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Inselgigantismus: Wo riesige Hundertfüßer jagen

Auf Phillip Island im Südpazifik fressen riesige Hundertfüßer junge Seevögel und helfen so bei der Auferstehung eines Ökosystems. Ihre Rolle war wegen eingeschleppter Fressfeinde lange unbekannt.
Hundertfüßer auf Phillip Island

Lange war Phillip Island im Südpazifik eine Heimat für allerlei Seevögel. Bis eingeschleppte Kaninchen, Schweine und Ziegen die Insel zwischen Neukaledonien, Neuseeland und Australien verheerten. Sie fraßen das Eiland kahl, und die Kaninchen unterminierten auch noch die Stabilität des Bodens. Die Ökosysteme auf Phillip Island wurden verwüstet, die Zahl der Seevögel brach ein: das typische Lied von Inseln, auf denen es nie Säugetiere gab, bis der Mensch diese aussetzte. Es dauerte bis 1988, bis die letzten invasiven Säuger getötet waren und die Natur sich langsam wieder erholen konnte – inklusive der zurückgekehrten Seevögel.

Luke Halpin von der australischen Monash University wollte eigentlich für seine Doktorarbeit das Brutverhalten und die Migration bestimmter Seevogelarten auf Phillip Island studieren. 13 Arten gibt es auf der kleinen Insel im Südpazifik, die größte Population bilden die Schwarzflügel-Sturmvögel (Pterodroma nigripennis). Abertausende dieser Tiere brüten hier in Erdlöchern am Boden, wo Halpin während seiner Arbeit jedoch überraschend viele tote Nestlinge mit den immer gleichen Verletzungen im Nacken fand.

Wer aber tötete die Küken? Auf der atlantischen Insel Gough etwa jagen überdimensionierte Mäuse junge Seevögel. Doch die üblichen Verdächtigen wie eingeführte Mäuse, Ratten oder Katzen leben nicht auf Phillip Island. Und wo diese fehlen, stehen meist die Seevögel selbst an der Spitze der Nahrungskette. Die Suche nach den Tätern zog sich hin und erforderte viele nächtliche Studien. Am Ende konnte Halpin den Übeltäter aber eindeutig identifizieren: Es handelte sich um den auf Phillip Island endemischen Hundertfüßer Cormocephalus coynei, wie er zusammen mit seinem Team im Journal »The American Naturalist« schreibt.

Flinke und giftige Räuber

Vor allem die großen Vertreter dieser Gruppe von Gliederfüßern können aggressive Beutegreifer sein. Sie injizieren über ihre zangenartige Klauen am Vorderkörper – umgebaute Beine – ein potentes Gift, das selbst Wirbeltieren wie Amphibien, Eidechsen und sogar Fledermäusen zusetzt, die von manchen Hundertfüßern in Höhlen aus der Luft gefangen werden. Auch für den Menschen ist das Gift einiger tropischer Arten außerordentlich schmerzhaft, wenn nicht noch mehr.

Hundertfüßer und Schwarzflügel-Sturmvogel | Ein riesiger Hundertfüßer inspiziert die Lage in der Nähe eines kleinen Seevogels. Die Gliederfüßer machen auch Jagd auf die Küken der Schwarzflügel-Sturmvögel.

»In einigen Fällen führte das zum Tod«, sagt Halpin. »Meines Wissens passiert das aber extrem selten. Wie stark oder schmerzhaft das Gift der Hundertfüßer auf Phillip Island ist, wissen wir nicht. Es ist jedoch sicher so angelegt, dass es die Beute außer Gefecht setzen oder töten kann.« Normalerweise werden Wirbeltiere von Hundertfüßern eher selten erlegt, und wählerisch sind die Vertreter auf Phillip Island ebenfalls nicht: Unter anderem fressen sie die Fischabfälle der Vögel. Die Hälfte ihrer Nahrung besteht jedoch tatsächlich aus den Seevögeln selbst; vor allem die Küken fallen ihnen zum Opfer.

Nachts streifen die Hundertfüßer durch die Blätterschicht am Boden, den sie mit ihren Antennen absuchen. Wie eine Aufnahme von Halpin zeigt, geht es dabei nicht um bereits tote Jungvögel. Die Hundertfüßer attackieren noch lebende, wenn auch vor allem kleine und hilflose Individuen. Genau lässt sich der Jagderfolg nicht in Zahlen fassen, aber Halpin schätzt, dass jedes Jahr mehr als 3700 junge Schwarzflügel-Sturmvögel den Gliederfüßern zum Opfer fallen könnten.

Eine Ausnahmefall?

Das ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Andere Nahrungsketten mit wirbellosen Prädatoren an der Spitze sind an Land kaum bekannt. Entsprechend ungewöhnlich ist die Anpassung, die die Hundertfüßer auf Phillip Island durchlaufen haben. Eine Entwicklung, die wohl nur infolge massiver ökologischer Umwälzungen möglich war. Dabei profitieren die Hundertfüßer nicht allein von der Jagd auf die Vögel, sondern fördern vermutlich das gesamte Inselökosystem. »Ich denke, wir tendieren zu einem verengten Blick, wenn es um Nahrungsnetze geht«, sagt Halpin. »Auf vielen Inseln gibt es von Natur aus keine Säugetiere, und dann können Wirbellose und Reptilien deren Platz oder ökologische Nische in Nahrungsnetzen einnehmen.«

Um an die Spitze der Nahrungskette zu kommen, braucht es eine gewisse physische Überlegenheit. Das Gift ist wichtig, ebenso die Körpergröße, wobei in diesem Fall ein Inselphänomen helfen kann. Auf abgeschiedenen Eilanden kommt es laut Halpin oft zu Gigantismus: Arten können in der Isolation sehr viel größer werden als verwandte Spezies auf dem Festland. Ein evolutionäres Kunststück, das auch dem Hundertfüßer auf Phillip Island gelungen ist.

