News: Ohne Kompaß übers Meer?
"Da die Boote damals noch recht klein gewesen sind, müssen wir bei solchen Zahlen davon ausgehen, daß weit über tausend Fahrten stattgefunden haben. Und das Erstaunlichste daran: Obwohl die Seefahrer nur über Kenntnisse einer verhältnismäßig einfachen Hochseenavigation verfügten, ist von nennenswerten Verlusten nirgendwo die Rede", resümiert Dr. Uwe Schnall, Navigationswissenschaftler am Deutschen Schiffahrtsmuseum (DSM) in Bremerhaven.
Ein 7,5 cm großes Stück Holz ist das Objekt, über das die Meinungen auseinandergehen. In der Kommission, die kürzlich auf dem 1. International Congress on the History of the Arctic and Sub-Arctic Region in Reykjavik auf Island über die "Vorindustrielle Navigation" diskutierte, glaubte Søren Thirslund, Kapitän und bedeutender dänischer Hobby-Navigationswissenschaftler, den Fund nun endgültig als Peilscheibe identifiziert zu haben. Schon vierzig Jahre vor ihm war sein Landsmann und Fachkollege, der inzwischen verstorbene Carl V. Sølver, zu dem gleichen Ergebnis gekommen: Diese Scheibe, von der lediglich eine Hälfte gefunden worden ist und die seitdem in einem Museum in Helsingør verwahrt wird, hätte den norwegischen Wikingern und den Iren als primitives, aber dennoch effektives Navigationsinstrument gedient, als Sonnenkompaß. Thirslund wies nach, daß sich mit ihr sogar navigieren ließ.
Uwe Schnall widersprach dieser These dennoch und fand Unterstützung bei seinem isländischen Fachkollegen: "Das ist niemals eine Peilscheibe ..." Seine Argumente: "Die vermeintlichen Richtungspfeile sind für ein navigatorisches Instrument zu wenig präzise ausgeführt und ergeben darüber hinaus beim Weiterrechnen eine ungerade Zahl; eine gerade hätte es aber sein müssen. Weil die Wikinger es damals schon im Schnitzen zu hoher Meisterschaft gebracht hatten, müßte eine von ihnen gefertigte Peilscheibe viel perfekter aussehen." Schnall vermutet daher, daß es sich bei diesem Fund vielleicht um den Deckel eines Butterfasses, um ein kleines Rädchen oder einen anderen Gebrauchsgegenstand aus der Wikingerzeit handeln könnte.
Unumstritten, weil nachweisbar, ist unter den Forschern dagegen, daß die Zuwanderer aus Norwegen und von der irischen Insel sich damals schon nach mündlich überlieferten und im Spätmittelalter auch schriftlichen Segelanweisungen richteten. Andererseits ist Dr. Schnall davon überzeugt, daß die Seefahrer im frühen Mittelalter, zumal auf der nördlichen Halbkugel, noch keine Sonnenhöhen messen oder gar Himmelskörper berechnen konnten. Sie kannten zwar den Nordstern und wußten darum, daß sich die Sonnenbahn im Jahreslauf ändert, aber das war's denn auch. Und der Kompaß kam bei ihnen frühestens Ende des 13. Jahrhunderts in Gebrauch.
Daß sie fast ohne Grundkenntnisse der Astronavigation dennoch heil in Island ankamen, war wohl vor allem ihrer ausgeprägten Beobachtungsgabe zu verdanken. Sie spürten jede Abweichung bei der Wassertemperatur, nahmen wahr, wenn sich die Wasserfärbung veränderte und auf welche Fisch- und Vogelarten sie in den unterschiedlichen Seegebieten stießen. Vor allem nach solchen Kriterien bestimmten sie ihren Kurs. Und sie gaben ihre Erfahrungen von Vater zu Sohn und von Sohn zu Enkel weiter. So war folgenden Generationen schon bei Antritt der Reise bekannt, daß sich im Seegebiet südlich von Island große Walherden tummelten und daß sie ihrem Ziel schon sehr nahe sein mußten, wenn sie diese Meeressäuger sichteten. Als Ansteuerungspunkte dienten ihnen die Inselgruppen Shetlands und Faröer, an denen vorbei sie sich Island entgegentasteten.
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