahr vielleicht überall auf der Welt bändigen, hofft Opheim. Was die Selbstversorger aus seiner Sicht am nötigsten brauchen, sind Daten, denen sie vertrauen, auf die sie Zugriff haben und die ihnen helfen, ihre künftige Ernährung zu sichern. Stünden mehr bundes- und landesstaatliche Mittel bereit, um Ausrüstung und Personal zu bezahlen, würde er ein stammeseigenes Labor einrichten, damit die Indigenen ihre Proben auf kurzem Weg analysieren können.
Im Herbst 2021 treffen die Ergebnisse aus Wrights Labor in Seldovia ein. Die verendete Dreizehenmöwe und die Miesmuscheln waren nur wenig mit Giftstoffen belastet – die Innereien des Silberlachses dagegen zeigten sich stark kontaminiert. Dazu passt eine E-Mail, die Wright etwa zeitgleich aus der Russischen Akademie der Wissenschaften bekommt. Darin beschreibt eine Forscherin, sie und ihr Team hätten in den zurückliegenden 20 Jahren bei Untersuchungen nahe Wladiwostok stets nur einige hundert toxische Algen pro Liter Meerwasser gefunden. Vor Kurzem aber seien dort verblüffende 200 000 Alexandrium-catenella-Exemplare pro Liter nachweisbar gewesen. Die Algen an dem betroffenen Küstenabschnitt vermehrten sich massiv, heißt es in der Mail. Ob Wright zu einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit bereit sei, fragt die Forscherin an. Denn immer deutlicher zeigt sich: Die ökologischen Veränderungen, vor denen die Region steht, lassen sich nur gemeinsam bewältigen.
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