Die Art wurde im 18. Jahrhundert entdeckt, aber erst in den 1980er Jahren offiziell beschrieben. Aufsehen erregten die Tiere damals nicht: Es wurden nur wenige und eher kleine Exemplare gefunden. Heute dagegen erreichen die Hundertfüßer eine Körperlänge von bis zu 25 Zentimetern. Die ökologischen Verwüstungen durch die Säugetiere, vielleicht auch Nachstellungen durch die Schweine und Nahrungsmangel hatten wahrscheinlich verhindert, dass die Tiere größer wurden. Erst mit der Ausrottung der Invasoren konnten sich die Hundertfüßer wieder besser entfalten und ihren angestammten Platz im Ökosystem einnehmen.

© The Conversation
Hundertfüßer, die Vögel jagen

Denn als die Säuger entfernt worden war, ergrünte Phillip Island erneut, bevor sich die Seevögel wieder verstärkt einfanden. Vor allem der Bestand der Schwarzflügel-Sturmvögel wuchs deutlich und wurde zur proteinreichen Nahrungsquelle. Historische Aufzeichnungen und Funde vor Ort legen zudem nahe, dass vor der Zerstörung des ursprünglichen Ökosystems noch weitere kleine Seevogelarten auf dem Eiland nisteten, die ebenfalls ins Beuteschema der Hundertfüßer gepasst haben dürften. Seevögel sind jedoch sehr langlebig und verkraften unter natürlichen Bedingungen in der Regel selbst größere Verluste an Jungvögeln. Davon zeugt die Bestandsentwicklung der Schwarzflügel-Sturmvögel.

Ein Gewinn für das ganze Ökosystem

Von der neuen und möglicherweise auch alten Nahrungskette profitiert die gesamte Insel: Die Seevögel füttern ihre Jungen nur mit Fischen sowie Tintenfischen und verfrachten damit wichtige Nährstoffe an Land. Diese verteilen sich jedoch kaum über die Nistplätze hinaus. Andere Tiere und vor allem Pflanzen erhalten lediglich über die Ausscheidungen der Küken, tote Vögel oder nicht ausgebrütete Eier Zugang zu diesen Ressourcen. Es ist also eine Art Sackgasse, die der Hundertfüßer durchbricht, indem er die Jungvögel (und die Fischabfälle) frisst und über die ganze Fläche verteilt. Dabei wandert er selbst in noch wenig regenerierte Habitate, wo der Import mariner Nährstoffe unter anderem die Vegetation fördern könnte. Frühere Studien haben gezeigt, dass nach dem Verschwinden eingeschleppter Plagen sogar Korallenriffe wieder aufblühen, weil der Nährstoffaustausch über Seevögel und ihre Ausscheidungen neu auflebt.

Ob die Hundertfüßer ihre schnell eroberte Spitzenposition und ihren Einfluss behalten, muss indes abgewartet werden. Phillip Island hat noch einen langen Weg vor sich. »In einem Ökosystem können sich die Dinge immer ändern«, sagt Halpin. »Aber Änderungen zu unseren Lebzeiten haben eher menschliche Ursachen wie die Zerstörung oder Zerstückelung von Lebensräumen, veränderte Landnutzung oder den Klimawandel.« Der Hundertfüßer als Top-Beutegreifer kann also wahrscheinlich bis auf Weiteres recht unangefochten seine Ökowirkung tun – solange wir uns nur heraushalten.

Invasive Arten als Gefahr

Wenn fremde Spezies gezielt oder auch versehentlich eingeschleppt werden, können sich manche von ihnen etablieren. Und einige wenige entfalten eine besondere Zerstörungskraft. Sie können Schäden in Milliardenhöhe verursachen, auch in Deutschland, Europa oder etwa in Australien.

Besonders gefürchtet sind beispielsweise die pathogenen Chytrid-Pilze, die auf ihrem Weg rund um den Globus ein Massensterben unter Amphibien ausgelöst haben. Hunderte Arten von Fröschen und auch Salamandern haben sie bereits extrem reduziert oder sogar ausgerottet. Die südamerikanische Aga-Kröte wiederum wurde gezielt in Australien zur Bekämpfung von Schadinsekten eingeführt. Ein spektakulärer Fehlschlag, weil die Tiere ohne Unterscheidung fast alles fressen, was ihnen vor das Maul kommt, darunter zahlreiche heimische Amphibien- oder Reptilienarten. Und für Fressfeinde wie Schlangen oder bestimmte Beuteltiere sind sie wegen ihres Gifts eine tödliche Gefahr.

Wie bei anderen invasiven Spezies hilft der Kröte, dass sie Ballast abwerfen konnte: Ihre Konkurrenten, Fressfeinde und auch die meisten Parasiten sind in der alten Heimat zurückgeblieben. Dazu kommt, dass die Kröte flexibel und anpassungsfähig ist. Eine aktuelle Studie zeigt, dass die Tiere an der Invasionsfront eine Art Turboevolution durchlaufen. Sie haben nicht nur längere Beine, sondern sind auch besonders resistent gegenüber einem mitgereisten Parasiten.

Die Gefahr durch verschleppte Tiere und Pflanzen dürfte sich zukünftig noch verschärfen. Schließlich ist die Menschheit global vernetzt, was blinden Passagieren – etwa in importierter Blumenerde oder im Tierhandel – den Weg rund um die Welt erleichtert. Auch die Klimakrise wird neue Invasoren hervorbringen, wenn Arten auswandern, deren ursprüngliche Lebensräume zu heiß oder anderweitig unbewohnbar geworden sind.

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